Der Deutungsstreit um die brasilianische Krise hat längst deutsche Medien erreicht. Einige Publizisten verlangen in Einklang etwa mit dem britischen Economist den Rücktritt von Dilma Rousseff. Andere stufen den Versuch, die Präsidentin zu entmachten, als „kalten Putsch“ ein. In Brasilien selbst ist die Gesellschaft bis in die sozialen Lebenswelten hinein polarisiert. Eine solche Virulenz der Krise ist untypisch für ein Land, in dem die Unabhängigkeit, die Abschaffung der Sklaverei, die Gründung der Republik und die Überwindung zweier Diktaturen im 20. Jahrhundert nicht durch Revolutionen, sondern dank politischer Aushandlung zustande kamen. Wie also lässt sich die seit drei Jahren andauernde offene Konfrontation erklären?
Sie auf eine Fehde zwischen Rechts und Links zu reduzieren, wäre falsch. Die Arbeiterpartei (PT), die seit 2003 die Präsidentschaft zuerst mit Lula da Silva, dann mit Rousseff innehat, verfolgte niemals ein linkes Programm. Sie beschränkte sich darauf, vom IWF empfohlene Barzahlungen an die Ärmeren zu erweitern, die Kreditoptionen für eine aufkommende Mittelklasse massiv auszudehnen und den Mindestlohn an das ökonomische Wachstum zu koppeln. Alles andere – die regressive Steuerstruktur, horrende Zinsen für die Konsumenten, die billigen Staatskredite für die Wirtschaft, die Begünstigung der Agrarkonzerne – blieb von PT-Regierungen unangetastet.
Es lassen sich zwei Hauptgründe für die schlimmste Krise der jüngeren Geschichte Brasiliens erkennen. Der erste und offensichtlichste ist die Überlappung von politischen und ökonomischen Engpässen. Als Rousseff 2011 Lula ablöste, erlebte das Land einen Wirtschaftsboom. Die Präsidentin versuchte, mit ein wenig mehr Staatsintervention den positiven Zyklus auszuweiten, und unterschätzte die schlechte Weltkonjunktur: Die Nachfrage Chinas nach Waren und Gütern sank, zugleich stiegen die spekulativen Kapitalströme in die Schwellenländer. Die Überflutung mit Devisen führte zu einer Überbewertung der brasilianischen Währung mit drastischen Folgen für die lokale Industrie, die an Wettbewerbsfähigkeit verlor. Seitdem wachsen die Staatsschulden, während die Wachstumsrate dramatisch sinkt: Von 7,6 Prozent noch 2010 über 0,1 Prozent 2014 auf minus 3,8 Prozent im Vorjahr. Die Rezession trifft Unternehmer wie Arbeiter. Jobs verschwinden, und der Mindestlohn verliert an Kaufkraft.
Hinter den Kulissen
Die zweite Ursache: Die Demokratisierung Brasiliens nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 ging mit dem Aufbau einer institutionellen Schutzmauer zwischen politischer Öffentlichkeit und politischem System einher. Mit den wiedergewonnenen politischen Rechten, der Meinungsfreiheit und einer beweglichen Zivilgesellschaft war ein Zustand erreicht, in dem gesellschaftliche Fragen frei diskutiert wurden. Die politischen Parteien nahmen an den Debatten teil und gewannen auf dieser Ebene ihre Wählerschaft. Ihre härtesten Kämpfe führten sie jedoch hinter den Kulissen: im Parlament und innerhalb des Staates. Hier ging es allein um die Verschränkung von wirtschaftlicher und politischer Macht, ohne dass sich die Strategien der Parteien groß unterschieden hätten.
Sowohl Rechts- als auch Linksparteien ließen sich teure Wahlkämpfe von Unternehmen finanzieren. Wurden sie in die Exekutive gewählt, versuchten sie, ihre Geldgeber – sei es mit Staatsaufträgen, sei es mit günstigen Staatskrediten – zu favorisieren. Wer in die Legislative kam, revanchierte sich mit Gesetzesvorhaben oder Investitionsplänen im Haushalt. Weitere Geschäftsmöglichkeiten für Parlamentarier ergaben sich durch den „Koalitionspräsidentialismus“. Damit ist gemeint, dass wegen der hohen Zahl von Parteien keine brasilianische Regierung über eine stabile Mehrheit im Parlament verfügt. Sie ist darauf angewiesen, bei wichtigen Abstimmungen Mehrheiten ad hoc auszuhandeln. Eine Chance für Parlamentarier, ein Regierungsvorhaben zu unterstützen und dafür einen staatlichen Auftrag für ihre Finanziers zu erhalten oder einen „Wahlhelfer“ in einem Ministerium unterzubringen.
Die laufenden Ermittlungen wegen Korruption zerstören nun die institutionelle Mauer, die bisher eine lebhafte politische Öffentlichkeit von einem korrupten politischen System getrennt hat. Es ist jetzt allgemein bekannt, dass Politiker, die sich in der Öffentlichkeit für die Armen einsetzen und für mehr Umweltschutz eintreten, eigentlich von Bergbauunternehmen finanziert werden, die den Lebensraum der unteren Schichten zerstören. Mehr noch: Dank der Intervention dieser Politiker erhalten besagte Firmen staatliche Subventionen, um die Umweltzerstörung voranzutreiben. Wer das weiß, kann die Stimmung in Brasilien nachvollziehen. Weniger verständlich ist der Ausweg, der von einer Mehrheit laut Umfragen bevorzugt wird: die Amtsenthebung der Präsidentin.
Dafür gibt es bislang keinen rechtlich handfesten Grund. Schlechtes Regieren darf zwar im Parlamentarismus zur Enthebung eines Regierungschefs führen, nicht aber im Präsidentialismus. Zudem gibt es keinen Hinweis darauf, dass das politische System nach einem Abgang Rousseffs weniger korrupt sein würde. Im Gegenteil, die Korruptionsermittler geben selbst zu, dass sie noch nie so frei ermitteln konnten wie unter PT-Regierungen.
Im Übrigen sind über ein Drittel der Parlamentarier, die über das Amtsenthebungsverfahren entscheiden sollen, selbst Angeklagte in anderen Prozessen: Es geht um Bestechlichkeit. Amtsmissbrauch, Drogenhandel. Sollte Rousseff abtreten müssen, würde Vizepräsident Michel Temer die Präsidentschaft übernehmen. Ein Politiker, der heute schon für die Unterstützung des Impeachments Posten in seiner künftigen Regierung anbietet. Es gibt auch keine Evidenz, dass unter seiner Führung das Land zur Stabilität zurückfindet. Ihm fehlen die Erfahrung in der Exekutive und die politische Legitimität, da die Mehrheit der Brasilianer ihn entweder gar nicht kennt oder seine Abkehr von Rousseff als blanken Opportunismus einordnet.
Es ist auch wahrscheinlich, dass Temer wegen der hohen Anzahl von Verdächtigen in seiner eigenen Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB) Ermittlungen wegen Korruption zurückfahren lässt, wenn er Präsident wird. Das ist nicht zuletzt der Grund, warum viele Parlamentarier, die Rousseff absetzen wollen, auf Temer setzen. Sie wollen die Mauer wieder errichten, die das politische System und die politische Öffentlichkeit einst trennte, damit sie ihre fragwürdigen Geschäfte weiterführen können. Einige verteidigen die Wiedereinführung von Firmenspenden bei Wahlen, die Rousseff Ende 2015 verboten hatte.
Nicht ohne Chance
Wie wahrscheinlich ist die Absetzung der Präsidentin? Da es sich um kein juristisches, sondern ein parlamentarisches Urteil handelt, unterliegt der Prozess der politischen Kontingenz. Beide Lager – pro und contra Rousseff – sind in der politischen Öffentlichkeit gut mobilisiert. Die reale Gefahr, die Macht zu verlieren – auch die Drohung, die historische Ikone Lula da Silva festzunehmen –, hat die Basis der PT wieder mehr zusammenrücken lassen, nachdem die Frustration über den politischen Kurs und den autokratischen Stil Rousseffs viele Sympathisanten aus der Partei getrieben hatte. Demonstrationen und Petitionen für Rousseff, organisiert von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Künstlern, Filmemachern und Wissenschaftlern, zeigen, dass die Präsidentin nicht isoliert ist.
Im Parlament steht eine Zitterpartie bevor. Lula kämpft persönlich um jede Stimme, besonders im Abgeordnetenhaus, in dem über das Verfahren zur Amtsenthebung zuerst abgestimmt wird. Hier braucht Rousseff ein Drittel der 513 Stimmen, um den Antrag auf Impeachment zu stoppen. Die zweite Kammer, der Senat, befasst sich mit der Materie nur dann, wenn der Antrag im Abgeordnetenhaus durchkommt. Im Senat reicht freilich die einfache Mehrheit der 81 Mitglieder, um den Antrag zu bewilligen. Wegen der Mehrheitsverhältnisse in diesem Gremium hätte Rousseff dort keine Chance, ihre Amtszeit zu retten. Festgelegt ist folgende Prozedur: Ist der Antrag auf Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens angenommen, wird die Präsidentin suspendiert und durch den Vizepräsidenten ersetzt, bis die beiden legislativen Kammern innerhalb von sechs Monaten über die definitive Enthebung entscheiden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.