„Du bist nicht Charlie“

Charlie Hebdo Noch ist die Trauerarbeit in Paris nicht abgeschlossen, da wird bereits darüber gezerrft, wer betroffen sein darf und wer nicht. Political „Correctness“ läuft Amok

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Solidarität in Istanbul
Solidarität in Istanbul

Foto: BULENT KILIC/AFP/Getty Images

Selten wurde so deutlich, dass man nach einer Tragödie wie der, die letzte Woche in Frankreich passierte, inne halten und zur Besinnung kommen sollte. Kaum nämlich war die erste Meldung in der Welt, begannen auch schon die Etikettenkleber und Verschwörungsklempner heiß zu laufen. Mittlerweile sind wir so weit, dass darüber gerechtet wird, wer Trauer und Betroffenheit zeigen darf und wer nicht. Und die Toten werden in eine Drei-Klassen-Gesellschaft eingeteilt, die der Klasseneinteilung der kapitalistischen Gesellschaft nicht ganz unähnlich ist.

Dass das erste Opfer eine völlig unbeteiligte Reinigungskraft war, wen juckt's. Dass die mittleren Opfer ein Polizist und eine Kollegin waren und ein überfahrener Fußgänger, nicht so wichtig. Dass die vorletzten Opfer Kunden eines jüdischen Supermarktes waren, was soll's. Und die letzten Toten waren ohnehin die Täter. Da muss man allerdings schon sehr christlich gestimmt sein, um die nicht auszugrenzen – was sie ohnehin immer gewesen zu sein schienen. Ich will sie hier jedenfalls nicht zu den anderen Toten addieren.

Im Blickpunkt der bloggenden Öffentlichkeit und darüber hinaus sind aber offenbar nur die Opfer, die in den Redaktionsräumen ermordet wurden. Dass dazu wiederum ein zum Personenschutz eingesetzter Polizist war – für's Protokoll festgehalten und ad Acta gelegt. Die Medienschaffenden fokussieren sich verständlicherweise emotional auf Ihresgleichen. Man fühlt sich mit getroffen. Und die weitere Öffentlichkeit fühlt ähnlich. Schließlich galt der Anschlag – über die betroffenen Menschen hinaus – etwas, das eigentlich sakrosankt ist, eine Aura der Unbeschwertheit hat: dem Lachen. Und das trifft in eine sehr weiche Stelle.

Und so war es denn auch irgendwie konsequent, dass Medien und Medienkonsumenten sich darauf einigten, dass es bei diesem Morden im Kern um Satire gehe und mithin um Meinungsfreiheit und deren professionelle Nutzer. Die griffige Formel dazu: „Je suis Charlie“. Und mit der Formel wird – unbeabsichtigt – alles andere zum „Kolateralschaden“. Von da ist es dann nicht mehr weit zu der letzten, diskriminierenden Blickverengung, die Trauer und Betroffenheit allen absprechen/ verbieten möchte, die nicht zu „Charlie“ passen mögen.

Es geht aber zuerst um Menschen. Menschen, die mitten aus dem Leben geschossen wurden. Menschen, die gezielt ausgesucht wurden und solche, die, zynisch gesprochen, einfach „zur falschen Zeit am falschen Ort“ waren. Und um deren Angehörige und Freunde, die mit einem Verlust zurückbleiben, dessen Sinn sich schwer bzw. gar nicht erschließt. Dass nun ausgerechnet diejenigen, für deren Tod man keinerlei „Sinn“ konstruieren kann auch noch öffentlich aus dem Blickfeld geraten sollen, dürfte die Trauerarbeit nicht unbedingt leichter machen.

Gerade für sie aber dürfte die öffentliche Solidaritätsbezeugung am Sonntag von Bedeutung gewesen sein. Gerade auch der Massenauflauf von Politprominenz. Und der nun wiederum pauschal blankes Kalkül unterstellen zu wollen, das ist schon ziemlich menschenverachtend. Aber selbst wenn ein Hollande nur seine Popularität im Kopf hätte, als Staatspräsident hat er die Pflicht, in so einer Situation für die Betroffenen und die Bürger insgesamt mit der ganzen Aura des Amtes da zu sein, Solidarität zu zeigen, Trost zu spenden. Und wenn sich ihm andere Führungspersönlichkeiten anschließen, umso tröstlicher für die, die Trost, Solidarität, Rückversicherung brauchen und wünschen.

Da mit dem Mordanschlag auch die elementarsten Regeln menschlichen Zusammenlebens in den westlichen Demokratien brutal verletzt wurden (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Menschenwürde, darunter auch Schutz vor Selbstjustiz), und da dies im Kontext eines erklärten Krieges gegen die westlichen Werte insgesamt geschah, ist die Staatengemeinschaft insgesamt gefragt, sich zu bekennen. Der Aufmarsch der Politikprominenz war also nicht nur legitim, sondern von den Bürgern mehrheitlich wohl auch so erwartet. Als absolutes Minimum wenigstens.

Charlie Hebdo mag das konkrete Ziel horizontal beschränkter Terroristen gewesen sein, die sich dabei in einem Kulturkrieg gegen das westliche Gesellschaftsmodell wähnten. Getroffen aber wurden ganz konkrete, reale Menschen, Mitbürger und das gesamte Gesellschaftsmodell, in dem wir leben. Nicht nur die Meinungsfreiheit.

Eine Auflage von 60 000 soll Charlie Hebdo gehabt haben, in Frankreich sollen am Sonntag aber über drei Millionen Menschen auf der Straße gewesen sein. Die Annahme, dass dies nicht alles Leser von Charlie Hebdo gewesen sein mögen, ist also nicht völlig unbegründet. Und dass es diesen Menschen um mehr als Charlie Hebdo gegangen sein könnte, ist zumindest nicht ganz abwegig. Abwegig aber ist der Versuch, dies nun pharisäerhaft und gehässig auseinander dividieren zu wollen, spekulativ nach zulässigen und unzulässigen Motiven zu suchen. Hätte man die drei Millionen einem Gehirnscan unterziehen sollen, bevor man sie zur Demonstration zuließ? NSA und GCHQ nebst Assoziierten wären sicher mit Begeisterung dabei gewesen.

Der Ärger über politischen Missbrauch und unerwünschte Vereinnahmung ist angesichts dessen, was passiert ist, mehr als verständlich. Aber er sollte nicht dazu führen, dass man das Eigentliche aus den Augen verliert. Also kommt runter und hört auf mit der kleinkarierten, „politisch korrekten“ Erbsenzählerei und kommt zur Besinnung. Wenigstens zu diesem Anlass, wo die Erschütterung vielleicht endlich ein mal groß genug ist, um die Chance zu einem neuen Denken und Handeln zu haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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