Entgleist jetzt auch die CDU?

S21-OB Wahl Was haben CDU und DB in Stuttgart gemeinsam? Sie entgleisen ständig an derselben Stelle. Stellt wenigstens der Stuttgarter Widerstand die Weichen richtig?

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"Turner will mit S21 Stimmen holen“, titelte die Badische Zeitung vom 09.10.2012 und brachte damit die neoliberale Verblödung in Stuttgarts herrschender Kaste auf den Punkt. Denn Landesvater Kretschmann und OB-Kandidat Kuhn verschrecken mittlerweile eher die S21-Gegner, während das Bürgertum ihnen zu Füßen liegt. S21 dagegen ist längst in dem Stadium angelangt, wo es sich entweder selbst oder die Staatsfinanzen erledigt.

Als ob es dafür noch eines Beweises bedurft hätte, hatte die DB – was demnächst wohl „Deppen-Bahn“ bedeuten könnte – zeitgleich mit Turners Drohung verkünden lassen, ab heute werde der Schienenverkehr im Stuttgarter Hauptbahnhof auf allen 16 Gleisen wieder normal laufen – was sich dann auch prompt und eindrucksvoll bestätigte:

Erneut ist im Vorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs ein Zug entgleist. Wie die Deutsche Bahn mitteilt, war der IC mit drei Waggons im Rahmen einer Versuchsfahrt ohne Reisende unterwegs, verletzt wurde also niemand. Mit der Probefahrt sollten die Situationen nachgestellt werden, die Ende September und Ende Juli zu Entgleisungen der beiden IC-Züge im Bahnhof Stuttgart geführt hatten.“

http://www.badische-zeitung.de/stuttgart/ob-wahl-stuttgart-turner-will-mit-s21-stimmen-holen--64431004.html

http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgarter-hauptbahnhof-testzug-entgleist-erneut-behinderungen.1a24172b-5684-4848-ba2b-3c3c493de4fd.html

Nichts neues also vom Lügenpack, und eine Bestätigung all dessen, was man seit „Schlichtung“ und „Stresstest“ weiß: Der Lügenvorwurf ist falsch und ungerecht. Sie wissen einfach nicht, was sie tun. Nur, was sie wollen. Und das verriet Tom Adler, Betriebsrat bei Daimler Untertürkheim und Gemeinderat für SÖS/Linke, in seiner Rede auf der 143. Montagsdemo am 8.10.2012:

Wir haben viel gelernt miteinander in unserer Bewegung in den letzten Jahren, wir haben gelernt, dass S21 kein solitärer Sündenfall in der Provinz ist, den man mit den besseren, rationalen Argumenten einfach aus der Welt schaffen kann. Wir haben gelernt, dass Stuttgart 21 zusammenhängt mit den vielen andern menschenfeindlichen politischen Projekten, die nur einen Zweck haben: die Bereicherung weniger auf Kosten der vielen.

...

Wir haben auch gelernt: der Rückbau der Kapazität des Kopfbahnhofs mit S21 ist das Projekt einer politischen Allianz der Auto-Lobby gegen den öffentlichen, ökologisch- und sozialverträglichen Transport auf der Schiene. Es ist kein Zufall, dass sich im Bahnvorstand seit Jahren die Manager der Autoindustrie, allen voran Daimler, die Klinke in die Hand geben. Es ist kein Zufall, wenn jetzt Buslinien parallel zu existierenden Bahn-Hauptstrecken durchgewunken werden und Gigaliner noch mehr Gütertransport auf die Straße bringen sollen, wo doch ein Herr Zetsche seine Unterstützung für S21 damit begründet hat, dass damit mehr Güterverkehr auf die Schiene käme!

Und es ist auch kein Zufall, dass sein Daimler-Vorstand plant, Montagearbeitsplätze (davon gibt es heute noch rund 3000 in Untertürkheim) an Billiglohn-Standorte im Osten Deutschlands und ins Ausland zu verlagern mit der Begründung, dass es im Werk Untertürkheim nicht genug Flächen gäbe. Tatsächlich gibt es aber große unbebaute Flächen auf dem Werksgelände genau dort, wo der Stuttgart21-Tunnel unterm Neckar durchgehen soll. Während am Bahnhof kein Stein auf dem andern bleiben darf, wird dort nicht gebaut! Die Geologen wissen warum! Und wir sehen ein weiteres Mal: Stuttgart 21 schafft keine Arbeitsplätze, sondern bedroht und vernichtet sie ganz konkret in Untertürkheim! “

http://www.bei-abriss-aufstand.de/2012/10/08/143-montagsdemo-rede-von-tom-adler/

Der CDU-Kandidat für die OB-Wahl, Sebastian Turner, kann und will also nicht vom S21-Irrsinn lassen und plant gar, jetzt erst recht ebenfalls mit vollem Tempo über die Entgleisungsweiche zu rasen. Vielleicht klappt es ja beim zweiten Mal – wenn die S21-Lokomotiven in der SPD ihn in der Spur halten. Der Stuttgarter Kreisverband setzt demgegenüber schon länger stärker auf den Verstand als auf die Drückerkolonnen der S21-Lobby und ist jetzt dem Alt-Genossen Conradi gefolgt und hat sich offiziell zur Unterstützung von Kuhn bekannt. Mal sehen, ob das Fußvolk ihm folgt.

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.ob-wahl-stuttgart-spd-kreisverband-empfiehlt-wahl-von-kuhn.7e4b84b0-fa3d-401e-bbf6-9acf1ffd0b1e.html

Neben den Betonköpfen der Alt-SPD darf der Kandidat des neoliberalen Retro-Chic auch auf die Unterstützung einer zweiten Beton-Fraktion hoffen, auf den verbohrten Kern der S21-Gegner nämlich, die Fritz Kuhn ein Bein stellen könnten, um sich selbst dafür zu bestrafen, dass sie seit der Landtagswahl den Kontakt zur Realität verloren haben. In ein paar Jahrzehnten unter Turner dürften sie den zwar wieder finden - allerdings auf Kosten der Stadt und derer, die nicht warten wollen, bis auch der letzte linke Betonkopf kapiert hat, dass es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis gibt, mit dem man möglichst klug umzugehen hat.

Das Ergebnis des ersten Wahlgangs könnte so für Kuhn zur Falle werden. Denn sein Vorsprung von 2 Prozent taugt trefflich dazu, das wenig begeisterte Wahlvolk von CDUFDPFREIEWÄHLERSPD zu mobilisieren und die Hardliner des Stuttgarter Widerstands zu demobilisieren – in der Hoffnung, Turner werde es ohnehin nicht schaffen, auch dann nicht, wenn man selbst sich die jungfräulich linken Wahlhändchen nicht mit einem Kuhn-Kreuzchen befleckt.

Denn das Wahlergebnis täuscht. Addiert man nämlich die 36,5 Prozent von Fritz Kuhn mit den 10,4 und 1,1 Prozent der Widerstandskandidaten Hannes Rockenbauch und Jens Loewe, dann kommt man nur knapp über jene 47,1 Prozent, die die S21-Gegner bei der Volksabstimmung in Stuttgart erreicht hatten. Das heißt: Selbst wenn Kuhn all diese Stimmen bekäme, wäre sein Potential schon ziemlich ausgeschöpft - und läge damit weit unter jenen 52,9 Prozent, die sich damals gegen einen Ausstieg des Landes bei der S21-Finanzierung aussprachen. Das aber ist das Potential des Stefan Turner. Darauf spekuliert er und darauf dürften diejenigen spekulieren, die in den Medien so auffällig einstimmig die Wahrscheinlichkeit eines Kuhnschen Wahlsieges verkünden.

http://www.stuttgart.de/volksabstimmung

http://extra.stuttgarter-zeitung.de/obwahl/stz/

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.ob-wahl-stuttgart-von-waehlerwanderungen-und-einer-herkulesaufgabe.11c07271-5f80-4dd5-ae5c-07efdf50c4e7.html

Das Ziel dieser polit-medialen Strategie scheint klar: bei der konservativen Mehrheit in der Stadt soll Alarm ausgelöst werden, der Stuttgarter Widerstand soll dagegen via Hypnose ruhig gestellt werden. Insbesondere aber sollen sich die linken Wutbürger bei ihrem Crash-Kurs in Sicherheit wähnen, denen es längst nicht mehr um Zukunft oder die Reparatur der bereits zerstörten Stadt geht, sondern nur noch um die Bestrafung der Grünen, die nun dafür büßen sollen, dass die SPD zu dumm und zu verbohrt ist, um zu kapieren, dass sie all die Jahre auf ein trojanisches Pferd des Kapitals gesetzt hat.

Eine mehrfache Idiotie also hat Teile des Stuttgarter Widerstandes befallen. Man versteht nur noch Bahnhof, wenn Politik gemeint sein sollte. Und man merkt nicht, dass man selbst längst eine Marionette der S21-Betonfraktion der SPD geworden ist. Sie und die CDUFDP - das alte System also - wären nämlich die politischen Profiteure, würde es der Beton-Fraktion des S21-Widerstandes gelingen, die Grünen zu schwächen und/ oder sie vollends in die Arme des S21-Bürgertums zu treiben, dem Kretschmann im Moment lieber ist als alles, was die anderen anzubieten haben.

Denn das ist nur ein Wählerpotential auf Zeit, das sofort wegfallen würde, sobald die Grünen sich, wie vom Widerstand gewünscht, auf die Bekämpfung von S21 fokussieren und die SPD sich als Konsequenz in eine große Koalition mit der CDU flüchten würde. Die einzige große Partei, auf die der Stuttgarter Widerstand zumindest begrenzt setzen kann, wäre damit auf lange Zeit von der Macht ausgeschlossen und würde womöglich dauerhaft auf FDP-Niveau schrumpfen.

Die S21-Parteien könnten dagegen auf unabsehbare Zeit durchregieren – weil der Stuttgarter Widerstand nicht kapiert hätte, dass nicht der Bahnhof das Entscheidende ist, sondern das dauerhafte Brechen der uneingeschränkten Macht der Parteien der Kapitalhörigkeit, die allein für den S21-Schhwachsinn und die Zerstörung der Stadt verantwortlich sind.

Das Brechen dieser Macht aber geht derzeit nur über Grün. Nicht, weil die hiesigen Grünen in irgendeiner Weise links wären. Sondern weil und solange sie von der herrschenden Kaste noch als einzig verbliebener Feind wahrgenommen werden, dem gegenüber man sich kompromissbereit zeigen müsse. Und es geht dabei weniger um die Durchsetzung konkreter politischer Ziele im parlamentarischen System, als um ein Zeitfenster für den außerparlamentarischen Widerstand, innerhalb dessen man sich einen eigenständigen Zugang zum parlamentarischen Prozesse erarbeiten könnte.

Das aber würde voraussetzen, endlich nicht mehr die Grünen abzustrafen, sondern die, die die wirkliche Verantwortung für S21 und andere Alternativlosigkeiten tragen: CDUFDPSPD. Erst wenn die SPD soweit niedergewählt worden ist, dass die Basis sich endlich ihrer sozialfaschistischen Führung entledigt, ist diese Aufgabe erfüllt. Parallel würde es gelten, die Linke so weit wie irgend möglich zu stärken. Erst dann wäre die Zeit gekommen, sich die Grünen vorzunehmen – sofern dies dann überhaupt noch nötig sein sollte.

Grundlage einer solchen politischen Strategie ist aber die Verfestigung des Machtwechsels, der durch die Landtagswahl eingeläutet wurde, durch einen grünen OB in Stuttgart. Wer das verspielt, muss wissen, dass er damit die Regeneration der Mappus-Fraktion einleitet, dessen neoliberal-postdemokratischer Repräsentant Stefan Turner ist. Wer das verspielt, verspielt auch die Chance, den Machtwechsel auch auf die Verwaltungsebene auszudehnen und erst so die neue Demokratie zu festigen.

Und hier liegt denn auch – neben dem penetranten Übersehen des Erpressungspotentials und des Erpressungswillens der SPD – ein blinder Fleck des Stuttgarter Widerstandes. Man will oder kann nicht sehen, dass ein Regierungswechsel eben noch kein Machtwechsel ist. Der tritt erst ein, wenn er auch die Verwaltungsebene erreicht hat. Dort aber regiert immer noch die CDU.

OStA Häußler ist hier der sicht- und fühlbarste Vertreter der alten, um nicht zu sagen: ganz alten, Macht. Dass der SPD-Justizminsiter den, trotz allem, immer noch gewähren lässt, ist nicht nur Ausdruck von Stickelbergers Schwäche, sondern auch der Stärke und des Beharrungsvermögens des alten Machtapparates, der nur durch viele erfolgreiche Regierungsjahre aufgebrochen werden kann.

Langer Atem und erwachsener Pragmatismus sind jetzt also gefragt. Nicht kindlicher Zorn, der alles Erreichte kaputt schlägt, weil man seinen Willen nicht vollständig durchgesetzt hat. Und Einsicht ist gefordert: eine Regierung ist immer für alle da. Grün-Rot kann also – jenseits der herrschenden Kaste - gar nicht einseitig eine Gruppe der Machtlosen bevorzugen. Das müssen die auch weiterhin auf der Straße tun, selbst wenn sie eigene Leute in der Regierung sitzen haben. Das habe ich bereits unmittelbar nach der Landtagswahl so geschrieben und das gilt auch weiterhin.

Also: Turner entgleisen lassen. Jede Stimme für Kuhn. Und ihn dann in der Spur halten, weiter demonstrieren und auf allen Kanälen des Systems weiter agieren. Sonst könnte eine weitere Ära „Kohl“ drohen. Vor allem aber ist endlich zu begreifen, dass der außerparlamentarische Widerstand ein eigenes politisches Organ neben all den anderen ist. Er ist nicht dazu da, parlamentarische Macht zu erobern oder zu beherrschen. Er soll diese vielmehr kontrollieren.

Siehe dazu auch:

SWR2 ForumWird Stuttgart grün? Sendung vom Donnerstag, 4.10. | 17.05 Uhr | SWR2. Es diskutierten:
Roman Deininger, Baden-Württemberg Korrespondent, Süddeutsche Zeitung ,Arno Luik, Journalist, "Der Stern", Hamburg ,Jürgen Waibel, SWR Redaktion "Radio Stuttgart"

http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/swr2-forum/ob-wahl-stuttgart/-/id=660214/sdpgid=711081/nid=660214/did=10235856/le8u6l/index.html

http://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/10/blind-und-hilflos/

http://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/10/tod-oder-leben/

Zu Turner:

http://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/10/der-meister-des-grossen-geldes/

Überarbeitet und ergänzt: 10.10.2012, 00:30 Uhr

Update 10.10.2012, 14:00 Uhr :

Hannes Rockenbauch tritt nach Rücksprache mit seinen Unterstützern nicht zum zweiten OB-Wahlgang in Stuttgart an. Eine kluge Entscheidung, denn so bleibt Rockenbauch dem Widerstand gegen S21 erhalten – als OB wäre er dafür verloren gewesen – und kann, wenn er will und Kuhn es diesmal – auch mit Hilfe der Rockenbauch-Anhänger - schafft, bereits in 8 Jahren einen neuen Anlauf nehmen. Bis dahin hat er alle Zeit der Welt, um seinen Wählerstamm zu erweitern und an seiner Agenda zu feilen.

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.ob-wahl-in-stuttgart-rockenbauch-tritt-nicht-mehr-an.86ac62ef-01ee-4c62-8351-4260884d4577.html

Für das Lager des OB-Kandidaten Fritz Kuhn könnte sich derweil die „Drohung“ des CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobl, ein Grüner in der Villa Reitzenstein und einer als OB im Rathaus wären der Tod von Stuttgart 21, zu einem zusätzlichen Prozentbeschleuniger entwickeln …..

Nicht dass das derzeit eine realistische Einschätzung von Fritz Kuhn und Winfried Kretschmann wäre, aber die Zeiten können sich ja ändern. Und dafür sollte der Stuttgarter Widerstand sich vielleicht jetzt schon mal wappnen. Danke deshalb, Thomas Strobl für den Denkanstoß!

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.ob-wahl-in-stuttgart-motiviert-strobls-appell-s-21-gegner.b76043e6-33bb-466d-8a5f-77e9e81e0668.html



Am 21. Oktober entscheiden die Stuttgarter Wähler nicht nur über einen neuen OB, sondern auch über die Festigung der erreichten Demokratie in Baden-Württemberg. Täuschung und Selbsttäuschung blühen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

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