In Sachen Odenwaldschule und Mißbrauchsdebatte

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[Hinweis: Dieser Text wurde nach Lektüre des Beitrages Hänseljagd an der Odenwaldschule von Volker Zastrow in der FAZ vom 21.03.2010 geändert ( www.faz.net/s/Rub79FAD9952A1B4879AD8823449B4BB367/Doc~E6FA18EC7D19E40B8807801A02C670FB3~ATpl~Ecommon~Sspezial.html). Falls es zutreffen sollte, dass Gerold B. es 1970 abgelehnt hat, eine Psychotherapie wegen seiner sexuellen Orientierung zu machen(ich vernmute: Pädophilie) dann ist er in meinen Augen ein Überzeugungstäter und ich möchte die gelöschten Äußerungen nicht aufrecht erhalten.]

"Ich mache mir Vorwürfe". Gestern Abend nahm Berhard Bueb auf SWR2 Stellung zu seiner Rolle in der Odenwaldschul-Thematik( www.swr.de/swr2/programm/sendungen/swr2-forum/rueckschau/-/id=660194/nid=660194/did=5955728/16rjlbl/index.html ). Zuvor hatte er bereits in der FAZ ausführlich zu seinem Anteil am Thema Stellung genommen ( www.faz.net/s/RubC3FFBF288EDC421F93E22EFA74003C4D/Doc~E923EFAB46B7641439A6050EBE308A0F7~ATpl~Ecommon~Scontent.html ). Jetzt hat ihm auch die ZEIT die Möglichkeit zu einer Stellungnahme eingeräumt ( www.zeit.de/2010/12/C-Odenwaldschule?page=all ).

Er ist nicht der Einzige, bei dem nun selbstkritisches Nachdenken angezeigt ist. Die ganze Pädagogik ist gefragt: Idealisten, grenzverletzende Idealisten und didaktische Pragmatiker, die sich nie groß um das Thema Menschlichkeit im Lehrerberuf geschert haben. Alle, diejenigen, die die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Schule unreflektiert angegangen sind, diejenigen, die sie mit Ideologie statt mit tiefenpsychologischer Selbstreflektion angingen und die, die sie erst gar nicht zur Kenntnis genommen haben, tragen Verantwortung an dem, was in den vergangenen Jahrzehnten passiert und im Gegensatz zu dem Eindruck, den die öffentliche Debatte vorgibt, noch lange nicht hinreichend aufgeklärt ist.

Und je länger ich die Debatte verfolge - ich tue dies seit Ende Januar sehr intensiv - desto drängender stellt sich mir die Frage: Wo waren eigentlich die Eltern? Diese Frage stellt sich in den Heimen und Internaten weniger drängend, da die Distanz zur Einrichtung erheblich ist. Aber am Canisius und an ähnlichen Einrichtungen, wo die Dinge sich quasi vor den Augen der Eltern (und der Schulbehörden!) abspielten, da frage ich mich schon, ob das jetzige Weh-Geschrei das nagende Gefühl einer eigenen Mit-Verantwortung übertönen soll.

Kaum aber hat die Debatte begonnen, da schleichen sich schon wieder falsche Töne und Voreingenommenheiten ein. Beispielhaft sei das Zitat von Ingeborg Bachmann genannt, das die neue Schulleiterin der Odenwaldschule in einer Pressekonferenz anführte, um die richtige (ihre) Strategie zu charakterisieren: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.« ( www.zeit.de/2010/11/Missbrauch-Kinder-Odenwaldschule?page=all )

Ich bitte um Verständnis, wenn ich nun in Wut verfalle, aber das ist wieder so ein Beispiel, wo die Grenze zwischen bildungsbürgerlicher Scheinwelt und Dummheit fließend wird und sich die Frage pädagogischer Eignung in Krisenzeiten stellt. Mal abgesehen von der altbekannten Frage, was denn "Wahrheit" sei, kann ich der Formulierung aus dem Johannesevangelium: "Die Wahrheit macht euch frei"(Johannes 8, 31-33) durchaus zustimmen. Gerade bei einem Thema aber, wo es auch um schwer traumatisierte Menschen geht ist die undifferenziert pauschalisierende Behauptung der "Zumutbarkeit" von "Wahrheit" mehr als kontraindiziert. Zu viel Wahrheit zum falschen Zeitpunkt, am falschen Ort und auch noch von außen aufgedrängt birgt die Gefahr der Re-Traumatisierung (und Stigmatisierung) und verbaut die Chance zur Heilung.

Vielleicht sollte man sich, bevor man so ein Zitat leichfertig in die Öffentlichkeit wirft es an erst einmal an dem Menschen testen, der es geprägt hat: Ingeborg Bachmann soll tablettenabhängig gewesen sein( de.wikipedia.org/wiki/Ingeborg_Bachmann ; ). Könnte es sein, dass sie selbst von zuviel "Wahrheit" überfordert war? Und was die gegenwärtige Debatte betrifft, so mag sich selbst manch bloßer Zuschauer zeitweise überfordert fühlen angesichts der Fülle an schwer Erträglichem, das sich seit Wochen über uns ergießt. Hat eigentlich noch irgendjemand überhaupt noch einen Überblick über all das, was, beginnend mit der Heimerziehung, da alles hochgekocht ist?

Und ich frage mich schon auch, ob all diejenigen, die jetzt - ob routiniert betroffen oder ehrlich empört - von "abscheulichen Verbrechen" u. Ä. sprechen, wo es z.B. um Schläge auf den nackten Hintern geht oder um "Knabenlutschen" (Bodo Kirchhoff im SPIEGEL 11/2010 / www.spiegel.de/spiegel/0,1518,683572,00.html) wissen, was sie da eigentlich tun. Sind sie sich sicher, dass sie die Missbrauchsopfer damit nicht noch mehr verletzen durch Stigmatisieren? Sie erneut demütigen, weil sie Vorgefallenes aufblasen, um sich danach umso besser an ihm aufgeilen zu können? Wäre es nicht angebrachter, solchen Kindern und Jugendlichen (auch denen in den heutigen Erwachsenen), die - Gott sei Dank - nicht in jedem Fall vergewaltigt wurden (im klassischen physischen Sinne), das klare Signal zu geben, dass sie dabei nicht beschmutzt oder verdorben wurden (Bodo Kirchhoff)? Dass sie zwar mit den Folgen des Mißbrauch leben müssen, der Kern des Missbrauchs aber und seine Behaftung mit Scham (und Schulgefühlen) durch die gesellschaftliche Moral mit ihrer Person nichts, aber auch gar nichts zu tun haben, sondern ihnen von Tätern und Gesellschaft übergestülpt wurden? (Entschuldigung für eventuell fragwürdige Formulierungen!)

In jedem Fall aber schiene mir weniger "moralische" Nassforschheit beim Vorwurf der "Vertuschung" angebracht. Vielleicht ist es ja gelegentlich tatsächlich im Sinne eines Opfers, wenn nicht alles und sofort BILD & Co zum Fraß vorgeworfen wird. Ein Skandal ist zuallererst die Nichtbeachtung der Opfer - von wem auch immer.

Wäre es schließlich nicht allmählich an der Zeit, dass man sich endlich einmal ernsthaft Gedanken darüber machte, was an die Öffentlichkeit gehört, was vor die Justiz oder andere Gerechtigkeit herstellende Gremien (bei Verjährung der Fälle) und was in die geschützten Räume einer Therapie? Wäre es nicht endlich an der Zeit, dass man differenzierte zwischen Mißverständnissen, Fehlern, Übergriffen, Perversitäten, Grenzwertigkeiten, sexuellen Zudringlichkeiten, sexuellen Übegriffen, psychischen Überwältigungen, psychophysischen Vergewaltigungen ( z.B. im Fall Manuel N., geschildert bei: www.michaeltfirst.blogspot.com/ ;;;;;;; 4.bp.blogspot.com/_lPF17H6QN2w/SoJ5H8NUJNI/AAAAAAAADkA/6InJ2cMTi0k/s1600-h/A+manuelnowatschek19oa8.jpg ; )
und brutalster Gewalt und Sexualmord?

Was Hentig oder Becker betrifft, so habe ich mit ihnen nie etwas am Hut gehabt. Das war mir alles zu fremd und abgehoben. Es ist an mir vorbei gerauscht. Ich habe da also persönlich nichts zu verteidigen. Ich gehöre aber zu der Generation, die für sexuellen Aufbruch steht. Ich war und bin viel zu verklemmt um dabei mehr als gemäßigte Positionen vertreten zu können. Und ich möchte an dieser Stelle auch nicht weiter auf jene Zeiten, Zustände und Folgen eingehen, sondern stattdessen auf ein Zitat aus dem letzten Interview mit Wilhelm Reich verweisen, das er kurz vor seinem Tod als eine Art Lebensresümee im Gefängnis gab:

"What are the social consequences of the libido theory? ... I would like to summarize [it] in an few words: If you have a stream, a natural stream, you must let it stream. If you dam it up somewhere, it goes over the banks. That's all. Now, when the natural streaming of the bio-energy is dammed up, it also spills over, resulting in irrationality, perversions, neuroses, and so on. What do you have to do to correct this? You must get the stream back into its normal bed and let it flow naturally again. That requires a lot of change in education, in infant upbringing, in family life. These are the social consequences." (Reich speaks of Freud. ed. by M. Higgins and Ch.M. Raphael. New York 1968, p. 43 f)

Das ist nur ein Bild, keine "Wissenschaft". Trotzdem klingt es für mich plausibel. Es lädt dazu ein, den Vorkommnissen bei den kirchlichen wie bei den weltlichen Einrichtungen gleichermaßen einen Hintergrund zu geben. Und es mag dazu taugen, "Canisius" und "Odenwald" dennoch unterschiedlich einzuordnen. Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass zumindest einige der jetzt angeklagten Priester an der verordneten Eindämmung ihrer Sexualität gescheitert sind, während Menschen wie Gerold B. jenen "change in education" versucht haben mögen und dann gescheitert sind, dass sie nicht sahen oder sich weigerten zu sehen, dass die eigene Sexualität in eine falsche, für Kinder hoch gefährliche Richtung lief.

Das rechtfertigt die vorgeworfenen Taten nicht. Es soll nur andeuten, dass das Problem älter ist und sehr viel tiefer verortet sein kann als die Öffentlichkeit wahrhaben möchte.

Weitere Links zum Komplex "Odenwaldschule":
(Falls nicht alle Links funktionieren sollten: Entschuldigung!)


www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E6647558913184B628A9D0245FBCCA73B~ATpl~Ecommon~Scontent.html

www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E436D017C0EE94881B1FC1C946D44C232~ATpl~Ecommon~Scontent.html

www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,683439,00.html

zfi-archiv.beepworld.de/files/internatesexuellermissbrauchdrogen.pdf

www.spreeblick.com/2010/02/02/sexueller-missbrauch-von-schulern-nicht-nur-jesuiten-schulen-sind-betroffen/

de.wikipedia.org/wiki/Odenwaldschule

www.michis-seiten.de/seite448.html

[Zuletzt überarbeitet am 29.03.2010, 16:20]

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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