Jenseits von Sarrazin

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Es gibt eine Welt jenseits von Statistiken und Sozialromantik. Man nennt sie üblicherweise Realität. Realität ist unpopulär. Sie ist kompliziert und komplex. Sie hat so viel mehr Schattierungen als bloß Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Sie eignet sich weder für knackige Schlagzeilen, noch für knackige Kurztexte. Multiple Choice Denken kann sie nicht fassen. Und falls Lösungen einfach sind, sind sie schmerzhaft.

Aus einer solchen Realität berichtet der heutige SPIEGEL in einer Besprechung des Buches Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwestervon Nourig Apfeld ( www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,716041,00.html ). Einiges, was dort steht kommt mir bekannt vor. Einiges erklärt, was ich so noch nicht gesehen hatte. Nichts davon findet sich in der Sarrazin-Debatte.

Da sind die zwei Schwestern, die mich an zwei Schülerinnen erinnern. Auch hier die eine still, fleißig – aber in diesem Fall nicht sehr angepasst. Und die andere: rebellisch und „frech“ auf eine Art, bei der ich mich fragte, wie dies mit einem muslimischen Elternhaus zu vereinbaren sei. Allerdings nicht so rebellisch wie Waffa, von der der SPIEGEL schreibt:

„Immer wieder war Waffa, die Westliche, die jüngere der beiden Schwestern, die mit drei Jahren nach Deutschland gekommen und in der Nähe von Bonn in einen Kindergarten gegangen war, damals ein fröhliches Kind mit wilden braunen Locken, von zu Hause abgehauen. Anders als ihre ältere Schwester Nourig war sie nicht bereit, sich mit den Sitten des Elternhauses zu arrangieren. Nourig flüchtete sich in ein inneres Exil, sie erduldete, dass ihr die Mutter mit der Pfanne ein Stück Zahn ausschlug, folgte dem Verbot, nach der Schule Freunde zu treffen......Waffa haderte nicht nur mit der archaischen Weltsicht der Eltern, die 1979 aus Syrien nach Deutschland gekommen waren. Sie begehrte auf. Sie tat, was sie wollte - und bezahlte dafür mit Schlägen. “

Zu Nourig dagegen heißt es: „Sie war erst mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen, sie hatte nicht das Selbstbewusstsein der ungestümen Waffa, die vier Jahre jünger war als sie.“ Und: „Zwangsverheiratet zu werden war Nourigs größte Angst. Einzig das Gymnasium brachte ihr Sicherheit, solange sie zur Schule ging, passierte ihr nichts.“

Bereits in diesen wenigen Zeilen scheint auf, was so gerne übersehen oder falsch gesehen oder vollkommen unterschätzt wird: der Identitätskonflikt nebst Wurzellosigkeit, den Migranten-Kinder erleben. Der notwendigen Bindung an die Eltern , die deren kulturelle Identität mit einschließt, auf der einen Seite steht die Kultur der neuen Umwelt gegenüber. Und je größer die Distanz zwischen beiden, desto mehr zerreißt sie.

Das gilt nicht nur für Kinder von Türken. Es galt bereits für die Kinder der Heimatvertriebenen. Hatten diese aber noch die Brücken von Sprache und Religion, die ersten Gastarbeiter wenigstens noch die der Religion, so fehlt bei den Kindern archaisch- muslimischer Zuwanderer alles, was überbrücken könnte. Und Sarrazin verweist auch zu Recht daruaf, dass dies noch zusätzlich erschwert wird, wenn fortlaufend Partner(Innen) „importiert“ werden, die zum Teil auch noch An- oder Teilalphabeten sind.

Und das Ganze wird noch überlagert vom Schichtensystem, wo es ganz ähnliche Konflikte gibt, wenn Kinder aufsteigen wollen oder sollen. Auch hier steht am Ende häufig die gebrochene Biographie , wie ich anläßlich einer meiner schriftlichen Abschlußarbeiten der Fachliteratur entnehmen konnte - und aus meinen eigenen Brüchen weiß ( Kind von Heimatvertriebenen, Kindheit in der Gosse, Abitur im katholischen Internat). Es macht also einen Unterschied, ob man Eltern aus dem hintersten Anatolien oder aus der gebildeten Mitelschicht einer orientalischen Großstadt hat – um es mal so auszudrücken.

Wenn Kinder von solchen Migranten gegen ihre Herkunftsfamilie rebellieren bleibt ihnen wenig, wohin sie flüchten können. Bei Waffa blieb nichts: „Für die Jugendamtsmitarbeiter war das Verständigungsproblem dagegen ein sehr konkretes: Wer sollte die Gespräche auf dem Amt übersetzen? Nourig, die Gehorsame. Nein, natürlich gebe es zu Hause keine Schläge, behauptete Nourig. Gewalttätig? Ihre Eltern doch nicht. Der Vater, der neben ihr saß, verstand allzu genau, was die Jugendamtsmitarbeiter wissen wollten. Und Nourig wusste, was sie zu sagen und zu übersetzen hatte. Am Ende waren die Mitarbeiter zufrieden. Und beruhigt. Waffa blieb, wo sie war. Waffa fühlte sich von der Behörde verraten. “

Rücksendung in die Türkei. Dort Vergewaltigung. Schwangerschaft. Flucht zurück nach Deutschland. Von Cousins aus Syrien schließlich ermordet. Und bei all dem von der Schwester mehrfach verraten, die auch nach dem Mord schweigt. Aus Angst. Aus Bindungskonflikten. Vielleicht auch, weil die Alternative aus Nichts bestand? Die zynische Pointe bis dahin: „ Der Vater übertrug das Sorgerecht für seine Tochter Waffa im Oktober 1993 dem Jugendamt. Seine Tochter wolle nicht mehr nach Hause zurückkehren, behauptete er. Niemand fragte weiter nach.

Am 15. November 1994 wurde im Ausländeramt der Stadt Bonn Waffas Fortzug verzeichnet. “

Ja, leider gehörte Waffa zu keinem jener schönen Multi-Kulti-Kreise, von denen wir seit der Sarrazin-Kritik wieder gehäuft hören. Pech aber auch.

Inzwischen ist Nourig hier angekommen und hat Anzeige erstattet. Der Vater sitzt, die Cousins nicht. Dafür funktioniert die Unterstützung hierzulande hervorragend: „ Doch in das versprochene Schutzprogramm wurde sie nicht aufgenommen. Die Kosten seien zu hoch, hieß es, Nourigs Gefährdung hielt man für vergleichsweise gering...“ Deutschland ein kaltes Märchen.

Ich erinnere mich an jenen muslimischen Vater am Elternsprechtag des Gymnasiums, der mir, zu meinem hellen Entsetzen, die Hand küsste. Ich erinnere mich an all die Sprechstunden, wo, wenn ich Glück hatte, ältere Geschwister dolmetschten. Es waren aber auch schon mal die betroffenen Schüler selbst. Nicht dass ich sie ausschließen wollte. Aber manchmal wollen auch Eltern über ihre Probleme sprechen. Und es ist auch demütigend, als Eltern von den Kindern so vollkommen abhängig zu sein.

Ich erinnere mich an jenem „griechischen“ Jungen, der mich um eine „3“ bat, damit er anderswo ausgleichen konnte. Ich sagte ihm, das sei nicht drin und ein Jahr Wiederholung sei doch auch eine Chance. Nicht für ihn, meinte er. Der Vater werde ihn vom Gymnasium nehmen. (Ich zeigte ihm am Ende einen Weg, wie er auch über Realschule und Wirtschaftsgymnasium zum Abitur kommen könne – obwohl nicht ich der Klassenlehrer war. Er hat dort seinen Weg gemacht und meldete sich später mehrfach, um sich dafür zu bedanken.)

Ich erinnere mich an jenen „türkischen“ Schüler, der sich nach Schulschluß bei mir meldete, um mir mitzuteilen, dass er von Herrn X eine 6 bekommen werde, weil er sich „gewehrt“ habe. Es dauerte Tage, bis der Vater und ich es geschafft hatten, ihn von seiner „Männerehre“ herunter zu bringen und er sich bei dem Kollegen entschuldigte. Er wurde versetzt.

Ich erinnere mich an jenen anderen „Türken“, der erst spät nach Deutschland gekommen war und dessen Fehler in Englisch ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Erst spät wurde mir klar: Ich konnte sprachliche Interferenzen mit dem Lateinischen, Griechischen, Deutschen nachvollziehen. Türkisch aber kenne ich nicht. So banal kann (mangelnde)“ Integration“ sein.

Und ich erinnere mich schließlich an jenen Jungen mit deutsch-arabischem Hintergrund aus meinem ersten Jahr als Klassenlehrer. Er war hoch intelligent, sprachgewandt, charmant und sah

ganz gut aus. Er war nicht gerade fleißig, aber schaffte mein Fach mit links. Umso entsetzter war ich, als ich seine Halbjahresnoten sah. Nie zuvor und nie mehr danach habe ich eine solche Menge an 5en und 6en am Stück gesehen.

Und die ganze Zeit hatte es niemand für erforderlich gehalten, mich auf den Jungen aufmerksam zu machen. Es schien allen klar zu sein, dass er durchfallen sollte. Nur ich wußte davon nichts, denn ich war neu an der Schule. Auch sonst lernte ich dazu. Beziehungsweise fiel von einem Loch ins nächste. Ohne einen Boden zu finden.

Beim Versuch, das Elternhaus zu informieren, lernte ich zunächst, dass die (deutsche) Mutter verstorben war. Der Vater (nicht-)erzog allein. Als ich ihn schließlich in die Sprechstunde bekam, erfuhr ich nicht nur, dass es zuhause keinerlei Umfeld gab, das den Jungen hätte betreuen können. Der Vater war berufstätig. Die deutsche Verwandtschaft wohnte weitab und war schon alt. Der Rest lebte in arabischen Fernen.

Was mich aber endgültig umwarf, war die Äußerung des Vaters, er verstehe nicht, was mit dem Jungen los sei. So etwas habe es in seiner (durchaus vornehmeren) Familie nie gegeben. Der Junge sei wohl vom Teufel bessesen. Das habe er auch gehört, sagte der Beratungslehrer. Und: ich solle bloß nicht glauben, das Jugendamt habe nichts anderes zu tun, als sich um die Karrieren von Gymnasiasten zu kümmern.

Also habe ich es selbst versucht. Zusammen mit Kollegen, die noch Jahre danach von jenem pädagogischen Glückserlebnis schwärmten („Das waren noch Zeiten, gell!“). Und unterstützt von Schülern und Eltern. Aber es war nur ein kurzer und mühselig erarbeiteter Erfolg. Der Abstieg kam dann halt mit Verzögerung: Realschule, Hauptschule ohne Abschluß, Kriminalität. Bei (IQ-getesteter) überdurchschnittlicher Intelligenz. Als ich dem Jungen klarzumachen versuchte, wie wertvoll eine gute Bildung sei, bekam ich schon damals zur Antwort: Wieso denn, es gebe doch Sozialhilfe. Da war er 14.

Welch kleiner Unterschied im familiären Umfeld lebenlauf-entscheidend sein kann, erlebte ich damals auch. Ich erwischte den Jungen zusammen mit einem griechisch-stämmigen Kumpel mit der Beute aus einem Ladendiebstahl, den sie offenbar in Auftrag gegeben hatten. Das meiste konnte ich an meinen ersten Ferientagen in die Kaufhäuser zurückbringen. Aber die Sportschuhe hatten sie schon an und der Beratungslehrer, von dem ich mich beraten ließ bestand auf Bezahlung. Beim einen bezahlte der Vater mit gekränkter Miene. Der andere (griechisch-stämmige) bat um eine Frist. Sein Vater würde ihn „tot schlagen“, wenn er es erführe. Aber er spiele an Wochenenden in einer Band, da wolle er sich das Geld zusammensparen. Irgendwann – ich hatte es längst vergessen – kam er mit dem Geld zu mir. Ich habe es ihm gelassen. Für mich zählte die Leistung. Er ist heute mittelständischer Unternehmer.

Bleibt noch eins zu erwähnen. Der Deutsch-Araber sagte einmal zu mir, es wäre ihm lieber, sein Vater würde ihm einmal eine scheuern. Aber diese dauernden Moralpredigten würden ihn total fertig machen. Ich hätte dem Jungen gerne eine gescheuert......

Ergänzende Links:

www.zeit.de/gesellschaft/familie/2010-09/bildung-migranten-abiturientin

www.zeit.de/politik/deutschland/2010-09/integrationsprogramm-lehrer-gruende

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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