Grundsatzrede von Ingo Schulze

S21 Bei der 171. Montagsdemo hielt der Schriftsteller Ingo Schulze eine Art politischer Grundsatzrede. In der Woche davor gab es Ähnliches von Sabine Leidig (Linkspartei)

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Ingo Schulze
Ingo Schulze

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Prominenten Besuch gab es wieder einmal bei der 171. Montagsdemo auf dem Stuttgarter Rathausplatz. Der Schriftsteller Ingo Schulze war zu Besuch und nutzte die Gelegenheit, Stuttgart21 in die größeren Zusammenhänge einzuordnen – was angesichts des Schweigens oder der Gehirnwäsche der Medien immer mal wieder erforderlich und erhellend ist.

Passend war der Besuch angesichts des Gedenkens an die Bücherverbrennung durch die Nazis am 10. Mai 1933. Ihr nahm sich der Stuttgarter (Alt-)Kabarettist Peter Grohman an – während die schwarzkapitalistischen Stuttgarter Monopolmedien demonstrierten, dass man so was – Bücherverbrennung - heute „humaner“ erledigt. Ingo Schulze, den die Stuttgarter Zeitung als „Literaten“ noch vor nicht ganz Jahresfrist für interviewenswert hielt, kommt in der aktuellen Berichterstattung nicht vor.

Bereits bei der 170. Montagsdemo am 29.04.2013 hatte Sabine Leidig von der Linkspartei ebenfalls eine Grundsatzrede gehalten – mit etwas anderen Akzenten. Beide ergänzen sich gut und werden deshalb hier in einem Blog als polit-ökonomisches „Gesamtkunstwerk“ abgedruckt – wobei nicht verschwiegen werden soll, dass das Wort „politökonomisch“ von meinem Korrekturprogramm nicht akzeptiert wird. Was man als kleinen empirischen Beweis für das nehmen mag, was in den Reden ausgeführt wird.....

Rede von Ingo Schulze bei der 171. Montagsdemo

Publiziert am 7. Mai 2013 von Petra A

Was zum Teufel ist Wasser?

Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, hier sprechen zu dürfen. Ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte vorlesen, die ich in einer Rede von David Foster Wallace gefunden habe. Die Geschichte geht so:
»Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: »Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?« Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: »Was zum Teufel ist Wasser?«
»Was zum Teufel ist Wasser?« ist eine Frage, die Ihnen womöglich vom Tenor her bekannt vorkommt. Was Tag für Tag verkündet und praktiziert wird, was alltäglich, was selbstverständlich ist, wird als gegeben und unveränderlich wahrgenommen, als alternativlos.

Ich habe das Glück, schon einmal miterlebt zu haben, dass sich die Welt von Grund auf verändern lässt, und dass dies, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, friedlich und ohne Blutvergießen möglich war. Sie haben hier Gewalt erlebt, die es an Brutalität mit den Knüppeleien mancher DDR-Polizeieinheiten im September und Anfang Oktober ’89 durchaus aufnehmen kann. Ein Unterschied zu damals ist, dass Sie keine Angst vor einer chinesischen Lösung haben müssen, vor der wir uns im Herbst ’89 fürchteten. Trotz dieser Angst war die Atmosphäre in Leipzig am Montagabend heiter. Es war die Freude darüber, dass sich so viele, die einander nicht kannten, zusammenfanden und etwas riskierten. Auf Transparenten und in Sprechchören entfaltete sich ein Sprachwitz, der eine Freiheit praktizierte, die es erst noch zu erobern galt.

Für mich sind die Erfahrungen des Herbstes von 1989 als Ermutigung wichtig. Andererseits wurde vieles, das damals als gesellschaftliche Alternative entstand, zum Beispiel, dass in Betrieben, Instituten, an Schulen und Universitäten die Leiter und Direktoren von den Beschäftigten selbst gewählt werden konnten, nach der Währungsunion und dem Beitritt wieder rückgängig gemacht. Der Umbruch, der Weltenwechsel von 1989/1990 ist aber auch deshalb so wichtig, weil er zur Geburtsstunde unserer heutigen Welt wurde. Denn der Schein, im Westen habe sich damals nichts verändert, trügt. Deutschland hat die Chance einer Vereinigung vertan. Hätte es eine Vereinigung gegeben und nicht nur einen Beitritt des Ostens zum Westen, dann hätte auch der Westen die Chance gehabt, sich selbst zu überprüfen und zu verändern. Da dies nicht geschah und sich statt dessen eine Sieger-Mentalität breit machte, verlor die neue Bundesrepublik viel von ihrer demokratischen und sozialen Kultur.

Ich habe es an mir selbst erlebt: Eben noch hoch politisiert, war ich plötzlich wie paralysiert durch Währungsunion, Beitritt und Kohl-Regierung. Lange Zeit glaubte ich dann tatsächlich, aus einer Welt, die aus Worten bestand, in eine Welt gekommen zu sein, in der nur Zahlen zählen, als seien alle Zwänge Sachzwänge. Man kann es durchaus paradox nennen. Mit dem Untergang der poststalinistischen Herrschaftsformen, wurde zugleich der Sozialismus entsorgt. Es gab nur noch die Vorstellung vom Status quo, wir waren in der besten aller möglichen Welten angekommen. Mit dem Verschwinden von gesellschaftlichen Alternativen ging das Bewusstsein für politische Souveränität verloren. Der Markt würde schon alles zum Besten der Menschheit regeln. Kaum jemand stellte noch die Frage, ob all die Privatisierungen, Deregulierungen, Wirtschafts- und Finanzunionen gut oder schlecht für unser Gemeinwesen sind, wer daran verdient und wer es bezahlt. Solche banalen Fragen galten als unfein oder wurden nur von jenen gestellt, die unverzeihlich dumm waren oder für kein Amt taugten oder noch nicht im Westen angekommen waren. Wir bewegten uns auf einen Zustand zu, in der die Mehrheit voller Überzeugung fragte: Was zum Teufel ist Wasser? Was zum Teufel ist Ausbeutung? Was zum Teufel kümmert mich der Profit der anderen, wenn ich selbst dabei reich werde?

Zeichenhaft für diesen Zustand, der alle Zwänge zu Sachzwängen umdeutet und die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft gern unsichtbar machen würde, scheint mir unsere allabendliche Tagesschau zu sein. Die Ideologie ist bereits zur Struktur geworden. Denn vor die Nachrichten hat Gott die Börsennachrichten gesetzt. Und so erleben wir das Geschehen in der Welt und in unserem Land als eine Variable zwischen zwei vermeintlich objektiven Gegebenheiten, der Börse und dem Wetter. Die Börsenkurse sind objektiv gegeben, das Wetter auch. Beim Wetter helfen Schirm und Regenjacke oder Sonnenhut und Creme, bei der Börse müssen wir uns schon mehr anstrengen, denn die Börse muss wie eine Gottheit besänftigt werden, man muss sie durch unsere Opfer freundlich stimmen und so ihr Vertrauen erringen. Ganz gleich, wie kritisch oder unkritisch die Berichte sind, die zwischen Börsennachrichten und Wetter gesendet werden, der Rahmen und die Prioritäten stehen als unveränderlich fest und wir haben uns danach zu richten. Das ist die marktkonforme Demokratie

Vieles von dem, was wir nach 1989/1990 als Gesellschaft gedacht und was wir zugelassen haben, begreifen wir erst heute.

Wieso gab es keinen Aufschrei, als die Energieversorgung im großen Maßstab und all überall privatisiert wurde. Warum erlaubten wir, dass Wasser privatisiert und dem Gewinnstreben unterworfen werden konnte? Wieso höre ich beim Arzt bei der Terminvergabe als erstes die Frage, ob ich privatversichert bin? Wieso muss ich meine Altersvorsorge einer privaten Versicherung anvertrauen, die es auf Profit abgesehen hat? Wieso lassen wir zu, dass Privatfirmen jeden unserer Schritte im Internet speichern dürfen, um diese kommerziell oder auch anderweitig auszuwerten und damit Milliarden zu verdienen? Fängt man einmal an, solche Fragen zu stellen, kommt man nicht so schnell an ein Ende.

Aber selbst dort, wo wir als Gemeinwesen noch die Macht und Verfügungsgewalt haben, werden Entscheidungen getroffen, die wie die Entscheidungen privater Unternehmen allein an Gewinn und Effizienz ausgerichtet sind, ohne deren Risiken zu tragen. Auch hier werden wieder die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert.

Das Aberwitzige an der Konstellation um Stuttgart 21 ist ja, dass Sie sich nicht gegen einen Konzern wehren, der im Besitz verschiedener privater Eigentümer ist, sondern gegen ein Unternehmen, das uns gehört, uns, dem Gemeinwesen. Es waren leider nur wenige Stimmen, die sich vor Jahren dagegen aussprachen, die Bahn an die Börse zu bringen. Die demokratisch gewählten Politiker, und darin waren sich SPD und CDU einig, versprachen den Managern der Bahn Prämien von etlichen Millionen, sollte der sogenannte Börsengang gelingen. Dass es überhaupt möglich ist, ein solches Ansinnen zu hegen, zeigt nur, wie verwirrt und fremdbestimmt diese Politiker agieren. Wie Sie wissen, verhinderte nur der Ausbruch der Finanzkrise dieses Vorhaben. In einer Stadt wie Berlin hatte der Versuch des Börsenganges zur Folge, dass im Interesse höherer Gewinne Wartung und Ausbesserung der S-Bahn, die unter der Obhut der Bahn AG stand, vernachlässigt wurden. Über Monate hinweg fuhren die S-Bahnen nur eingeschränkt, der Betrieb auf manchen Strecken musste zeitweise ganz eingestellt werden. Für das Verkehrschaos wurde keiner der Manager und Politiker zur Rechenschaft gezogen. Herr Mehdorn darf sich stattdessen jetzt am Berliner Flughafen versuchen.

Was ist das für ein Bewusstsein, das in allen Bereichen unserer Gesellschaft nur noch in Kategorien von Gewinn denken kann? Wieso sind Politiker, die für vier Jahre gewählt wurden, ermächtigt, unser Eigentum zu verschleudern?

In Stuttgart mit seinem geplanten Bahnhof nahm dieser Wahnsinn Gestalt an. Am Beispiel der Bahn lässt sich sagen: Was wollen wir? Was wollen wir für eine Gesellschaft? Soll die Bahn ein international tätiger Konzern sein, der möglichst viel Umsatz und vor allem möglichst viel Profit macht? Oder wollen wir eine Bahn, die eine Alternative zur Straße ist, die pünktlich, bequem und sauber ist, die ihre Angestellten gut behandelt und jenen, die wenig haben, eine verlässliche und preiswerte Möglichkeit der Mobilität bietet, also ein Unternehmen, das das Leben in diesem Land leichter und angenehmer und vielleicht sogar schöner macht.

Ich nahm vor einigen Tagen an einer Diskussion teil, in der es um Reichtum ging. Wir sollten Reichtum definieren.

Ich glaube, dass wir als Gesellschaft, als Menschheit, ungeheuer reich sind. Durch die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte wurde ein Wissen gespeichert und aufbereitet, das uns und alle Menschen dieses Planeten gut leben ließe. Vom Schuh bis zum Hemd, von der Brille bis zum Herzschrittmacher, von der Armbanduhr über das Brockhaus-Lexikon bis zum übersetzten Gedichtband aus China, von der Kartoffel bis zum Gabelstabler oder Mobiltelefon. In allem steckt ein ungeheures Wissen. Die wissenschaftliche und technologische Weiterentwicklung ermöglicht es, mit immer weniger Menschen immer mehr zu produzieren. Immer mehr Menschen werden überflüssig. Die Frage, vor der wir stehen, ist doch, für wen ist dieses ungeheure Wissen da? Wer profitiert davon? Und wie verteilen wir die Arbeit sinnvoll und gerecht? Diese Fragen sind nicht mit dem Verweis auf Wachstum oder immer mehr Effizienz zu bewältigen. Immer deutlicher öffnet sich auch in unserem Alltag die Schere, zwischen den eigentlichen Fragen und Ansprüchen unseres Gemeinwesens, und jenem Wachstums- und Effizienzdenken, das den Bezug zu unserem Alltag immer mehr verliert.

Ihren Kampf gegen Stuttgart 21, gegen Methode und Prinzip von Stuttgart 21, sehe ich in diesem Zusammenhang.

Es geht letztlich um nicht mehr und nicht weniger, als darum, Gesetze zu schaffen, die primär im Sinne der Arbeitenden sind und nicht primär im Sinne der Eigentümer.

War damals der Ruf: „Wir sind das Volk“, so sollte heute unsere Devise lauten: „Wir sind der Staat!“ (nach dem gleichnamigen Buchtitel von Daniela Dahn)

Auf die Frage, wie das erreicht werden kann, werden nicht erst seit heute Antworten gegeben. Seien es die Initiativen zur Rekommunalisierung von Wasser und Energie, seien es Initiativen, die sich trotz offizieller Verbote den Neonazis in den Weg setzen, seien es Gesetzesinitiativen zur Bekämpfung von Steuerbetrug, seien es Literaturfestivals, die sich nicht mit der Vorherrschaft der konzerngesponserten Festivals abfinden wollen, seien es die Montagsdemonstrationen.

Ich möchte mich mit Ihnen solidarisieren und ich möchte mich bei Ihnen für Ihr Beispiel bedanken. Und auch wenn ich das als Einzelner tue, so glaube ich doch zu wissen, dass sich diesem Dank und dieser Solidarisierung sehr viele anschließen.

Ich danke Ihnen, dass Sie den Protest gegen ein fragwürdiges Großprojekt erweitert haben zu einer prinzipiellen Befragung von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Ihr Beharren, Ihr Beispiel ist eine Ermutigung für sehr viele in diesem Land. Ich danke Ihnen, dass sie nicht nur die Frage »Wie ist das Wasser?« immer wieder gestellt haben, sondern dass sie diese Frage auch beantwortet haben und sich ihr Recht nicht nehmen lassen, sich um dieses Wasser, also um das, was uns angeht, zu kümmern.

Rede als PDF-Datei

Quelle: BAA

Rede bei Youtube

Ergänzend hierzu:

Interview mit Ingo Schulze Von den besten aller Welten

Katja Bauer, 16.08.2012 17:22 Uhr

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-ingo-schulze-von-den-besten-aller-welten.7e659059-7c9c-45b9-9b29-4a9f5dc1eb20.presentation.print.v2.html

Mehr zu und von Peter Grohmann:

http://www.lpb-bw.de/fileadmin/lpb_hauptportal/img/veranstaltungen/jungsein/pdf/50_grohmann.pdf

http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/1361/als_der_himmel_brannte.html

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-dem-kabarettisten-peter-grohmann-kommt-der-protest-ins-museum.4c875816-3bcc-488c-93ae-fec25a6923cc.html

http://www.die-anstifter.de/wer-wir-sind/

http://www.freitag.de/search?SearchableText=peter+grohmann

http://www.die-anstifter.de/

http://www.kontextwochenzeitung.de/denkbuehne.html

Rede von Sabine Leidig bei der 170. Montagsdemo

Publiziert am 2. Mai 2013 von Matthias von Herrmann

Liebe Freundinnen und Freunde,

es ist mir wirklich eine Ehre, dass ich bei dieser 170. Montagsdemo sprechen darf – ich bin gerne hier, um den bürgerschaftlichen Geist demokratischer Erneuerung zu erleben.

Tom Adler [http://www.bei-abriss-aufstand.de/tag/tom-adler/] hat mich gebeten, heute über das Verhältnis von Regierung und Parlament zu Stuttgart21 zu reden und über die Frage, wie es um das öffentliche Interesse an diesem Projekt bestellt ist.

Das will ich gerne tun, aber dabei soll es nicht bleiben. ich will auch meine Überlegungen mit euch teilen über die Frage, wie wir zu echter Demokratie kommen.

Doch zunächst zu Berlin: die letzte Runde zu S21 in der Berliner Arena hat sich am 5. März abge-spielt, als der Bahn-Aufsichtsrat wider alle Vernunft und wider besseren Wissens die Fortsetzung des Desasters beschlossen hat. Mit dem absurden Argument, dass die Bilanz der DB-AG bei einem Schrecken ohne Ende – bei dem die Mehrkosten über 13 Jahre oder länger einsickern – immer noch besser aussieht, als wenn auf einen Schlag die zweckentfremdeten Mittel an die Stadt Stuttgart zu-rückgezahlt werden, wenn das Projekt begraben und der Grundstücksverkauf rückgängig gemacht wird.
So weit so schlecht.

Vorangegangen war diesem schwarzen Dienstag unter anderem eine Debatte im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages, in der es nur noch einen einzigen gab, der die Vorzüge des Tunnel-bahnhofes unverdrossen gepriesen hat: der Kollege Kaufmann, CDU-Abgeordneter aus dem Stutt-garter Süden, der allen Ernstes den Fahrzeitgewinn auf der Magistrale Paris – Bratislava als wich-tigstes Argument für Stuttgart21 ins Feld führt.

Die SPD-Vertreter sprechen über die großen Risiken und sind sehr empört über die Kostenexplosion, als wären sie völlig überrascht von dieser Entwicklung. Dann aber geben sich ganz staatsmännisch und erteilen dem Verkehrsminister Ratschläge, was er tun muss, damit doch noch alles gut geht, weil man ja jetzt nicht mehr aussteigen kann.
Auch die Grünen im Verkehrsausschuss sprechen nicht über Ausstieg, sondern darüber, dass die Zusatzkosten nicht auf das Land Baden-Württemberg abgewälzt werden dürfen.

Der Staatssekretär Ferlemann bleibt bei seiner distanzierten Haltung, nach der Stuttgart21 ein eigen-wirtschaftliches Projekt der Bahn sei, der Bund lediglich für die Anbindung an die Neubaustrecke verantwortlich und im Übrigen jede Bahnhofssanierung mit den Infrastrukturzuschüssen möglich sei.

Der Herr Kefer vom Bahnvorstand wiederholte auf meine Frage die Aussage, dass die Bahn nicht aussteigen könne, weil KEINER der Projektpartner dazu Verhandlungen angeboten habe. Das war übrigens der Grund, warum die Arbeitnehmervertreter im AR auch für Weiterbau stimmten – aus Furcht vor Schadensersatzforderungen, die sonst auf „ihr Unternehmen“ zukommen würden. Grube hatte zuvor öffentlich bekundet, dass die Bahn das Projekt abgeblasen hätte, wenn die wirklichen Kosten schon 2009 bekannt gewesen wären – das ist zwar geheuchelt, aber zeigt, dass er auch nicht verantwortlich sein will.

Aber eine gibt es, die – koste es was es wolle – dieses zerstörerische Großprojekt weiter treibt, und das ist die Bundeskanzlerin selbst, die die Vertreter des Bundes im Bahn-Aufsichtsrat auf Kurs hält. Und das ganz ohne inhaltliche Argumente – die interessieren gar nicht. Es geht einzig und allein um die Staatsraison.

Die Regierungschefin Merkel ist überzeugt, dass sich an der Tieferlegung des Hauptbahnhofs in Stuttgart entscheidet, ob Großprojekte in Deutschland überhaupt noch durchführbar sind, und sie verbindet dies mit ihrer Autorität in Europa. Sie will die Schlappe eines Baustopps im Bundestags-Wahljahr vermeiden, koste es was es wolle.

Es geht offensichtlich darum, dass die herrschenden Eliten ihre Vorhaben umsetzen können und dass die widerspenstigen Bürgerinnen und Bürger nicht das letzte Wort behalten. Das Wohl des Staates, sein Ansehen im Ausland usw. werden ins Feld geführt. Und das schlimme ist, dass in unseren Par-lamenten die Neigung groß ist, dieser Haltung zu folgen. Das gilt selbst für Vertreter der Linken, wenn sie sich schwer tun, das erfolgreiche Volksbegehren für Nachtflugverbot in Brandenburg zu ihrer Sache zu machen. Auch da gibt es die Neigung, die Verträge mit der Flughafengesellschaft und die Koalitionsdisziplin über die Anliegen der Bevölkerung zu stellen. Und wenn ich sehe, wie nicht nur Herr Kretschmann heute sagt „Stuttgart21 wird gebaut“, sondern sogar mein einstiger Mitstrei-ter Winfried Hermann, der hervorragend gegen dieses Wahnsinnsprojekt argumentierte und heute erklärt, warum man nicht aussteigen kann, dann bin ich schon entsetzt, wie viel Macht diese Obrig-keitslogik hat und wie weit wir von echter Demokratie entfernt sind. Und ich finde, das müssen wir ändern!

Wir hatten in der letzten Sitzungswoche ein Fachgespräch über direkte Demokratie und da war der Schweizer Botschafter zu Gast, der zwei Punkte angesprochen hat, die mir zu denken geben:

Er fand es sehr befremdlich, dass bei uns die Bürgerinnen und Bürger nicht über die Erhebung und Verwendung von Steuern entscheiden können. Statt dessen sei die „Finanzhoheit das Königsrecht des Parlamentes“. Aber sowohl das Hoheitsrecht, als auch der König sind Begriffe aus der Zeit vor Aufklärung und bürgerlicher Revolution ...

Und dann machte er darauf aufmerksam, dass die Inschrift am Bundestag lautet „dem Deutschen Volke“ – also es wird von da gegeben (und genommen). Während die Schweizer Entsprechung lau-tet „durch das Volk“ und Parlament oder Regierung sich als abgeleitet betrachten – ein ganz anderes Staatsverständnis.

Die Frage ist, wie wir in reifen Gesellschaften wie der unseren dahin kommen, dass die Menschen über ihre Angelegenheiten viel mehr selbst bestimmen und dass sich die Gesellschaft der Parlamen-te, Parteien und auch der Wirtschaft bemächtigt und nicht umgekehrt. Das wäre echte Demokratie.

Ich habe keine fertigen Antworten, aber hier ist ein Raum, an dem die Fragen auf fruchtbaren Boden fallen und demokratische Praxis erwächst. Hier kommen Woche für Woche Leute zusammen, die an der gesellschaftlichen Entwicklung interessiert sind, die viel wissen und immer mehr wissen wollen, die vieles selbst in die Hand nehmen – die Mahnwachen, die Konferenzen, Kultur und Medien …. Die Protestbewegung gegen Stuttgart21 ist eine Brutstätte für demokratische Emanzipation – wahr-scheinlich die am meisten gereifte in dieser Republik.

Zum Glück es gibt eine ganze Reihe weiterer Initiativen, Proteste und Bewegungen, die solches Po-tential ausbrüten und zum Ausdruck bringen. Die Tradition der Montagsdemos hat weite Kreise gezogen: bei der Protestbewegung gegen Fluglärm im Rhein-Main-Gebiet ebenso wie in Berlin-Brandenburg.

Und vorgestern hat in Mainz eine wirklich eindrucksvolle Kundgebung stattgefunden mit fast 5.000 Beteiligten, die unter dem Motto „Gemeinsam gegen den Transportwahnsinn“ für mehr Lebensqua-lität und gegen den Vorrang der Profitinteressen demonstriert haben.

In Berlin gibt es eine Menge spannender Initiativen zur Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger: der S-Bahn-Tisch, die Mietergemeinschaften gegen Vertreibungen aus dem Kiez, gegen die Enteignung der Stadt durch Luxusimmobilien und Spekulation, für gute Pflegebedingungen im größten Krankenhaus usw.

Eine finde ich gerade besonders spannend: das Volksbegehren für Energie in Bürgerhand: www.berliner-energietisch.net
Dabei geht es nicht ums Aussteigen und Selbermachen – das geht ja weder bei Krankenhäusern noch bei Bahnhöfen – sondern um die konkrete Gestaltung des Öffentlichen.

Ich weiß, dass es schon gute Ansätze gibt, diese Gemeinsamkeit auch praktisch zu formieren. Zum Beispiel mit dem europäischen Forum gegen unnütze Projekte, das im Juli hier in Stuttgart zusam-men kommt.

Und ich freue mich total, dass ihr euch – ich glaube sogar mit einem Sonderzug – an den Blockupy-Protesten beteiligt, gegen die ganz und gar antidemokratische Politik der Euro- und Bankenrettung.

Am kommenden Samstag lädt die Rosa-Luxemburg-Stiftung hier im Bürgerzentrum Stuttgart-West zur Konferenz mit dem Titel „In Bewegung – gegen die Krise der Demokratie“, bei der ich in einem Workshop zu Bewegung und Parteien arbeiten will.

Mir geht es darum, wie Bürgerinitiativen, die um konkrete Anlässe herum entstehen und soziale Bewegungen, die vergänglich sind, mit den breit aufgestellten und kontinuierlichen Organisationen, Verbänden und Parteien zusammen wirken können.

Wahrscheinlich braucht es dafür Parteien neuen Typs, die nicht ihre eigene Agenda propagieren, sondern offen sind für gesellschaftliche Akteure, zuhören, aufnehmen, Angebote machen und ge-meinsame Strategien entwickeln, wie die Staatraison überwunden werden kann, wenn sie den sozial-ökologischen, wirklich demokratischen Veränderungen im Weg steht. Dafür jedenfalls setze ich mich ein.

Und ich wünsche mir sehr, dass ihr alle nicht nachlasst, diesen demokratischen Schub zu erzeugen. Sei es mit den Blockadeaktionen gegen die großen Bohrmaschinen, sei es mit Montagsdemos oder großen Kundgebungen, mit Vernetzungsinitiativen und politischen Debatten. Wir brauchen das al-les! Und zwar vor und nach der Bundestagswahl.
Und das noch zum Schluss: ich bin sicher, dass nach dem 22. September „auch noch ein Tag“ ist – und zwar einer, an dem dieses Wahnsinnsprojekt Stuttgart21 beerdigt wird, und nicht nur im „Ländle“, sondern im ganzen Land und darüber hinaus die Parole vom Oben bleiben gefeiert wird!

Rede als PDF-Datei

Quelle: BAA

Rede bei Youtube

Alle Videos zu den beiden Montagsdemos und vieles mehr gibt es hier.

p.s. Vom (Alt-)Kabarettisten, Widerstandsmo(tiva)tor und ebenfalls Grundsatzredner Georg Schramm, der sich gerade auf Abschiedstournee befindet, gibt es ein aktuelles Interview. Das sei nebenbei auch noch erwähnt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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