Einen Sommer Volapük

Literatur Clemens Setz präsentiert mit „Die Bienen und das Unsichtbare“ ein Sachbuch über erfundene Sprachen und entführt seine Leser in imaginierte Welten
Ausgabe 44/2020

Clemens Setz schreibt ein Buch über erfundene Sprachen, in dem nichts frei erfunden ist – und dennoch verschluckt sich eine Rezension beim Versuch, es als Sachbuch zu bezeichnen. Heraus stolpern dann ungelenke Verlegenheitsbegriffe wie Sachbuchdichtung, Poessayistik, Fälletristik.

Setz tritt in Die Bienen und das Unsichtbare als Kurator seines zentralen Nervensystems auf, wenn er einen Sommer lang die Plansprache Volapük lernt, sich in Blissymbolics und Talossa vertieft und allerlei andere erfundene Sprachen mit der Volltextsuche seines mentalen Literaturarchivs konfrontiert. Es ist ein von „detektivischem Juckreiz befallener“ Autor, der uns diese fremden Welten erschließt, indem er dazu einlädt, es sich 416 Seiten lang in seinem Bewusstsein (un)bequem zu machen, während seine Synapsen neue Verzweigungen ausbilden. Setz tritt mit diesem Schreiben nicht als Experte auf, sondern vielmehr als Experimentator, keine Ich-erklär-Dir-das-jetzt-mal-Kapitel, sondern ein Thinking in progress. Dieses Buch vermittelt den Eindruck, das Ergebnis von Doing by learning zu sein.

An dieser Stelle eine wichtige Bemerkung: Setz präsentiert all die erfundenen Sprachen und Kuriositäten nicht, als sei das Buch ein linguistisches Ferienprogramm für Menschen, die sich mal wieder aus dem Elfenbeinturm an die frische Luft des Vorgartens wagen wollen. Dieser Text ist denkbar weit von schöngeistigem Selbstzweck entfernt, fragt stattdessen gesellschaftskritisch nach den Grenzen der Verständigung und erweitert dabei zugleich die Grenzen der Kommunikation in Buchform.

So stellt Setz die vermeintliche Unüberbrückbarkeit unterschiedlicher Welterfahrungen als unmenschliche Ignoranz bloß. Etwa wenn Menschen, die sich im Wachkoma jahrelang nicht mitteilen können, vom Klinikpersonal als Gemüse bezeichnet werden, obwohl sie die Welt in all ihrer Unerträglichkeit eines Isolierten, gefangen im bewegungsunfähigen Körper, seit Jahren wahrnehmen können. Eine Wahrnehmung, die ihnen aber abgesprochen wird, weil Ärzte die bis zur Verzweiflung betriebenen Mitteilungsversuche der Wachkomapatienten nicht als solche erkennen, sondern sie als unwillkürliche Zuckungen abtun. Oder – noch schlimmer –, weil sie in Fällen, die Setz schildert, schlicht den zeitlichen Aufwand und die finanziellen Mittel nicht aufbringen, um eine eigentlich unkomplizierte Kontaktaufnahme (funktionelle MR-Tomografie) durchzuführen, die sehr wohl möglich wäre.

Eine feministische Sprache

Es sind stets Fragen von existenzieller, politischer, humanitärer Tragweite, denen Setz in teils berauschenden Anekdoten nachspürt. Er durchstreift dabei so unterschiedliche Welten wie die des Esperanto, dessen bekanntester literarischer Vertreter, William Auld, schon mehrfach für den Nobelpreis nominiert wurde, aber auch Kunstsprachen von Star Trek bis Game of Thrones oder so obskure Fälle wie die des Talossa: Der damals 14-jährige Robert Ben Madison erfand sich diese Sprache in seinem Kinderzimmer, nachdem die Mutter gestorben war. Im Laufe der Zeit wuchs die Sprachgemeinde, es entstand eine Mikronation mit eigenen Zeitungen, Vereinen, Gesetzen, Parteien und irgendwann einer Online-Community, die den Begründer aus seiner selbst erschaffenen Welt warf. Setz erzählt etliche solcher Biografien romanhaft, humorvoll, anrührend.

Immer begleiten Setz dabei alte Fragen nach dem Einfluss von Sprachen auf die Wahrnehmung der Welt, die er jedoch mit zeitgemäßer Präzision stellt. Etwa wenn er einen Exkurs in die feministische Sprache Láadan unternimmt, die mit dem Ziel konzipiert wurde, das Erleben von Frauen sprachlich besser abbilden zu können. Die Sprache kennt Worte wie „Radíidin“, das einen „Un-Feiertag“ bezeichnet, „eine Zeit, die angeblich ein Feiertag ist, aber in Wahrheit aufgrund der vielen Arbeit und Vorbereitung eine Last darstellt, so sehr, dass man sich davor fürchtet“. In diesen Beispielen gewinnt Sprache die Funktion eines Kontrastmittels, das die Machtstrukturen gesellschaftlicher Normalität grell aufleuchten lässt.

Darüber hinaus ist dieser Text zugleich so etwas wie eine ausufernd kommentierte Anthologie, die einen Gegenkanon entwirft, indem sie Literatur einen Platz gibt, die bislang teils gar nicht als solche wahrgenommen wurde. Um diese Texte aufzufinden, lauscht Setz in geheimdienstlerischer Akribie überall dorthin, wo man für gewöhnlich keine Laute, keine Kommunikation, erst recht keine Literatur erwartet. Dabei warnt der Autor sein Lesepublikum beim ersten zitierten Text in einer erfundenen Sprache fairerweise vor: „Ein großer Teil dieses Buches wird so aussehen. Textblöcke aus unverständlichen Wörtern.“ Setz nähert sich diesen Fundstücken so spielerisch, als ginge es um Level eines Computerspiels, wohl wissend, dass er bei der Interpretation gewisser Texte immer schon mit einem Bein auf dem Minenfeld kultureller Aneignung stehen könnte. Merkt er doch gleich an, dass ihm der Gedanke, anderen Menschen eine Stimme zu verleihen, die selber keine haben, „in den meisten Fällen so unausstehlich übergriffig und obszön vorkommt.“

So zerfällt dieses Buch wie eine schlecht zusammengeheftete Blättersammlung, verweigert sich der Stringenz eines argumentativen Fadens und funktioniert gerade deswegen so gut: Den Zusammenhalt dieser trampolinhaft wilden Assoziationsakrobatik sichert ein geeigneteres Mittel als streng gegliedertes Argumentieren. Die vielen (Ge)Schichten bilden keinen prunkvollen Textpalast mit betörenden begrifflichen Fassaden, sondern ein weit verzweigtes, dreckiges Höhlensystem, das den gesamten Literaturbetrieb zu untergraben bereit ist, mit seinen traditionsverliebten Kanonisierungen der sogenannten Weltliteratur.

Stellen wir uns für einen Moment vor, der gesamte Literaturbetrieb wäre ein Ort idealistischer Kunstförderung: Ein Lyrikband über einsam in der Wüste vor sich hin arbeitende Elektrogeräte steht in dieser Welt ebenso alltäglich in den Schaufenstern der Buchläden wie das Tagebuch eines Wachkomapatienten oder die Memoiren eines Neugeborenen. Die Bienen und das Unsichtbare, das erste Sachbuch (Vorsicht: verunglimpfend enge Schublade für dieses Werk) von Clemens Setz, wäre womöglich das Gründungsdokument dieser imaginierten Welt.

Info

Die Bienen und das Unsichtbare Clemens Setz Suhrkamp Verlag 2020, 416 S., 24 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden