London Riots 2011: Die Ära Thatcher (2)

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Spätestens Anfang 1977 befand sich Großbritannien in einer tiefen Wirtschaftskrise und die damalige Labourregierung musste zur Vermeidung eines finanziellen Ruins des Landes harte wirtschaftspolitische Auflagen seitens des IWF als Gegenleistung für einen 3,9-Milliarden-Dollar-Kredit akzeptieren. Gleichzeitig lief ein sogenannter Sozialvertrag aus, der den durchschnittlichen Lohnzuwachs bei 4,5 Prozent halten sollte. Statt - bei einer Inflation von 17 Prozent - einer Verlängerung zuzustimmen, wurden innerhalb der Gewerkschaften Forderungen nach Lohnerhöhungen um bis zu 90 Prozent erhoben.

Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sank... der Lebensstandard... und es kam im Winter 1978–79 zu ausgedehnten Streiks der Gewerkschaften, die Lohnsteigerungen und die Einführung einer 35-Stunden-Woche forderten. Die Streiks waren die Reaktion auf den fortgesetzten Versuch der Regierung der Labour Party unter Premierminister James Callaghan, die Lohnsteigerungen unter 5 Prozent zu halten. Arbeiter des Automobilherstellers Ford legten die Arbeit für mehr als zwei Monate nieder und die Firma lahm − heraus kam eine Lohnerhöhung von 16 Prozent.. .Mit dem sogenannten „secondary picketing“ wurde durch Blockade von Hafenausfahrten, Betriebsgeländen und Lagerhallen auch solche Bereiche betroffen, die schwerlich in einen Arbeitskampf hineinzuziehen waren....Mehrere Wochen streikten sogar die Totengräber, so dass keine Beerdigungen möglich waren. Die Streikaktionen der Müllabfuhr führten zu großen Müllhalden in öffentlichen Parks.“ [5]

In Überschriften des Nachrichtenmagazins TIME schlug sich dies so nieder:

25. Dezember 1978: „Still Sunny Jim [Callaghan]. But April may be showery“

22. Januar 1979: „A New Season of Unrest. Defiance in Britain, disruption in Spain, détente in West Germany“

29. Januar 1979: „A Crescendo of Strikes. A lengthening litany of stoppages, lay offs, shortages and closings“

5.Februar 1979: „Waiting Out the Storm. A troubled Callaghan asks: 'What kind of a society are we to be?'“

12. Februar 1979: „In the Eye of the Hurricane. The truckers desist, but hospital workers continue on strike“

26. Februar 1979: „Peace Treaty. Or just 'a boneless wonder'?“

…..

14. Mai 1979: „A Tory Wind of Change. The 'Iron Lady' takes charge at No. 10“

Eine Karikatur des OBSERVER vom 21. Januar 1979 zeigt eine Warteschlange vor einem Laden, an dem Schilder und Zeitungen verkünden: „No Bread“, „No Sugar“, No Salt“, „No Trains“, „Schools Closed“, „IRA Back“ und „Water Supplies Cut“. Ein Mann am Ende der Schlange liest eine Zeitung, die verkündet, dass Vietnamesische Bootsflüchtlinge nach Großbritannien geschickt würden und seine Gattin fragt, womit die wohl diese Strafe verdient hätten.

Das alles zeigt wohl ziemlich treffend, was damals los war und in welcher Stimmung die Wähler später die Wahlkabinen betraten. Am Ende stand der Wahlsieg von Margaret Thatcher 1979, der sich nicht zuletzt der Wahrnehmung vieler Wähler verdankte, Wirtschaft und Gesellschaft seien unter Labour vollkommen in die Verfügungsgewalt durchgeknallter Gewerkschaftsführer geraten. [6] Eindrucksvoll dokumentierte dies der OBSERVER, der Labour-Anhänger nach ihrer Einstellung zu Wahlzielen der Konservativen befragte:

Für die Reduzierung von Gewaltkriminalität und Vandalismus sprachen sich danach 95 %

aus.

Für die Reduzierung zusätzlicher staatlicher Unterstützung für Streikende, die

Streikgeld bezogen waren 63%.

Für ein Verbot der Aufstellung von Streikposten an nicht involvierten Betrieben

(secondary picketing) votierten 78%.

Für die Möglichkeit, als Bewohner kommunaler Häuser, diese günstig erwerben

zu können waren 75%.

Selbst einer Senkung der Einkommenssteuer für Besserverdiener stimmten noch 52%

der Labour-Anhänger zu. [Quelle: The Observer vom 22. April 1979]

Wer heute über Thatcher (oder den „Neoliberalismus“ insgesamt) schimpft, sollte sich zwischendurch mal all dies vor Augen führen und die Veränderungen in Großbritannien mit jenen Zuständen vergleichen, bevor er die heutigen Zustände kritisiert. Thatchers Aufgabe bestand damals darin, dem im Klassenkampfdenken des 19. Jahrhunderts festhängenden Land modernere Kooperationsstrukturen zwischen Kapital und Arbeit zu geben, anderen gesellschaftlichen Gruppen mehr Raum und mehr Macht im Parteiensystem zu verschaffen, die Bedeutung der Leistung gegenüber der des Standes in allen gesellschaftlichen Bereichen zu stärken und die Menschen an der Basis – z.B. im Bildungssystems – zusammen zu führen. In Deutschland war dies beispielsweise nach den Zerstörungen der Nazis und des Krieges in einem partiellen Neuanfang zumindest versucht worden.

Thatcher, die, wie ihr konservativer (Vor-)Vorgänger Heath, aus dem Kleinbürgertum aufgestiegen war., brachte so eigentlich die Voraussetzungen dafür mit. Aber sie ließ, auf eine „neoliberale“ Ideologie fixiert, die Gesellschaft in ein Volk untereinander konkurrierender Individuen – besser: „Eigentümer“ - zerfallen, dünnte den Kitt des Sozialstaates aus und trieb durch die einseitige Entmachtung und Zerschlagung der Gewerkschaften die Gesellschaft zurück in den struktur- und regellosen Raubtierkapitalismus. Das brachte zwar etwas mehr Ruhe ins Wirtschaftssystem:

Fielen 1970/79 noch jahresdurchschnittlich 569 Tage je 1 000 Beschäftigte aus, waren es 1980/89 noch 332 Tage und 1990/99 29 Tage. Inzwischen zählt Großbritannien zu den friedlichsten Volkswirtschaften, wenngleich sich die Bilanz in jüngster Zeit wieder etwas verschlechtert hat.“[7]

Es trieb auch die Mitglieder aus den entmachteten Gewerkschaften. Und es bereitete dem zügellosen Casinokapitalismus den Boden. Dennis Kavanagh zieht dennoch eine gemischte Bilanz in seinem kurzen Abriss der politischen Nachkriegsgeschichte Großbritanniens:

But the Thatcher era also meant a massive under-investment in infrastructure, particularly railways, roads, schools and universities. Inequality increased. The winners included much of the corporate sector and the City, and the losers, much of the public sector and manufacturing.

..

Society has also become more individualistic, as seen in the passion for home ownership.... There remains a north-south (more accurately, London and the south east versus the rest) divide in terms of economic wealth and opportunity.

London has gained greatly from the globalising economy, while the north remains heavily dependent on public spending for jobs and economic activity.

And despite rising living standards and greater opportunity for many, society has become more 'broken' and an 'underclass' has emerged. Indicators of these trends are divorce, which has increased twentyfold, the prison population, which has increased sevenfold, and the fact that Britain has more births outside marriage and teenage mothers than any other European country.“[8]

Während also immer mehr Einwanderer und deren Nachwuchs neben (passenden) Arbeitsplätzen dringend gesellschaftliche Strukturen gebraucht hätten, über die sie sich hätten sozialisieren und integrieren können, brachen eben diese Strukturen immer mehr zusammen. An ihre Stelle traten Ghetto und Knast, Bandenzugehörigkeit und Abschottung in religiösem Fanatismus. Erschwerend kommt hinzu, dass die britische „Zivilisation“, folgt man Michael McCarthy im Independent , in stärkerem Maße als vergleichbare Gesellschaften, traditionell eher auf verinnerlichten Konventionen als auf schriftlich fixierten Normen aufbaut. [9]

Umso wichtiger aber ist die Kommunikation, über die sie vermittelt werden müssen. Werden Gruppen – aus klassenbedingten Gründen, aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit oder wegen früher und dauerhafter Arbeitslosigkeit - allzu sehr ausgegrenzt, dann fallen sie automatisch aus der „Kultur“ der Mitte heraus und leben ihre „ererbten“ oder selbst gesetzten Normen. Und tritt an die Stelle einer gemeinsamen Religion Kirchenferne und religiöse Zersplitterung, dann fehlen auch in diesem Bereich starke Institutionen, die eine gemeinsame Wertebasis herstellen könnten. Und werden Kinder und Jugendliche überdies früh in private Schulen für Mitte bis Oben und öffentliche Schulen für Mitte bis Unten sortiert, dann bleiben schließlich allenfalls noch die Medien, die sozialen Zusammenhalt und eine gemeinsame „Kultur“ samt gemeinsamen Werten vermitteln können. Die aber tun vielfach eher das Gegenteil.

In einer Gesellschaft aber, die ohnehin die Grenzen zwischen Individualismus und Sozialdarwinismus großzügiger zu ziehen scheint, dürfte dies alles umso stärker durchschlagen. Speziell in Großbritannien, wo sich Gewerkschaften und „Arbeiterkultur“ sehr viel länger gehalten hatten als in Deutschland, bedeutet auch deren Schwächung eine Schwächung von Institutionen, die Bindung vermitteln können. Ob die damit einhergehende Chance, die Spaltung der Gesellschaft in ein Oben und Unten zugunsten einer Ausweitung der „Mitte“ verringern zu können, hinreichend genutzt wurde, vermag ich – mangels Information - nicht zu sagen. New Labour und Camerons Versuch eines neuen Konservatismus scheinen darauf hinzudeuten.

Jenseits der überkommenen und der Ersatzstrukturen brachen also Sozialgefüge und Wertesystem in Großbritannien zumindest in einigen Gruppen am Rande zunehmend in sich zusammen. Vielleicht war es das, was die Nation 1993 am Fall James Bulger plötzlich realisierte.[10]

[5] de.wikipedia.org/wiki/Winter_of_Discontent

einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/4033/wie_maggie_an_die_macht_kam.html

[6] Konfliktbew%E4ltigung.html

de.wikipedia.org/wiki/Britischer_Bergarbeiterstreik_1984/1985

library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1985/1985-07-a-392.pdf

library.fes.de/fulltext/bueros/london/00944.htm

[7] Konfliktbew%E4ltigung.html

www.adam-poloek.de/folienneu/wirtand/wirtanduk/arbeitslosigkeit-in-grossbritannien-1975-2002.pdf

[8] www.bbc.co.uk/history/british/modern/thatcherism_01.shtml

de.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher

[9] www.independent.co.uk/news/uk/crime/no-shame-no-limits-has-the-behaviour-of-the-mob-destroyed-the-idea-of-british-civility-for-ever-2334863.html

[10] de.wikipedia.org/wiki/James_Bulger

Ursprünglich am 12.08.2011 22:58 Uhr unter anderem Titel eingestellt.

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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