„Lügen“ mit den Nachdenkseiten

Ukraine-Debatte In einer „Agentur zur Modernisierung der Ukraine“ soll Peer Steinbrück für die „Finanzen“ zuständig sein. Jens Berger hetzt in den Nachdenkseiten dagegen.

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Dass die Ukraine dringendst Frieden & eine stabile demokratisch-rechtsstaatliche Struktur braucht, ist offensichtlich. Dass sie das alleine und von innen heraus nicht schafft, kann man angesichts ihrer jüngeren Geschichte zumindest so sehen. Und dass dem nicht zuletzt eine Oligarchenkaste entgegensteht, wird wohl zu Recht behauptet.

Wenn also ausgerechnet drei berüchtigte Oligarchen sich entschließen, einen Think Tank(?) außerhalb der Ukraine zu finanzieren, der Vorschläge für diese notwendige „Modernisierung“ erarbeiten soll, dann ist es zwingend, von vornherein wachsam & kritisch zu sein.

Wenn bei der personellen Besetzung eines solchen Think Tanks mit erfahrenen prominenten europäischen Politikern & Interessenvertretern eine bestimmte Ausrichtung vorgegeben werden könnte, muss man auch das wachsam & kritisch ins Auge nehmen.

Wenn man aber, wie Jens Berger bei den Nachdenkseiten vermeintliche oder tatsächliche russische Interessen in der Ukraine zum Bezugspunkt nimmt, von dem aus „Kritik“ zu üben sei (Politiker geehrt, die sich ganz maßgeblich dafür eingesetzt haben, dass die Ukraine sich an die EU annähert“). Und wenn Verleumdung & Herabsetzung als Mittel der Kritik gewählt werden, dann hat das mit seriöser journalistischer Arbeit nichts mehr zu tun. Es ist weit unter BILD-Niveau:

Offenbar hat Steinbrück endgültig jede Scham verloren und verkauft seine Haut wie eine Bordsteinschwalbe an jeden, der bereit ist den – sicher nicht geringen – Preis zu bezahlen.“

Woher weiß Berger, dass Steinbrück einen „Preis“ bezahlt bekommt? Und wenn er es weiß, warum nennt er den Preis nicht? Und wenn er nichts dergleichen weiß, weshalb hält er nicht einfach sein schmieriges Maul? Hat die Kritik an Käuflichkeit & Schamlosigkeit nicht Zeit, bis zumindest Anhaltspunkte dafür vorliegen?

Aber Berger schreckt auch nicht davor zurück, wahrheitswidrig so zu tun, als könne er Gedanken lesen und unterstellt der ganzen Mannschaft schon mal vorneweg Korrumpierbarkeit:

Setzt Dich stets für die Interessen von Milliardären und Oligarchen ein und man wird es dir später einmal großzügig vergelten. Geld stinkt nicht. Etwas anders können die genannten Politveteranen kaum gedacht haben, als sie dieses Angebot annahmen.“

Nein, natürlich nicht. Teile der Bloggerei sind mittlerweile zum Weimarer Schulterschluss zwischen Rechts & Links regrediert. Aus Parlaments- und Politikkritik ist längst nur noch die Verleumdung von Demokratie & Rechtsstaat insgesamt geworden. An seine Stelle soll die eigene Rechthaberei treten (– vor der uns Gott bewahre).

Und so soll offensichtlich auch hier nicht recherchiert & kritisiert werden. Es soll Propaganda gegen die derzeitige politisch-wirtschaftliche Führung in Kiew & gegen deren Unterstützer gemacht werden. Und dazu ist inzwischen offenbar auch bei den heruntergekommenen Nachdenkseiten jedes Mittel recht. Zum Beispiel auch die die Grenze zur Lüge überschreitende Weglassung/ Zurechtstutzung von Informationen.

So wird z.B. Rupert Scholz solchermaßen vorgestellt:

Der Verfassungsprozess wird von Rupert Scholz, dem ehemaligen deutschen Verteidigungsminister und sicherheitspolitischen Falken, geleitet.“

Weggelassen wird dies, obwohl bei Wikipedia leicht & kostenfrei abzukupfern:

Nach dem Abitur 1957 studierte Scholz Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er beendete sein Studium 1961 mit dem ersten und 1967 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen. 1966 erfolgte seine Promotion zum Dr. jur. in München mit der Arbeit Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen, 1971 dann ebenfalls in München die Habilitation mit der Arbeit Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem. 1972 nahm er dann den Ruf der Freien Universität Berlin als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an. 1978 folgte er dann dem Ruf der Universität München auf den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre und Finanzrecht.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Rupert_Scholz

Dass Scholz zumindest theoretisch von seiner Ausbildung her für den Job qualifiziert ist, wird so offenbar bewusst unterschlagen. Und stattdessen wird insinuiert, er sei ja wohl ein potentieller Kriegstreiber und deswegen ausgewählt worden.

Und die Schlussfolgerung stand vermutlich ohnehin bereits fest, bevor der Herr mit dem Schreiben begann:

Was wir hier erleben ist Feudalismus in Reinkultur. Nicht das gewählte Parlament, sondern privat finanzierte Agenturen bestimmen die Eckpunkte. Und jede Wette – wenn die Papiere der „Agentur zur Modernisierung der Ukraine“ erst einmal vorliegen, werden die EU und der IWF schon darauf drängen, dass sie auch umgesetzt werden. Über die Zukunft der Ukraine wird nicht nur Kiew oder in Brüssel, sondern auch in Wien entschieden.“

Zunächst einmal ist das ja nichts neues und auch nichts, was in der Ukraine zum ersten Mal passieren könnte. Es ist die übliche Post-Demokratisierung, die wir ja seit Jahren vielerorts sehen. Und für die Ukraine könnte das ironischerweise vielleicht sogar die bessere Alternative zur blanken Oligarchenherrschaft oder einer offenen Machtübernahme durch die Faschisten (oder Putin) sein. Ich weiß es nicht.

Außerdem haben demokratische Parlamente als Volksvertretungen – wenn ich mich nicht irre – noch nie über die nötige Fachkompetenz von Experten verfügt, um alle zentralen Eckpunkte der Politik aus sich selbst heraus zu finden & zu setzen. Volksvertretung braucht, wenn sie denn tatsächlich das Volk vertritt, immer anderweitigen Sachverstand. Dem obliegt es, fachlich begründete Optionen vorzuschlagen. Die Parlamente haben darüber dann so zu entscheiden, dass das Wohl der Mehrheit gesichert wird. Ob solcher Sachverstand richtigerweise ausgerechnet von Lobyyisten eingeholt wird, darf allerdings bezweifelt werden.

Die anderen Teilnehmer am Prozess der politischen Willensbildung können/ sollen/ müssen jedenfalls daran mitarbeiten und den Prozess informativ, kritisch und notfalls juristisch begleiten bzw. stoppen. Und für mich gehören dazu auch die Medien & die Bürger selbst. Und ich sehe nicht, weshalb dies im Fall der hier thematisierten Agentur prinzipiell ausgeschlossen sein sollte.

Von den Zuständen in Putins Russland mal ganz zu schweigen.

Wer, wie Berger, einfach blind gegen alles polemisiert, was vom Kreml nicht abgesegnet ist und dabei noch nicht einmal auf die Idee kommt, die nahe liegendste Frage zu stellen „Wo ist denn in der Agentur die Stimme der ukrainischen Bürger?“, dem geht es mitnichten um Demokratie & Rechtsstaat. Dem geht es nur darum, dass andere, ihm genehmere Oligarchen das Sagen bekommen. Würde ich jetzt mal schnell & polemisch dagegen setzen.

Ergänzung 04.03.2015, 23:37 Uhr

Anständiger Journalismus arbeitet mindestens in etwa so:

http://www.wiwo.de/politik/europa/peer-steinbrueck-wir-brauchen-russland-zur-stabilisierung-der-ukraine/11455154-all.html

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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