London Riots 2011: Großbritanniens gespaltene Gesellschaft

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Ich teile die Menschheit gern in drei Kategorien ein: Die erste Kategorie, das sind die normalen Menschen. Wir alle haben sicher als Jungs mal Äpfel geklaut, aber dann sind wir doch anständige Kerle geworden (…) Zweite Kategorie, das sind die mit einer kriminellen Ader. Die gehören vor Gericht (…) Und die dritte Kategorie sind Investmentbanker und Fondsmanager..... „Das Wort Investmentbanker ist nur ein Synonym für den Typus Finanzmanager, der uns alle, fast die ganze Welt, in die Scheiße geritten hat …““

So zitiert Frank A. Meyer auf Cicero Online Helmut Schmidt und landet damit einen prächtigen Seitenhieb auf die Weltfinanzkrise, der zumindest mich als Außenstehenden dazu reizt, ihn auch auf die derzeitigen sozialen Unruhen in England anzuwenden. Wenn Meyer dann auch noch mit Anshu Jain, einem der beiden vorgesehenen Nachfolger von Josef Ackermann bei der Deutschen Bank, eine Person einführt, an der sich quasi exemplarisch darstellen ließe, was in Londons Sozialstruktur womöglich ganz entsetzlich schief läuft, obwohl – oder gerade, weil? - er Inder ist, dann wird dieser Reiz noch stärker. [1]

Denn der in Indien sozialisierte und danach sozusagen globalisierte Jain mit seiner ganz herausragenden Karriere im kosmopolitischen London lässt sich „prächtig“ mit jenen Pakistani aus den Vorort-Ghettos kontrastieren, die die FAZ eher „im Gefängnis sozialer Armut“ verortet. In Zahlen liest sich das, laut Angaben des britischen Gewerkschaftsverbandes TUC, so: als „arm“ gelten 20 Prozent der Haushalte mit einem weißen „Familienoberhaupt“ (headed by...), 30 Prozent mit einem indischen, 33 Prozent mit schwarzem (Karibik), 46 Prozent mit schwarzem (nicht-karibischen) Hintergrund, aber 56 Prozent mit einem Familienoberhaupt aus Pakistan oder Bangladesh [2].

Und wenn solche jungen Pakistani dann auf der Suche nach Struktur, Identität und Anerkennung in islamistischen Kreisen landen, dann können, wie 2005 geschehen, selbst „vier unauffällige junge Männer aus West-Yorkshire..., [und] aus guten Familien pakistanischer Herkunft“ stammend, zu Selbstmordattentätern werden – eine der unterschiedlichen Varianten aus der Geschichte der Gewaltausbrüche mit ethnischen und/ oder sozialen Bezügen in Großbritannien. [3]

So verführt also bereits dieses kurze Zitat zu dem Versuch, das komplexe Innenleben der britischen Gesellschaft mit seiner Hilfe auf einen vermuteten Punkt zu bringen - der mir, als mittlerweile wenig Informiertem, der zuletzt 1989 britischen Boden betreten hat, aus der Ferne plausibel erscheint. Plausibel heißt nicht zwangsläufig auch zutreffend, und gerade weil die im Eingangszitat vorgegebene Richtung so schön tradierte linke Reflexe hervorruft, ist ein Minimum an begleitender Skepsis angebracht, auch und gerade wenn man sich auf die Berichterstattung der Medien stützt. Diese nämlich folgen einer anderen Gesetzmäßigkeit als die Wirklichkeit, indem sie sich eher auf grelle, nicht alltägliche Ausschnitte und Einzelereignisse fokussieren als auf die Norm und die Normalität.

Dies vorausgeschickt, möchte ich versuchen, mit weiteren Zitaten aus der aktuellen Berichterstattung und Analyse zu fassen, was hinter dem stehen könnte, was sich in den letzten Tagen in Großbritannien abgespielt hat. Martin Fletcher, Korrespondent von NBC News schreibt z.B. in einem Kommentar aus London von den Urlaubsorten, aus denen diverse Politiker wegen der Unruhen zurückkehrten:

...London’s Mayor Boris Johnson interrupted his family vacation in North America. Prime Minister David Cameron returned from his vacation in a (shared) ten thousand pounds a week villa in Italy where he was reportedly taking tennis lessons with a coach flown out from Britain. Home Secretary Theresa May cut short her vacation in Switzerland. Deputy Prime Minister Nick Clegg returned from his vacation in France....“

Und er fährt fort:

I was wondering as I watched, from a safe distance, a mob of young men, running, looting and throwing bottles, when the last time was that one of them had a vacation. Probably never. I thought, this is their vacation. It’s a break from their routine of hanging around street-corners. It’s fun, for them. They were laughing as police chased them.“

Sein Resümee hatte er bereits zu Beginn gezogen:

The lives of most rioters are so far removed from those of the country's leaders it’s like they occupy different planets.“[4]

Ausführlicher beschreibt die so angesprochene soziale Kluft Wolfgang Koydl in der SZ:

Und derweil Schatzkanzler George Osborne mit der einen Hand Sozialleistungen kürzt, lockt er mit der anderen Reiche aus aller Welt mit Konditionen ins Land, die den Finanzdirektor eines Schweizer Niedrigsteuer-Kantons vor Neid erblassen ließen...... hinter der glitzernden Fassade, die Großbritannien präsentiert, haben sich so viel Unmut, Ressentiments und Zorn angestaut, dass es nur eines Funkens bedurfte, um eine Explosion auszulösen...... Die Botschaft für Britanniens Unterklasse könnte eindeutiger nicht sein: einmal arm, immer arm, und das gilt selbstverständlich auch für eure Kinder und Enkel. Ihr habt mehr Chancen, einen Sechser im Lotto zu tippen, als aus eurer Klasse auszubrechen.....Nach wie vor zählen Name, Familie und Geburtsort für Karriere und Beruf. Egal ob Politiker, Manager, Journalisten - sie gingen auf dieselben Schulen, studierten dieselben Fächer, sprechen dasselbe gepflegte Englisch, das ihnen im Elternhaus vermittelt wurde…... Zugleich aber gibt es Stadtteile in London und anderswo, in denen Lebenserwartung und Kindersterblichkeit Drittwelt-Niveau haben. …..“[5]

Beide Zitate verweisen auf eine tiefe soziale Spaltung in der britischen Gesellschaft, die als ethnische Spaltung in Erscheinung treten kann, aber nicht muss. Sie und das sie begleitende mangelnde Verständnis für einander zeigt sich auch in einem Twitterdialog mit dem Fussballaufsteiger und Lamborghini-Fahrer Wayne Rooney:

"Diese Randale ist bescheuert, warum tun Leute das ihrem eigenem Land an? Das ist peinlich für unser Land, hört bitte auf.....Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. "SIE SIND ARM & ARBEITSLOS & FUSSBALLER VERDIENEN MILLIONEN, DAS IST DER GRUND!", antwortet Twitter-Nutzer surfparty69... Rooney will dieses Argument nicht gelten lassen. "Und weil sie nicht arbeiten, ist es okay, Häuser niederzubrennen und in die Heime von Bürgern einzubrechen? Komm schon, hör auf so einen Müll zu reden!" Roonye's bescheidenes Heim soll 4.5 Millionen Pfund wert sein....[6]

Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, ein Underdog dem anderen offenbar schon. Und wie es der Aufsteiger Rooney mit den Zurückgebliebenen tut, von denen er sich ganz besonders aggressiv abgrenzt, um sich möglichst deutlich von seinem eigenen Herkunftsmilieu zu distanzieren, so tun jene es mit Ihresgleichen, ob sie nun einem verletzten Jugendlichen den Rucksack ausräumen oder den kleinen Ladenbesitzern die Shops.[7]

An diesem Punkt ist die Verführung groß, mit einem Zitat von Benjamin Disraeli aus „Sybil, or The Two Nations“ (1845) fortzufahren:

Two nations; between whom there is no intercourse and no sympathy; who are ignorant of each other's habits, thoughts, and feelings, as if they were dwellers in different zones, or inhabitants of different planets; who are formed by a different breeding; are fed by a different food, are ordered by different manners, and are not governed by the same laws......THE RICH AND THE POOR.“


Dies deckt sich nicht nur allzu schön mit Fletcher's Beschreibung weiter oben. Es findet sich überdies im Newsweek Magazin vom 3. November 1986, das mit dem Titel aufmachte „The Two Britains. A Stagnant North, An Affluent South“, und das 7 Jahre nach Margaret Thatchers Machtübernahme eine erste gespaltene Zwischenbilanz zog. Wenn zudem Newsweek seinen Titel mit „Today, as in Disraeli's time, that is the Great Divide in British life“ beginnt, dann könnte es nahe liegen, angesichts der aktuellen Ereignisse diese Linie bis in die Gegenwart weiter zu ziehen. Aber man sollte die Parallelisierung nicht zu weit treiben, sonst läuft man womöglich Gefahr, vom Reich der Fakten in das der Fiktion zu rutschen. Aber als Provokation taugt diese Abschweifung allemal.


Ein weiteres, besser taugliches Steinchen im Mosaik wäre David Camerons von weit oben herab formulierende feine Privatschulsprache:

Jeder, der gewalttätig wurde, wird ins Gefängnis geschickt....Es ist klar, dass wir in unserem Land ein Gang-Problem haben.....Wir brauchen einen deutlicheren Wertekanon“ [8]

Weiter unten an der Basis wird das dann etwas deutlicher:

Eine Polizistin fordert: "Die müssen alle hart bestraft werden, so schnell wie möglich. Es kann nicht sein, dass diese verzogenen Kinder unsere Straßen beherrschen....Das hier ist Großbritannien, nicht die Elfenbeinküste." [9] *)

Und von da ist es schließlich nur noch ein kleiner Schritt bis zum offenen Rechtsradikalismus, der mir dann aber doch nicht mehr so typisch britisch zu sein scheint:

Der Chef der rechtsextremen English Defence League (EDL) kündigte an, die Gruppe wolle Mitglieder auf die Straßen schicken, um die Unruhen in mehreren britischen Städten zu ersticken. ... Lennon sagte, er könne nicht garantieren, dass es keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mit randalierenden Jugendlichen geben werde.

Einige Mitglieder würden bereits Patrouillen laufen, um Randalierer abzuschrecken, sagte Lennon. Hunderte weitere würden ihnen am Mittwoch folgen. "Wir werden die Unruhen stoppen, die Polizei ist dazu offensichtlich nicht in der Lage", sagte er. Die EDL war von dem geständigen norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik in seinem Manifest als inspirierend beschrieben worden.....“ [10]

Der SPIEGEL soll schließlich diesen ersten Kreis mit einer Zuspitzung schließen, die befürchten lässt, dass der "pluralistische Monokulturalismus", den Amartya Sen in der ZEIT vom 6.12.2007 in Bezug auf GB beschreibt, von einer bloßen "Vielfalt von Kulturen, die wie Boote in der Nacht aneinander vorbeigleiten" [11] in einen veritablen Seekrieg umschlagen könnte – oder in eine Verfestigung der Verbannung des unteren Teils der sozialen Skala auf die inneren Eilande der Ghettos:„Machtprobe mit dem Mob. Cameron kämpft um Law and Order“.[12]

Wenn ZEIT Online schließlich berichtet, Cameron prüfe den Einsatz der Armee [13] , oder dass der Haftrichter im 15-Minuten-Takt arbeite [14] , und wenn in der FR zu lesen ist, Verhaftete müssten wegen Überfüllung von Zellen ausgelagert werden [15], wenn in den TV-Nachrichten schließlich zu hören ist, Cameron wolle die Randalierer gegebenenfalls aus ihren Sozialwohnungen vertreiben, dann grinst durch die Charm-Maske Camerons endgültig die Eiserne Lady, die lieber hinterher zuschlägt und draufzahlt, als vorher zu teilen. Und damit scheinen mir die Briten – bei allen ökonomischen Veränderungen seit dem „Winter of Discontent“ Ende der 70er Jahre und dem darauf folgenden Machtwechsel zu Thatcher [16] - gesellschaftlich irgendwie wieder da zu sein, wo sie schon einmal waren.

Bleibt am Ende dieses ersten Teils noch, der eingangs geforderten Skepsis gegenüber linken Denkreflexen Rechnung zu tragen und noch ein paar Links anzufügen, die sich diesem sozialkritischen Denkmuster nicht bedingungslos anschließen [17].

[1] www.cicero.de/kapital/ratingagenturen-spekulanten-demokratie/42567?print

de.wikipedia.org/wiki/Anshu_Jain

en.wikipedia.org/wiki/Anshu_Jain

de.wikipedia.org/wiki/Jainismus

en.wikipedia.org/wiki/Jainism

[2] www.tuc.org.uk/social/tuc-19868-f0.cfm

[3] www.faz.net/-01316j

www.faz.net/-0132bd

[4] worldblog.msnbc.msn.com/_news/2011/08/09/7316057-riots-reveal-londons-two-disparate-worlds

[5] www.sueddeutsche.de/politik/ungerechtigkeit-in-grossbritannien-verloren-verzweifelt-wuetend-bis-aufs-blut-1.1129811

[6] www.rp-online.de/panorama/ausland/Blackberrys-und-Baseballschlaeger_aid_1017733.html

en.wikipedia.org/wiki/Wayne_Rooney

[7] www.youtube.com/watch?v=6Gex_ya4-Oo

www.freitag.de/politik/1132-die-menschen-hinter-dem-zeug

[8] www.bz-berlin.de/aktuell/welt/englands-premier-haben-ein-gang-problem-article1245371.html

[9] www.sueddeutsche.de/politik/london-und-die-gewalt-randale-in-ruinen-1.1129908

*) Hier liegt möglicherweise eine missverständliche Übersetzung des Wortes „spoiled“ vor, das „verzogen“, aber auch „verdorben“ bedeuten kann

[10] www.taz.de/Strassenschlachten-in-britischen-Staedten/!76013/

[11] www.zeit.de/2007/50/Multikulturalismus/komplettansicht

[12] www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,779308,00.html

[13] www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-08/cameron-randale-london

[14] www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-08/england-krawalle-gericht/komplettansicht

[15] www.fr-online.de/politik/nicht-nur-die-ueblichen-verdaechtigen/-/1472596/9109238/-/index.html

[16] de.wikipedia.org/wiki/Winter_of_Discontent

[17]

www.taz.de/Riots-in-London/!76121/

"Kein Polizist ist verurteilt worden"

www.fr-online.de/politik/nicht-nur-die-ueblichen-verdaechtigen/-/1472596/9109238/-/index.html

Nicht nur die üblichen Verdächtigen

www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-08/england-krawalle-gericht/komplettansicht

Der Haftrichter arbeitet im 15-Minuten-Takt

www.taz.de/Krawalle-in-London/!76098/

Keine Ideen außer Chaos

www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/09/london-riots-who-took-part

Who are the rioters? Young men from poor areas ... but that's not the full story



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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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