Jonas Lüscher ist 43 Jahre alt und gehört keiner Risikogruppe an, als er sich Mitte März mit dem Coronavirus infiziert. Es folgen Beatmung, ein künstliches Koma und mehrere Monate Krankenhausaufenthalt. Seine persönliche Leidensgeschichte zeigt, dass Corona alles andere als eine harmlose Krankheit ist. Nur mit großem Glück hat Lüscher keine kognitiven Schäden davongetragen, jedoch ist seine Lungenkapazität wohl reduziert.
Im Interview am Telefon erörtert der Schriftsteller, der sich seit Langem literarisch wie vormals als Wissenschaftler an der ETH Zürich mit der Bedeutung von „Narrationen für soziale Zusammenhänge“ beschäftigt, warum es im Umgang mit der Pandemie besonders auf Erzählungen ankommt.
der Freitag: Herr Lüscher, inwiefern ist eine Gesellschaft darauf angewiesen, dass abstrakte Erkenntnisse der Epidemiologie und Virologie von Narrationen getragen und begleitet werden?
Jonas Lüscher: Erst mal natürlich im Sinne der Vermittelbarkeit und der Anschaulichkeit. Wir werden im Verlauf dieser Pandemie in einem vielleicht nie da gewesenen Maße mit naturwissenschaftlichem Expert*innenwissen konfrontiert. Dieses Wissen wird in einem Fachvokabular formuliert, welches für den Laien der Übersetzung, das heißt in der Regel: der Umschreibung bedarf. Und das geschieht eben meistens durch kleine Erzählungen. Hinzu kommt, dass Epidemiologie und Virologie Fachgebiete sind, die ihre Erkenntnisse in Zahlen und Größen zum Ausdruck bringen, die zum Laien erst mal nicht „sprechen“, von denen die meisten von uns ja bis Anfang dieses Jahres noch nie gehört haben: Basisreproduktionszahl, Übersterblichkeit, Letalität, Mortalität, Inzidenz und so weiter …
Und jetzt sollen wir mit all diesen Zahlen plötzlich etwas anfangen können. Es ist nun also die Aufgabe von Journalist*innen und öffentlichen Expert*innen, wie zum Beispiel Christian Drosten, diese abstrakten Zahlen in anschauliche Geschichten zu transformieren, unter denen wir uns dann etwas Konkretes vorstellen können.
Auf welcher anderen Ebene spielen Narrationen neben dieser
didaktisch-übersetzenden Vermittlungsfunktion eine Rolle?
Wenn wir verstehen wollen, was die Pandemie für die Gegenwart und die Zukunft unserer Gesellschaften bedeutet, dann brauchen wir einerseits Theorien, die uns Erklärungen dafür liefern, was gerade geschieht und was uns eventuell in Zukunft erwartet, die also das große Ganze in den Blick nehmen. Wir brauchen aber eben auch Erzählungen, die uns beschreiben, was das alles für die Einzelne, den Einzelnen bedeutet, die den Schmerz, die Demütigung, aber auch die Hoffnung des Individuums zum Ausdruck bringen. Eine Vielzahl solcher Beschreibungen von Einzelfällen lässt sich dann zueinander in Bezug setzen und in ein narratives Netz einknüpfen, das eine Bedeutung weit über den Einzelfall hinaus besitzt.
Dass solche Einzelerzählungen essenziell für ein Verständnis der Lage sind, lässt sich analog auch in der Berichterstattung über Geflüchtete und deren Situation etwa im nun abgebrannten Lager Moria beobachten, oder?
Die Geschehnisse in Moria sind eher dazu angetan, die Hoffnung, die ich ins Erzählen setzte, zu
enttäuschen. Eigentlich haben wir doch genug Geschichten über das Leiden und die Demütigung der Menschen in Moria gehört. Geändert hat das aber nichts. Mit Erzählen allein verändern Sie
die Welt eben nicht.
Der Fall Ihres schweren Krankheitsverlaufs im Zuge der Covid-19-Infektion wäre ein aufsehenerregendes Einzelschicksal, das wir hier packend und im Detail ausbreiten könnten. Wir wollen diesem Voyeurismus dezidiert nicht frönen, aber dennoch fragen, ob ein derartiges Interview im Sinne eines narrativen Umgangs mit der Pandemie ein
gesellschaftlicher Gewinn wäre?
Ich täte mir schwer, meine persönliche Leidensgeschichte öffentlich und en détail auszubreiten. Nicht zuletzt, weil die fast sieben Wochen im künstlichen Koma eine traumatische Erfahrung waren, die mich noch lange beschäftigen wird. Und damit sprechen Sie ein Dilemma an: Es sind natürlich genau solche Geschichten wie die meine, die die doch recht abstrakte Bedrohung der Pandemie ins Sichtbare und Konkrete holen. Also ja, ein derartiges Interview wäre ein gesellschaftlicher Gewinn. Doch Erzählungen handeln eben vom konkreten Einzelnen, und der Einzelne ist verwundbar.
Die aktuellen Proteste der Corona-Leugner zeigen eindringlich, dass Verfechter von Verschwörungsmythen sich durch die Vermittlung wissenschaftlicher Fakten nicht beeindrucken lassen. Sie zeigen aber auch, wie gefährlich ganz andere Erzählungen sind, die abseits wissenschaftlich abgesicherter Pfade zu wuchern beginnen. Wie lassen sich Narrationen vor dem Hintergrund dieser Gefahr einordnen?
Ja, es ist absolut richtig, die Narrationen sind kein Allheilmittel und sie sind schon gar nicht ungefährlich. Nicht von ungefähr spielen starke Erzählungen für alle totalitären Systeme eine wichtige Rolle. Das Entscheidende scheint mir, dass wir darauf bestehen, dass
die Erzählungen anschlussfähig sind. Das sind die Narrative totalitärer Regime nie, weil es sich dabei um Monomythen handelt, Narrative also, die keine anderen Erzählungen neben sich zulassen.
Zur Person
Jonas Lüscher, geboren 1976 in Zürich, aufgewachsen in Bern, wollte Primarlehrer werden, arbeitete als Dramaturg, Stoffentwickler, Lektor, auch mal Ethiklehrer, studierte Philosophie. Seine erste Novelle Frühling der Barbaren wurde 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2017 wurde er für seinen Roman Kraft (Beck Verlag) unter anderem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Lüscher lebt in München
Handelt es sich bei den Verschwörungstheorien um solche Monomythen?
Nur auf den ersten Blick. Bei den Anti-Corona-Demonstrationen in Berlin fanden sich Leute, die
davon sprachen, Deutschland sei eine Diktatur, die Meinungsfreiheit nicht gewährleiste. Gleichzeitig rufen sie aber Putin, den sie verehren, zu Hilfe. Die offensichtliche Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Putins Russland, die diktatorischen Verhältnisse, die Ermordung von Kritikern, Nawalny, der in der Charité um sein Leben rang, das alles wird ausgeblendet. Weil aber diese isolierten Erzählungen bei näherem Hinsehen unbefriedigend sind, wird jedes noch so abstruse Detail, jedes Gerücht oder auch schlicht die plumpe Lüge dazu genutzt, ein eigenes alternatives narratives Netz zu knüpfen, das dann eben Ausdruck jener geschlossenen Weltbilder der Verschwörungsgläubigen ist, die ganz ohne Anschlussfähigkeit an die Wirklichkeit auskommen.
Wer über einflussreiche Narrationen nachdenkt, kann durchaus den Eindruck erhalten, dass Erzählungen heute vor allem in Werbung und Marketing erfolgreich genutzt werden. Wo lassen sich die starken Narrationen überhaupt finden und erzählen, die es gerade jetzt bräuchte, um breitenwirksam gegen diese gesundheitliche wie gesellschaftspolitische Krise anzuerzählen?
Die interessanten und notwendigen Geschichten lassen sich doch überall finden, und sie werden ja auch erzählt, zurzeit in erster Linie von guten Journalist*innen. Sie
berichten uns eben von Einzelfällen; von schweren Krankheitsverläufen, von überfüllten Intensivstationen, von den Versuchen, einen Impfstoff zu finden, von der Überforderung der Gesundheitsämter, von Frauen, die im Lockdown unter häuslicher Gewalt zu leiden haben ... Später werden zu den Journalist*innen die Schriftsteller*innen, die Dramatiker*innen und die Filmemacher*innen hinzukommen, die aus etwas größerer Distanz erzählen werden.
Sie lassen sich finden, ja, aber werden sie auch wahrgenommen, sind sie ähnlich eindringlich und wirksam wie die Werbebotschaften, die tagtäglich unsere Begehrnisse und Weltbilder prägen?
Diese manchmal auch leisen und vorsichtigen Erzählungen drohen leider in der ganzen Marktschreierei unterzugehen. Wir dürfen aber gerade deswegen nicht der Versuchung erliegen, lauter zu schreien und zu simplifizieren.
Die größeren Narrative, die Sie in Zukunft von den erzählenden Künsten erwarten, werden aber auch jetzt schon verhandelt, oder? Zum Beispiel die Geschichte von der kollektiven Solidarität des Maskennähens, die Erzählung von der Rückkehr zur Normalität und dagegen das Narrativ des globalen Umdenkens, das jene alte Normalität als Problem wertet.
Zu Beginn der Krise schien es mir eine Bereitschaft zu geben, die wirklich großen Fragen zu stellen und utopische Erzählungen zu finden, die den Status quo grundsätzlich infrage stellen – die Krise also auch als Chance zu begreifen. Dieser Geist ist aber im Ruf nach „business as usual“ und im Klein-Klein der Alltagsfragen bereits verstummt.
Wie erzählend soll oder darf die Politik in diesem Kontext überhaupt agieren?
Auch die Politik kommt nicht um das Erzählen herum. Der Mensch und die Gesellschaft sind eben, wie es bei Wilhelm Schapp heißt, in Geschichten verstrickt. Für die Politik gelten dieselben Regeln wie für alle anderen auch: erzähle faktengestützt, intellektuell redlich, polymythisch. Vieles an der aktuellen Krise ist für uns alle derart
neu und nie da gewesen, dass sowohl Wissenschaft wie auch Politik nach dem Prinzip Versuch und Irrtum operieren müssen. Ein literarisches Verständnis von Erzählungen kann dabei helfen, die politischen Reaktionen auf die Krise als Prozess zu verstehen, weil sie von ihrem Charakter her fluid, nicht abschließend und Mehrdeutigkeit und Ungewissheit zulassend sind. Aber Ungewissheit muss man halt ertragen können. Und darin scheinen viele in unserer Gesellschaft sehr schlecht zu sein.
Wenn Politik wie Medien den sehr engen geografischen und zeitlichen Radius auf die Krise
erweitern würden, wie anders müssten sie dann über diese
Pandemie sprechen?
Die Politik, zumindest die Exekutive, ist, wie mir scheint, gerade mit den aktuellen und lokalen Auswirkungen gut beschäftigt. Aber es wäre jetzt natürlich wünschenswert, wenn andere Vordenker, Sozialwissenschaftler, Intellektuelle, sich Gedanken machen, was die Pandemie über die tagesaktuellen Probleme hinaus eigentlich bedeutet. Die drängendsten Fragen sind dabei die Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit – auch in globaler Perspektive –, nach der Rolle
des Staates, nach der Beziehung zwischen Mensch und Tier, um
nur einige zu nennen.
Ist es nicht ein Grundproblem von Tagespolitik und politischen Narrationen, dass sie das Hier und Jetzt fokussieren, dabei aber zu wenig in weniger privilegierte Breitengrade und schon gar nicht auf das Morgen schauen?
Es ist natürlich eines der Grundprobleme föderalistischer Demokratien, dass Politiker*innen sich in erster Linie für die laufende Legislaturperiode und ihren Wahlkreis interessieren. Umso wichtiger scheint mir, dass es daneben politische Literatur gibt, die eben nicht nur für das Hier und Jetzt gilt. Auch wenn die Verhältnisse in den nordfranzösischen Bergwerken nicht mehr so sind wie im 19. Jahrhundert, so erzählt uns doch Zolas Germinal auch heute noch etwas Gültiges über die Beziehung von Arbeit und Kapital, auch wenn wir dabei nun eher an die Arbeitsverhältnisse bei Tönnies denken.
Gehen wir nun also davon aus, dass die knapp zehn Millionen, die sich abends mit der „Tagesschau“ ein Bild von der Pandemie machen, danach einen 400-seitigen Schmöker aus dem 19. Jahrhundert lesen und mit intellektuellem Esprit auf die aktuelle Lage beziehen?
Das nicht, aber im besten Fall hat die Tagesschau-Redakteurin den Zola gelesen. Ihr Einwand ist aber natürlich sehr berechtigt, meinem Beispiel haftet etwas Elitäres an. Deswegen ist es mir wichtig, zu betonen, dass alles, was ich eben über die Literatur gesagt habe, natürlich auch für das Kino, die Fernsehserie, den Journalismus, das Theater und auch die mündliche Überlieferung gilt. Denken Sie etwa nur an eine Fernsehserie wie The Wire. Wenn Sie die gesehen haben, dann verstehen Sie mehr über die Lage der postindustriellen Stadt in Nordamerika, als wenn Sie alle verfügbaren quantitativen soziologischen Studien zu dem Thema gelesen haben.
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