BRD 21: Der braune Mutterboden (1)

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Helmut Kohls Rede von der „Gnade der späten Geburt“ am 24. Januar 1984 war eine perfide Täuschung und Selbsttäuschung. Und die größte Perfidie war der Ort, wo er es sagte: vor der israelischen Knesset:

Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt und das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.“ (1)

Die „späte Geburt“ ist aber keine Gnade, sondern ein schlichtes, neutrales Faktum. Sie, metaphysisch überhöhend, „Gnade“ zu nennen heißt, sie als quasi von oben angeordnet, aus göttlicher Fügung stammend zu definieren. Und damit wird jeder, der die „spät“ Geborenen trotzdem – zu Recht oder zu Unrecht - in eine Tradition der Schuld stellt, per definitionem selbst zu einem Schuldigen. Einem nämlich, der sich quasi gegen die „höhere“ Fügung stellt. Die Täternation spricht damit der Opfernation das moralische Recht zu einer eigenen, freien Meinungsbildung ab – es sei denn, sie stimme der nicht zu hinterfragenden These der automatischen Entschuldung durch eine „späte Geburt“ zu.

Auf die Generation Kohl bezogen (die Jahrgänge um ca. 1930 herum) ist die Rede von der „Gnade der späten Geburt“ überdies eine dreiste Irreführung. Zwar sind die damals Geborenen in der Regel noch keine Täter und tragen auch keine Verantwortung für Hitler. Aber, wenn richtig ist, dass nichts einen Menschen so prägt, wie Kindheit und Jugend, und das umso stärker, je früher und intensiver diese Prägung passiert ist, dann dürfte keine Generation nachhaltiger vom Nationalsozialismus geprägt worden sein als die Generation, die um 1930 herum geboren wurde, selbst wenn das Elternhaus sich dem Nazimus nicht verschrieb. Schule, Peer Group usw. haben schließlich auch einen Einfluss.

Wer vom misslungenen Weimarer Aufbruch in die Demokratie - oder vom wenigstens ansatzweise gelungenen zweiten Aufbruch in die Demokratie nach 1945 - geprägt wurde, hatte demgegenüber die Chance, eine stabilere demokratische Prägung zu erfahren. Für die Generation Kohl war dies eher nicht der Fall.

Und wenn dann noch richtig ist, dass bei starkem Stress spätere neuronale Steuerungsmuster zugunsten von früheren aufgegeben werden, wenn sie den Stress nicht mehr bewältigen können, dann mag das erklären, weshalb genau die Generation Kohl, die unter dem Stress der 68er und der RAF an die Macht kam, in autoritäre Verhaltensweisen zurückfiel, das System Kohl schuf und es so lange stützte, bis es für die einen nicht mehr zu ertragen war und die anderen ihr biologisches Schicksal ereilt hatte.(2)Als Stress verstärkend mag man in diesem Zusammenhang jenes emotionale Reservoir hinzu denken, das sich durch Kriegs-, Flucht- und Vertreibungserfahrungen bildete. Viel anti-linkes Ressentiment dürfte sich hier gebildet oder, sofern bereits im Nazireich oder davor angelegt, stabilisiert und verstärkt haben.

Wie sich schließlich am wichtigsten Förderer Helmut Kohls, Fritz Ries zeigt (siehe weiter unten), wurden Aufstieg und Fall dieses Herrschers und seiner Generationsgenossen auch schon mal durch eingebräunte Persönlichkeiten unterstützt und gesteuert, denen die „Gnade der späten Geburt“ nicht widerfahren war, und die deshalb leider, leider nicht anders konnten, als schuldig oder sonstwie mitverantwortlich zu werden. Auch diese miese Botschaft lässt sich aus der speziellen Gnadenlehre Kohls ableiten. Geburtspech anstelle von Verantwortung. (3)

Dass diese Mutmaßungen über die Generation Kohl nicht vollständig aus der Luft gegriffen sind, zeigte wiederum Kohl selbst bei einer weiteren elementaren Peinlichkeit: dem Ronald Reagan aufgezwungenen gemeinsamen Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg am 5. Mai 1985, wo 43 der dort namentlich bekannten bestatteten Soldaten der Waffen-SS angehört hatten. War dies schon schlimm genug, so war es in Kombination mit einem vorherigen gemeinsamen Besuch der KZ-Gedenkstätte Bergen Belsen schändlich. Denn es war, so kombiniert, weniger eine „Versöhnungsgeste zwischen den damaligen Kriegsgegnern“ als der Versuch einer Gleichstellung der Opfer.

So steht Helmut Kohl also dreifach für den Bewusstseinszustand zumindest eines Teils seiner „begnadeten“ Generation: für den Anspruch, vom Nationalsozialismus nicht berührt zu sein; für den Anspruch, das, was den Deutschen als Antwort auf ihre Verbrechen zugefügt wurde sei irgendwie gleichwertig mit dem, was die Deutschen ihren Opfern zugefügt hatten; und schließlich für die Bereitschaft, auf das „Chaos“ der 68er mit einer Autoritarisierung der ohnehin schwächelnden Demokratie zu antworten. Mit demselben Weg also, mit dem Schwarz-Braun bereits versucht hatte, Weimar in den Griff zu bekommen, was dann in unverfälschtem Braun endete. (4) Es scheint also lohnend, sich die Genese des Systems Kohl auch einmal unter diesem Blickwinkel anzuschauen.

Helmut Kohl, Jahrgang 1930, schloss sein Studium 1956 mit dem akademischen Grad Magister Artium ab und trat danach eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg an. (5) Und damit trat er voll in ein „interessantes“ Kapitel deutscher Geschichte.

Denn am 1924 von Weber in Heidelberg gegründeten Institut für Sozial- und Staatswissenschaften lehrte vor der Machtergreifung der Nazis ein deutsch-jüdischer Mathematiker und politischer Publizist namens Emil Julius Gumbel das Fach Statistik. Und dessen Persönlichkeit, wie auch seine Erfahrungen haben es in sich. Und haben Aktualität:

Gumbel war zuerst Privatdozent, dann ab 1930 außerordentlicher Professor für mathematische Statistik an der Universität Heidelberg. Nebenbei hielt er vor allem seine pazifistischen Aktivitäten aufrecht. Als er 1924 auf einer Veranstaltung der Deutschen Friedensgesellschaft zum zehnten Jahrestag des Kriegsausbruchs vom Felde der Unehre sprach, suspendierte ihn die Universität. Die Universität musste die Suspendierung jedoch widerstrebend wieder aufheben, da Gumbel hier und auch später einen gewissen Schutz durch die von der liberalen DDP gestellten badischen Kultusminister genoss. Insbesondere für die mehr und mehr nationalsozialistisch dominierte Studentenschaft war Gumbel ein rotes Tuch. Im Anschluss an seine Ernennung zum außerordentlichen Professor 1930 kam es bei den sogenannten Gumbelkrawallen zu einer Universitätsbesetzung durch nationalsozialistische Studenten und zur polizeilichen Räumung der Universität. Als Gumbel auf einer internen Sitzung der Heidelberger Sozialistischen Studentenschaft in Erinnerung an die Hungertoten des Kohlrübenwinters 1917/18 davon sprach, dass eine Kohlrübe sich besser als Kriegerdenkmal eigne als eine leichtbekleidete Jungfrau, wurde ihm im Sommer 1932 die Lehrberechtigung entzogen.(6)

Dass von diesem Mann heute so gut wie nichts bekannt ist, ein Helmut Kohl aber, der Gumbel nicht das Wasser reichen kann, als Großer gehandelt wird, sagt bereits alles über den geistig-moralischen Zustand dieser Republik aus. Und, wie so oft bei Naziverfolgten, wurden auch bei ihm möglichst viele Spuren seiner Existenz gelöscht. Selbst „über Gumbels Habilitation ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als er selbst in seinem zitierten Lebenslauf schrieb. In den Akten der philosophischen Fakultät fehlen die Jahre 1919/20 – 1924/25. Seine Habilitationsschrift steht weder im Alfred-Weber-Institut, an dessen Vorläufer Gumbel lehrte, noch in der Universitätsbibliothek.(7)

Kohl fand sich also an einem Ort wieder, der Gelegenheit bot, nach Spuren der von den Nazis vernichteten Traditionen zu suchen und sie neu zu beleben. Er tat dies nicht nur nicht. Ein kleiner Stich in die Untiefen der ihn umgebenden politisch-wirtschaftlichen Nachkriegs-Kaste zeigt, dass er eher dem Gegenteil verschrieb. Denn ein wichtiger Förderer Helmut Kohls – neben seinem Generationsgenossen und Steigbügelhalter Geißler – wurde der bereits weiter oben genannte Industrielle Fritz Ries, der im Dritten Reich vermögend geworden war und auch im Nachkriegsdeutschland wieder einigermaßen groß heraus kam - und in Anerkennung seiner „unternehmerischen Leistung und seines Engagements für die Gesellschaft“ 1967 sogar mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. 1972 gab es dann auch noch einen Stern dazu. In seinem Wikipedia-Eintrag findet sich u.a. folgendes :

... an der Universität Heidelberg... lernte er ….Hanns Martin Schleyer in der Studentenverbindung Corps Suevia Heidelberg kennen.

Ab 1933 war Ries Mitglied der NSDAP. 1936 war er als „Vertrauensmann für besondere Angelegenheiten“ der Geheimen Staatspolizei vorgesehen, eine tatsächliche Tätigkeit ist aber nicht nachweisbar. 1942 erhielt Ries das Kriegsverdienstkreuz.

Ries war seit 1934 persönlich haftender Gesellschafter der Flügel & Polter KG, Leipzig. Durch Arisierungen und „Übernahmen“ erweiterte er diesen 120-Mann-Betrieb zu einem Konzern mit über 10.000 Beschäftigten und wurde dessen Hauptgesellschafter. Alleine bei den von ihm „übernommenen“ Betrieben der Oberschlesischen Gummiwerke in Trzebinia (Westgalizien) beschäftigte er, laut einer „Gefolgschaftsübersicht“ vom 30. Juni 1942, insgesamt 2653 jüdische Zwangsarbeiter, davon 2160 Frauen und Mädchen. Mit deren Ausbeutung stieg der Umsatz in Trzebinia um das Zwölffache. Im polnischen Łódź übernahm Ries einen „arisierten“ Großbetrieb mit 15 Walzwerken. Auf der Flucht vor der Roten Armee setzte er sich mit einem Großteil seines liquiden Kapitals nach Westdeutschland ab.

Nach der Kapitulation Deutschlands meldete Ries Ansprüche als Vertriebener an. Unter der Regierung von Adenauer beantragte er Entschädigung für seine von der Roten Armee besetzten Produktionsstätten – die tatsächlich bewilligt wurde. Mit dem Geld gründete er die Pfälzischen Gummiwerke in der Pfalz sowie die Badischen Plastic-Werke (heute: Peguform) in Baden.

Aus den Pfälzischen Gummiwerken ging die Pegulan-Werke AG in Frankenthal hervor (heute: Tarkett). Ries war deren Mehrheitsaktionär und Vorstandsvorsitzender. Die Pfälzischen Gummiwerke waren besonders im Präservative-Markt sehr erfolgreich. Er war ...Mitglied des Beirats der Commerzbank AG. Sein Corpsbruder Hanns Martin Schleyer war stellvertretender Vorsitzer des Aufsichtsrats der Pegulan-Werke AG...

Ries förderte in den Jahrzehnten nach dem Krieg systematisch konservative Politiker. Dazu gehörten neben Kurt Biedenkopf auch der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl sowie der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, dessen Ehefrau Marianne Strauß an den Pegulan-Werken beteiligt war.

..

Vor der 10. Zivilkammer des Frankenthaler Landgerichts war ...in einem Rechtfertigungsverfahren zu prüfen, ob die einstweilige Verfügung von Ries gegen die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend zu Recht ergangen war. Ries habe über Helmut Kohl gesagt: „Auch wenn ich ihn nachts um drei anrufe, muß er springen.“ Dieses Zitat enthüllte ein Plakat der SDAJ . Nach Aussage von Ries’ Schwiegersohn Herbert Krall, der samt seiner Ehefrau, Ries’ Tochter Monika, bereit war, gegen Ries in den Zeugenstand zu treten, hatte Ries den CDU-Chef noch ganz anders bewertet: als „Hauspolitiker“ der eigenen Firma, als „Proleten, den man freilich nötig hat“. (3)

Die Universität Heidelberg war also ein Ort, an dem sich in der Weimarer Zeit beispielhaft der demokratische und der faschistische Zeitgeist gegenüber gestanden hatten, der demokratische Geist aber keine Chance gehabt hatte. Und der CDU-Staat nach dem Krieg war ein System, in dem jener, bereits damals leider siegreiche, Zeitgeist auch nach dem Krieg wieder erfolgreich fortwirken konnte. In den oben angeführten kurzen biographischen Notizen findet sich bereits mehr und Substanzielleres über die Bundesrepublik vor, während und nach Kohl als in so manchem umfänglichen wissenschaftlichen Wälzer: nämlich ein Blick auf den innersten Kern, wo sich zeigt, welche historischen Linien sich nahezu ungebrochen erhalten haben und welche bis heute – und seit Kohl-Merkel mehr denn je - unterdrückt werden. Und so kann es auch nicht weiter verwundern, dass ausgerechnet die wichtige Sendung des SWR vom 9. Juli 2011, in der ich selbst zum ersten Mal von Emil Julius Gumbel hörte, weder als Manuskript noch als Aufzeichnung (kostenfrei) online zur Verfügung steht. So sieht es eben aus, wenn „journalistische Kontrolle“ über die Informationsfreiheit des Internets gestellt wird. Die Sendung, in der letzteres propagiert wird, ist übrigens immer noch online anzusehen. Sie nennt sich Nachtmagazin und ergeht sich – klar – in der Diffamierung der Gegner von S21. Wie es – bei Gegnern solcher Art - schon anno dunnemal in Heidelberg so Sitte war......(8)

(1) de.wikipedia.org/wiki/Gnade_der_sp%C3%A4ten_Geburt

www.winklerverlag.com/verlag/v0420x/v0420-00.pdf

akjhd.files.wordpress.com/2011/04/akj-reader.pdf

(2) Für soziale Systeme, die starr und dogmatisch geworden sind und, dies ist meine Ergänzung, alternative Auswege nicht wählen können, weil sie mit Tabus belegt sind, schildert Gerald Hüther dies so:

Nun breitet sich eine zunehmende Verunsicherung aus, und der damit einhergehenden Angst kann schließlich nur noch durch einen Rückgriff auf ältere, primitivere „Notfallreaktionen“ zur Sicherung des eigenen Überlebens begegnet werden: durch Angriff...oder durch Flucht.... Notfallreaktionen...sind keine Strategien zur Lebensbewältigung, sondern...zur Sicherung des nackten Überlebens abgerufene Reaktions- und Handlungsmuster. Auf allen Ebenen der Organisation lebender Systeme werden solche inneren Bilder für die Bewältigung von Notfällen bereitgehalten. Sie sind älter und auch fester verankert als alle anderen reaktions- und handlungsleitenden Muster. Aktiviert werden sie immer dann, wenn die später entwickelten und meist auch differenzierteren Muster angesichts der durch eine Bedrohung ausgelösten Erschütterung der inneren Ordnung nicht mehr abrufbar oder nutzbar sind.....“ (Ich habe mir, in Anlehnung an ein Modell von Arthur Janov, erlaubt, in dieses Modell gedanklich ein paar Zwischenstufen einzuziehen und es so modifiziert auf die genannte historische Situation anzuwenden)

Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, Görringen 2004, S. 117-118

(3) de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Ries

(4) de.wikipedia.org/wiki/Bitburg-Kontroverse

de.wikipedia.org/wiki/Historikerstreit

bit.ly/c4NDOh

bit.ly/ckfCS1

(5) de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Kohl

(6) de.wikipedia.org/wiki/Emil_Julius_Gumbel

www.ub.uni-heidelberg.de/helios/fachinfo/www/math/zitat/gumbel-600.htm

de.wikipedia.org/wiki/Emil_Julius_Gumbel

de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Weber

www.wiwi.uni-muenster.de/insiwo/Download/Hausarbeiten/Hausarbeit-Buthe.pdf

bit.ly/pEuuBr

www.swr.de/swr2/programm/sendungen/aus-dem-land/-/id=658700/nid=658700/did=8040898/lhrhlk/index.html

(7) bit.ly/ovgBmS

(8) www.antieiszeit.de/details/VerbranntVerbotenVerbanntListe.pdf

Teil 2 :

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/brd-21-der-braune-mutterboden-2

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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