Margaret Hilda Thatcher, Baroness Thatcher of Kesteven, starb Montag morgen im Alter von 87 Jahren. Wie ihr ehemaliger neo-liberaler Mit-Kämpfer Reagan litt sie in ihren letzten Jahren an Demenz. Dass dieser Tod fast mit dem Tod des letzten Sozialdemokraten in der SPD, Ottmar Schreiner, zusammenfällt, ist eine makabere Ironie des Schicksals – und dürfte bewirken, dass der Missionarin des Sozialdarwinismus mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird als dessen erbittertem Gegner. Wie gehabt eben.
Meine früheste Erinnerung an Thatcher ist der Slogan "Thatcher, Thatcher, Milk Snatcher" (Schul-Milch-Diebin), der seit 1970 der neuen Erziehungsministerin unter Edward Heath angesichts ihrer Sparvorschläge im Schulbereich entgegen schallte. Ich studierte zwar Anfang der 70er Jahre in Nottingham, interessierte mich aber für exotischere Dinge als Politik, so dass ich von der britischen Innen-Politik sehr wenig mitbekam. Unter linken Studenten jedenfalls war Thatcher bereits damals unübersehbar Hass-Objekt Nummer 1. Soviel bekam auch ich mit.
Ihre endgültige Mission fand Thatcher aber wohl in einem anderen Bereich: im ersten großen Bergarbeiterstreik seit 1926, der Anfang 1972 auch mich mit Strom-Abschaltungen und Referate-Tippen bei Kerzenlicht, mit Handschuhen und im Schlafsack traf.
Thatcher selbst dürfte mehr darunter gelitten haben, dass sich die Bergarbeiter damals durchsetzten und mit ihrem nächsten Streik 1974 zum Sturz der konservativen Regierung beitrugen.
Die eiserne Lady trat danach gegen den „Schwächling“ Heath an und gewann in einer Kampfabstimmung den Parteivorsitz bei den Konservativen. Aus dieser Position heraus gewann sie die Wahlen 1979 gegen den Labour-Premier Callaghan. Und bekam ihre Chance auf „Rache“ an den Gewerkschaften, die sie radikal „reformierte“.
Es war bereits im Vorfeld klar, dass dies eine Schlüsselwahl sein würde und so habe ich sie ausführlich für Unterrichtszwecke dokumentiert. Leider verhindern meine technische Unzulänglichkeit und Unsicherheiten des Copyright, dass ich die Dokumente hier einstelle, aus denen z.B. hervorgeht, dass zumindest die veröffentlichte Meinung die zahlreichen Streiks als Gewerkschaftsterror empfand, der die britische Wirtschaft immer weiter in den Abgrund trieb. Thatchers Sicht der Lage erschließt sich u.a. aus einer Rede vor dem britischen Unterhaus. Audio hier. Auch Reiner Luyken hat auf ZEIT Online die damaligen Zustände wohl zutreffend beschrieben.
Unbegründet war dies nicht, denn durch die eher kleinteilige, nicht an Branchen, sondern an Jobs orientierte Organisation der britischen Gewerkschaften gelang es kleinen Splittergruppen immer wieder, ganze Firmen lahm zu legen und/ oder durch militantes „Picketting“ durch "Flying Picketts" (mobilen Streikposten) auch nicht beteiligte Firmen an der Arbeit zu hindern. Hinzu kam u.a. die Praxis der sogenannten "Closed Shops" (Einstellungsmonopol für Gewerkschaftsmitglieder), die für kapitalistisches Wirtschaften nicht gerade förderlich waren.
Hinzu kam das nach wie vor ungelöste Nordirlandproblem und der ungebrochene Terror vor allem des radikalen Flügels der IRA (Provos) zwischen 1970 und 1996.
Gegen all dies also trat Thatcher 1979 an und machte damit wohl auch schon mal einen Punkt bei vielen Wählern. Hinzu kam eine neue Art von Wahlkampftaktik*), die neben dem bis dahin üblichen Kandidaten-Wahlkampf von Tür zu Tür ("Canvassing") sehr stark auf die Parteiführerin setzte. Die aber hatte einige Handicaps. So wurde z.B. ihre Stimme immer dann schrill, wenn sie aggressiv wurde. Und in einem Schlüsselwahlkampf gab es dafür zahlreiche Anlässe.
Der Observer warf damals einen Blick hinter die Kulissen und fand heraus, wie systematisch Journalisten ausgesiebt wurden, auf die Thatcher aggressiv reagierte. Betreut vom Fernsehproduzenten Gordon Reece unterzog sich Thatcher außerdem Summübungen u.a., um eine tiefere Tonlage zu stabilisieren, änderte ihre Frisur und ihre Halsketten, und versteckte ihre Hände. Ebenso wurden ihre hausfraulichen Fähigkeiten thematisiert:
„Never before had a British party leader been so packaged. The British electorate bought the package. Margaret Thatcher, housewife superstar, became prime minister on 4 May 1979. Reece would be there whenever she needed him, which in those early days was often.“
[Der verlinkte Beitrag von Germaine Greer im Guardian, vom 11 April 2009 ist nicht das Original aus dem Observer, aber naturgemäß höchst lesenswert.]
So kam also eine seltsame Kombination aus erster westlicher Regierungschefin, neoliberaler Sozialdarwinistin, Gewerkschaftsbekämpferin und reaktionärer Nationalistin an die Macht und bestimmte ein Jahrzehnt lang die Richtlinien der Politik im UK. Zusammen mit Reagan stand sie darüber hinaus an der Wiege der Weltfinanzkrise und bestimmt so bis heute das Schicksal der davon Betroffenen.
Markenzeichen ihrer Politik war der Beginn der "Privatisierungen"im UK, die z.B. bei der von ihrem Nachfolger John Major privatisierten Bahn **) teilweise katastrophale Auswirkungen hatte, die völlig überzogene, gouvernantenhafte Entmachtung der Gewerkschaften ***), die Wiederbelebung des Jingoismus im Falkland-Krieg und die Förderung (Deregulierung) des britischen Finanzkapitalismus zu Lasten der britischen Industrie, die von allerdings erst in ihrer Nachfolge von Tony Blair „New Labour“ und „Cool Britannia“ – und mit Hilfe des Kokain (?) - zur veritablen Wirtschaft-„Bombe“ weiterentwickelt wurde.
Man mag also zu Recht fragen, ob Thatcher das, was in ihrer Ära und danach passierte auch alles selbst umgesetzt hätte. In ihre Ideologie passt es allemal. Insofern scheint mir die Überschrift zu Reiner Luykens Würdigung in der ZEIT „Thatcher ist nicht an allem schuld“ nicht ganz zutreffend. Korrekter sah es wohl Thatcher selbst, als sie "New Labour" als ihren größten Erfolg bezeichnete. Eindrucksvoll bestätigt wird Luykens Sicht allerdings durch die Tatsache, dass die konservativ-liberale Regierung gerade mal wieder dazu ansetzt, den, Klassenkampf von oben zu eskalieren, während der Volkszorn sich gegen eine Tote austobt.
Auch in Sachen Großprojekt war Thatcher übrigens aktiv. Zusammen mit Frankreichs Mitterand startete sie den Bau des seit Ewigkeiten diskutierten "Channel Tunnel" – den dann allerdings wiederum erst ihr politischer Enkel Tony Blair eröffnen durfte.
Während die Bedeutung des deregulierten Finanzkapitalismus für die britische Wirtschaft öffentlich wahrgenommen wird, scheint mir die Rolle des Nordseeöls für die tatsächlichen oder scheinbaren Erfolge der Thatcherschen Wirtschaftspolitik eher wenig beleuchtet.
Wie genau sich das UK unter Thatcher verändert hat, habe ich nicht mehr vor Ort nachvollzogen. Kurze Besuche, hauptsächlich in den Süden und Süd Wales hinterließen den subjektiven Eindruck, England sei insgesamt „renovierter“, bürgerlicher und „europäischer“ geworden. Aber der touristische Blick geht nicht tief genug. Insofern kann ich hier keine ausgewogene Würdigung als Blogger geben. Eine umfängliche und wohl auch positive, sprich: neoliberale, Würdigung dürfte sich hier finden.
Aus einer linken Perspektive blickt Sunder Katwala in einem Essay auf Thatchers Erbe, der erstmals 2009 erschien, jetzt aber, anlässlich Thatchers Tod, wiederveröffentlicht wurde.
Aus der medialen Rezeption kommen mir selbst Begriffe wie „divided“ oder „the great divide“ ****) in den Sinn, die bezeichnenderweise auch jetzt in Berichten über die öffentlichen Reaktionen auf Thatchers Tod wieder auftauchen. Gespalten scheint das Land also in Arm und Reich, „Nord“ und „Süd“ - und in der Einstellung zur Person Thatcher und ihrer Politik.
Die Ermordung des kleinen James Bulger durch zwei Zehnjährige 1993 löste eine intensive Debatte auch über die sozialen Zustände im UK aus, in der auch die Frage aufgeworfen wurde, was der Thatcherismus aus der Gesellschaft und dem sozialen „Kitt“ gemacht habe.
Seit Geraint Andersons Buch Cityboy schließen, haben wir auch einen ungefähren Eindruck, wie Thatchers Wunschkinder ticken und welche Perversionen sie pflegen.*****)
Ausführlicher habe ich mich mit der Ära Thatcher und den Folgen angesichts der London Riots 2011 beschäftigt:
London Riots 2011: Die Ära Thatcher (1)
London Riots 2011: Die Ära Thatcher (2)
London Riots 2011: Großbritanniens gespaltene Gesellschaft
London Riots 2011: Soziale Unruhen in Großbritannien
London Riots 2011: Links zu "Soziale Unruhen in Großbritannien"
Soweit mein schneller und unvorbereiteter Ritt über den politischen Bodensee. Den Rest überlasse ich gern den professionellen Medien.
________________________________________________________________________________
*) Wie der Wahlkampf „heute“ aussieht, wird hier beschrieben:
http://www.prodialog.org/downloads/studien/Campaigning_British_Style.pdf
**)
***)
http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=11973
http://www.gew.de/Deutsch-Britisches_Gewerkschaftsforum.html
http://www.historyandpolicy.org/papers/policy-paper-63.html
http://library.fes.de/fulltext/bueros/london/00944.htm
****)
http://www.nytimes.com/2013/04/09/opinion/thatchers-divided-isle.html?_r=0
http://www.economist.com/node/21562938
http://www.guardian.co.uk/uk/2007/oct/20/britishidentity.socialexclusion
http://www.thedailybeast.com/newsweek/2008/08/02/britain-s-great-divide.html
*****)
http://www.youtube.com/watch?v=oWjIdmNBBVA
Zusätzliches:
http://www.cicero.de/blog/goettinger-demokratie-forschung/2013-04-17/wir-wussten-wogegen-wir-standen
http://www.spiegel.de/thema/margaret_thatcher/
https://de.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher
http://www.guardian.co.uk/politics/datablog/2013/apr/08/britain-changed-margaret-thatcher-charts
http://www.bbc.co.uk/history/people/margaret_thatcher
http://www.guardian.co.uk/politics/blog/2013/apr/08/miliband-clegg-local-elections-cameron-madrid
http://www.economist.com/blogs/blighty/2013/04/margaret-thatcher-0
http://krugman.blogs.nytimes.com/2013/04/08/did-thatcher-turn-britain-around/?ref=opinion
http://www.focus.de/politik/ausland/tid-14135/margret-thatcher-wohlstand-auf-pump_aid_395594.html
http://www.newstatesman.com/books/2009/02/margaret-thatcher-british
http://www.margaretthatcher.org/speeches/
http://www.margaretthatcher.org/document/106689
...und den, der zu lange schreibt, bestraft....in diesem Fall Poor on Ruhr mit seinem persönlich gehaltenen Nachruf....;)
https://www.freitag.de/autoren/poor-on-ruhr/die-eiserne-lady-ist-tot
Ergänzend – insbesondere auch zum Thema Honkong - auch dies:
https://www.freitag.de/autoren/justrecently/margaret-thatcher-1925-2013
Jörg Augsburg beleuchtet das Verhältnis der britischen Musikszene zur Eisernen Lady:
https://www.freitag.de/autoren/joerg-augsburg/ding-dong-the-witch-is-dead
Dazu auch Jan Jasper Kosok/ Morrissey:
https://www.freitag.de/autoren/jan-jasper-kosok/schrecken-ohne-einen-funken-menschlichkeit
Lukasz Szopa schließlich unterzieht die Ära Thatcher noch einem (Wirtschafts-)Zahlencheck:
https://www.freitag.de/autoren/lukasz-szopa/margaret-thatcher-in-zahlen#1365618310726107
Zugabe (Update):
https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/bye-bye-cool-britannia-aus-gegebenem-anlass
https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/zur-sozialistischen-familienpolitik-des-augusto-pinochet
https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/fremdgelesen-der-neoliberale-teufelskreis
Zuletzt ergänzt und überarbeitet am 17.04.2013, 16:10 Uhr.
Kommentare 42
Toll. So eine Menge an Fakten so schnell und so treffsicher zusammengetragen.
Danke für Deinen kritischen Nachruf, der mir auch einiges klarer gemacht hat.
Liebe Grüße
por
Danke für die schnelle Lektüre!
Ich wollte keinen bestrafen. ;O) Ich war mir meiner knappen Details durchaus bewusst. Deshgalb ist es ja eher so eine persönliche Geschichte geworden. Wer gute Informationen will ist bei Dir glänzend aufgehoben, ich denke dass meine persönlichen Aspekte ein brauchbares Koplement zu Deinem grossartigen Blog bilden. ;O)
Liebe Grüße
por
Ich denke auch, dass sich die Beiträge gut ergänzen....Aber die Spitze musste einfach sein...;)
@Gerne. Dein toller Blog hat ganz viele Leser verdient. Wenn ich an der Stelle der Redaktion wäre, würde ich ihn empfehlen, was ich hier im Kommentar im Übrigen auch so tue. ,o)
Liebe Grüße
por
@Seriousguy47
O.K. ,o)
@poor on ruhr
Berichtigung zu 18:02:
Komplement statt Koplement
(Ich hoffe, dass das nicht auch falschist.;))
Frau Thatcher's Wirken hat England verändert. Und dies in mancherlei Hinsicht: 1. im Denken über wirtschaftliche Rahmenbedingungen. 2. im Denken über die Wertigkeiten der Gewerkschaftsbewegung. 3. in der Umformung der Wirtschaftsstruktur vom ehemaligen Industrieland zum Finanzdienstleister.
Punkt 3 hatte die schlimmsten Folgen, wie Abbau der Solidargemeinschaft, beispielhaft sei hier nur die Krankenvorsorge erwähnt. Das englische Gesundheitswesen gilt heute als das kostengünstigste in Europa, ist aber auch besonders für Skandale und sehr lange Wartelisten auf Operationen bekannt.
Es wird im UK etliche geben, die ernsthaft um die "Eiserne Lady" trauern...die Mehrheit der englischen Bevölkerung wird das aber nicht sein. Dafür gibt es zu viele negative Nachwirkungen ihres politischen Handelns.
Anyway, Mrs Thatcher...rest in peace.
Margaret Thatcher war autoritär und durchsetzungsfähig
Zum Tode der ehemaligen britischen Premierministerin
(DLF-"Hintergrund")
Polen in den 80er Jahren war wohl eines der weniger Länder, wo Mrs Thatcher - inoffiziell natürlich - beliebt war. Nicht weil irgendjemand ihre Politik wirklich kannte. Der Grund war schlicht, dass kaum ein westlicher Politiker, nicht einmal Reagan oder Wojtyla, derart negativ in der offiziellen kommunistischen Propaganda und Nachrichten dargestellt wurde. Für die Bevölkerung war damit klar: Wenn DIE jemanden so angreifen - dann muss dieser jemand ganz toll sein. Quasi "auf unserer antikommunistischen Seite". Dass Thatcher mit Gewerkschaften kaum sanfter umging als Jaruzelski mit der Solidarnosc fiel keinem auf. Genauso war es mit dem Falkland-Krieg: je lauter und eindeutiger die offiziellen Nachrichtenkanäle für Argentinien waren - desto mehr war man für GB. Ähnlicher ahnungsloser Mechanismus wie bei Chavez, der von vielen gemocht wurde, nicht weil es so viele Venezuela-Kenner gab, sondern - je mehr die USA ihn verteufelten, desto mehr hielten viele Amerika-Kritiker zu ihm, ohne die Vor- und Nachteile seiner Regierung zu kennen...
Ich habe den herzlichen Antikommunismus von Thatcher aus Zeitgründen weggelassen. [Wollte noch einkaufen.]Die "Eiserne Lady" bekam sie ja dafür von den Sowjets verpasst:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/nachruf-zum-tod-von-margaret-thatcher-a-893145.html
Insofern passt die "inoffizielle" polnische Verehrung schon: Die Feinde meines Feindes ......
Ich fand übrigens die Einbeziehung von Chile als neoliberales Versuchskaninchen im anderen Beitrag gut. Wäre ich nicht darauf gekommen, scheint mir aber wichtig, da es an die politische Basis erinnert, auf der die neolibverale Wende beruht - auch wenn sie mit massiver "Freiheits"-PR bedudelt wird. Und Thatcher scheint ja - wie auch F.J. Strausss - gewisse Sympathien für Pinochet gehegt zu haben:
"We're also very much aware that it's you who brought democracy to Chile," Thatcher, 73, added."
http://www.latinamericanstudies.org/chile/thatcher.htm
Die Erwähnung Chiles ist auch insofern gerade angebracht, als aktuell ja dem Verdacht nachgegangen wird, der linke Dichter Pablo Neruda sei im Auftrag der damaligen Putschisten in einer Privatklinik ermordet (vergiftet) worden.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/2066895/
Da traf Neoliberalismus auf Postdemokratie, etwas, das wir später etwas schicker von Schröder und äußerlich moderater von Merkel bekamen, nachdem die Medien bereits unter Kohl einen deutschen Thatcherismus gefordert hatten, um die Bürger zur Räson zu bringen, sprich: um die Spaltung zwischen Arm und Reich zugunsten von Reich vorantreiben zu können, um damit wiederum das Kapital bei Laune zu halten, bzw. die Laune dort in Richtung Wachstumslust zu verbessern. Und in Bezug auf niedrige Löhne endlich mit den Chinesen mithalten zu können.....
Danke für den ausführlichen, faktenreichen und doch persönlichen Artikel auch von mir - gerade die frühen Jahre hatte ich gar nicht mehr so auf dem Schirm.
Zwei Anmerkungen - wie bei Reagan war die ideogische Orientierung die Chicago School / Milton Friedman, von dem sie sich später wieder ein wenig distanzierte. Und das Adam Smith Institut, auf das du für weiterführende Lektüre verlinkst, steht - wie der Name schon ahnen läßt -, auch in dieser rechtslibertären Tradition. Das sollte man vielleicht bei der Lektüre und vor allem der Einordnung von Thatchers "Leistungen" beachten.
Ich habe ja da eine ganz andere, linksliberale Perspektive. Mir spricht eher das aus dem Herzen. Ich bin durch den Anti-Thatcher-Kampf in den 80ern politisch geprägt worden - auch wenn ich erst eine Dekade später physisch britischen Boden betreten habe.
P.S. Hier noch mein Lieblingsartikel zum Thema öffentlcher Nahverkehr in GB nach der Privatisierung.
Die Einschätzung des Adam Smith Institutes teile ich. Deshalb habe ich es - ungelesen! - so quasi als Gegenpol zu meiner eigenen Position eingebracht. Ich habe das jetzt ein bisschen nachgebessert, damit das auch rüber kommt...;)
Danke für den Wikipedia-Link. Der ist ebenfalls hilfreich zur Einordnung. Eine gute Ergänzung also.
Danke auch für diesen Link. Werde den Artikel lesen.
Es ist überhaupt so eine Sache mit der Ära Thatcher. Durch die kritische Konzentration auf ihren Neoliberalismus gerieten da so viele andere Sachen aus dem Blickpunkt: Honkong, der Channel Tunnel, der Bildungssektor......Irgendwie hat zumindest bei mir die Freude über das Ende ihrer Ära alles andere vollends in den Hintergrund treten lassen....Gerade in Hinblick auf S21 sollte ich mich vielleicht auch mal mit diesem "Chunnel"-Projekt beschäftigen....
Der taz-korrespondent für England und Irland, Ralf Sotschek, hat in der taz ebenfalls einen Nachruf auf Margaret Thatcher geschrieben, Titel "Englands bester Mann ist tot"
Nachzulesen ist er hier: http://www.taz.de/Kommentar-Magaret-Thatcher-/!114199/
Was sie im Bildungssektor gemacht hat weiß ich nicht, außer dass sie als Erziehungsministerin die Schulmilch abgeschafft hat - aber deshallb und wegen ihrer generellen politischen Haltung erwarte ich da nichts gutes. Lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen.
Was war an Hongkong positiv? Soweit ich das verstanden hab hatte sie gegen Deng Xiaoping einfach keine Chance. Und auch der Channel Tunnel ist ja nun erstmal kein großes soziales Projekt, sondern passt eher in eine Reihe mit S21 oder so.
Ich habe da ein anderes Verständnis von "Ausgewogenheit". Würdest du bei einer kritischen Würdigung von Mao Zedong auch eine maoistische Seite als Gegenpol zur weiteren Information angeben? Für mich ist die Chicago School nicht weniger extremistisch als Maoismus oder sonstige totalitäre Strömungen. Irgendwer prägte mal das treffende Wort "Profitextremismus" für sowas.
Ich habe Honkong, die Bildungspolitik und den Chunnel nur der Vollständigkeit halber erwähnt, nicht bewertet. Könnte ich auch gar nicht.
Da wissen Sie mehr als ich.
Ja, ich meine nur, wenn es um "ausgewogene" Würdigung gehen soll, muss man dann doch auch die positiven "Errungenschaften" Thatchers finden. Selbst die Pro-Thatcher FAZ kann sich nur an den Kritiker/innen Thatchers abarbeiten - auf deren Kritik sie aber auch gar nicht eingeht, außer dass wohl Labour schon vor Thatcher die Milch in den höheren Schulen abgeschafft hätte, und das sowieso ein Relikt der Nachkriegszeit gewesen wäre (was auch diskutabel ist). Damit will sie die gesamte Kritik der Linken als haltlos abtun.
Als einzige positive "Leistung" nennt sie implizit, dass Thatcher ja das angeblich festgefahrene Gutmenschenestablishment zerschlagen hat - auch eine sehr subjektive Einschätzung. Andere sagen, sie sei einfach ungebildet gewesen und hätte unbekümmert, starrsinnig und beratungsresistent ihre wirtschaftsliberale Politik durchgesetzt, ohne Rücksicht auf Verluste.
Verstehen Sie das bitte auch nicht fasch als Kritik an Ihnen und Ihrem Artikel - es geht mir darum, dass die Leute Einseitigkeit sehen und "Ausgewogenheit" wollen - nur dann muss man auch ein paar gute Argumente für Thatchers positives Wirken haben.
Ich habe nicht den Eindruck, dass ich mich unkritisch über die britischen Gewerkschaften geäußert hätte. Der Kommentar ist hierzu natürlich eine willkommene Ergänzung.
Mein Kritikpunkt hier ist die grundsätzliche Ablehnung Thatchers von allem Linken, Gewerkschaften inklusive.
Meine Hauptkritik aber betrifft ihren blind ideologischen neoliberalen Missionskurs - zusammen mit Reagan, der dann von Blair und Schröder kopiert bzw. weitergeführt wurde.
Zweck dieses Beitrages ist auch keine "journalistische" Würdigung Thatchers, sondern eine subjektive Ergänzung solcher Würdigungen. Darauf verweise ich ja am Ende meines Beitrages.
Nicht jeder Journalist hierzulande war während des Bergarbeiterstreiks 1972 in den Midlands. Und nicht jeder hat den Wahlkampf während des "Winter of Discontent" 1979 so intensiv verfolgt wie ich. Von daher denke ich, dass ich schon ein bisschen authentisch und ergänzend dazu schreiben kann. Das war der Zweck des Beitrags.
Auf eine umfängliche, vermutlich positive Würdigung der Ära Thatcher habe ich auch verlinkt. Die ist allerdings auf englisch.
Eine umfassende Würdigung hatte ich aber nicht vor. Das wäre mir auch zu viel Arbeit - und hätte den Umfang eines Buches, wollte man es erschöpfend betreiben.
So wie ich das erinnere, wurde Thatchers harte Zerschlagung des "Sozialdemokratismus" von den Herrschenden und ihrer Meinung auch bei uns bejubelt. Bei uns ging es gegen die Soziale Marktwirtschaft, in GB gegen den Wohlfartsstaat, staatliche/ verstaatlichte "Industrien" inklusive.
Ich erinnere mich an einen Essay eines Jungwissenschaftlers in der ZEIT in den 90er Jahren, wo solches auch für D gefordert wurde. Ich habe darauf umfänglich geantwortet, wovon dann auch die Hälfte als Leserbrief abgedruckt wurde. Mein Tenor: Thatcher hat im UK Dinge "nachzuholen" versucht, die bei uns bereits Hitler und die alliierten Bomben besorgt hatten - weshalb wir keinen Thatcherismus brauchten.
Im UK galt es, die scharfen und unversöhnlichen Klassenkonflikte zu entschärfen. Wir hatten bereits Konsensdemokratie, Branchengewerkschaften und Mitbestimmung.
Im UK galt es, die Wirtschaft zu modernisieren. Das hatten wir bereits erstmalig beim "Wiederaufbau" besorgt.
Außerdem hatten wir weniger Verstaatlichung im Wirtschafts- und Sozialbereich - wo wir ja eine Art selbstverwalteter (?) "Versicherungssysteme" haben. Dahinter steckt das "Subsidiaritätsprinzip", in dem der Staat quasi nur die Rolle eines sozialen Lückenbüßers haben soll, wenn alle vorgelagerten Systeme versagen. Die Verantwortung liegt also zuerst beim Individuum, dann bei Familie/ Verwandtschaft, dann bei den Sozialverbänden......usw.
Im Gegensatz dazu stehen extremere Auffassungen von Wohlfahrtsstaat, wie sie z.B. hinter dem steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitssystem NHS im UK stehen.
Gegen diese Art von Wohlfahrtsstaat wollte Thatcher radikal die individuelle Verantwortung stellen. Wir bekamen später die deutlich mildere Variante unter Schröder. Und im UK versuchte sich Blair an einer milderen Vollendung des Thatchersimus.
Man muss sich also schon klar machen, dass es im UK in den 70ern eine gewisse Abgehobenheit, Behäbigkeit und Verantwortungslosigkeit gab, während das Land unübersehbar immer tiefer in eine wirtschaftliche Krise abglitt.
Ich mach das mal am Beispiel einer meiner Vermieterinnen deutlich. Diese ältere Dame hauste alleine in einem Haus, in dem, so weit ich das mitbekam alle Zimmer außer einem ziemlich feucht, schimmelig, kalt und heruntergekommen waren. Die Küche war eine einzige Schmuddelhöhle, Kochgeschirr inklusive.
Die Landlady selbst wohnte in einem Zimmer mit viel Samt und allerlei "Kostbarkeiten", wahrte Stil und erwartete eine Miete, die wiederum ich als empörend empfand. Im Nachhinein denke ich: die brauchte dringendst das Geld. Damals zog ich schleunigst aus und suchte weiter.
In gewisser Weise scheint mir das beispielhaft für die Situation damals im Lande insgesamt. Irgendwer musste da eine Wende schaffen, sonst wäre eine Katastrophe unvermeidlich gewesen. Meine ich in Übereinstimmung mit dem damaligen Tenor in den Medien.
Und genau da würde jetzt die positive Wirkung Thatchers gepriesen werden, würde man den Klartext nicht scheuen: Thatcher hat mit Reagan (und Pinochet) gegen diese zunehmend unerträglichere wirtschaftliche Situation die neoliberale Verschärfung des Kapitalismus gegen den "Sozialdemokratismus" der Nachkriegszeit durchgesetztt, weil sie überzeugt war, solche "Befreiung" /"Entfesselung" die wirtschaftliche Lage zum Besseren wenden zu können.
Dass unsereins darin wenig Positives sehen will, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Und für die Beantwortung der Frage, ob das insgesamt gut oder schlecht für das UK war, fühle ich mich nicht hinreichend informiert.
Zumindest für einige war es wohl gut. Und wohl auch für den "Süden" und die besseren Gegenden von London und Umgebung....Kennen wir ja bei uns auch.....
Hinweis: Der Beitrag wurde ab dem Greer-Zitat überarbeitet und ergänzt.
Ich weiß nicht wo sie politisch stehen, aber sie übernehmen genau die neoliberalen Argumentationen für "Notwendigeiten". Bevor ich darauf näher eingehe, hier mal eine Zusammenfassung aus einem Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung, das ich gerade las:
Großbritannien verfolgt seit Ende der 70er Jahre die Strategie der Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Gütermärkte. Der Kernvorwurf der Protagonisten dieses Ansatzes lautete, daß durch die Gewerkschaftsmacht Insider des Beschäftigungssystems auf Kosten der Outsider geschützt und begünstigt würden. Die Deregulierung am Arbeitsmarkt führte 1. zu einer Absenkung der Löhne, 2. zu einer Stärkung der Dispositionsfreiheit der Arbeitgeber bei Kündigungsschutz, Arbeitszeit und Arbeitsentgelten, 3. zur Erhöhung der Konfliktschwellen bei Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichen Betätigungsrechten, 4. zur Absenkung des Schutzniveaus der Arbeitslosenversicherung und 5. zu Sanktionen bei mangelnder Verfügbarkeit für Arbeitsvermittlung bzw. Fördermaßnahmen.
Nach Darstellung des britischen Vertreters sind die Resultate dieser Strategie bislang nicht überzeugend, da die Beschäftigung bisher nicht wirklich expandiert sei, sondern lediglich zeitnäher auf die Wirtschaftsentwicklung reagiert habe. Dieses Ergebnis hänge allerdings möglicherweise auch damit zusammen, daß die einzelnen Deregulierungsmaßnahmen in vollem Umfang erst seit kurzer Zeit in Kraft sind. Hingegen seien die negativen sozialen Folgen für die Arbeitnehmerschaft bereits jetzt unübersehbar. Neben den direkten, erwarteten Folgen sei es zu einer Zunahme der Mehrfachbeschäftigungen, zu einer deutlichen Abnahme der Bildungsaktivitäten und zu einer Verlagerung von der offenen Arbeitslosigkeit in die Stille Reserve gekommen. Auch sei die Balance zwischen Insidern und Outsidern am Arbeitsmarkt praktisch unverändert geblieben.
Der Beweis für die These, daß wir die politische Option haben zwischen einer deregulierten Wirtschaft, die zwar ungerecht sei, die aber zu mehr Beschäftigung führe und einer regulierten, gerechteren Wirtschaft, die mit weniger Beschäftigung einhergehe, stehe daher noch aus.
Also zunächst mal: auch wenn man links steht, kann man doch versuchen, nachzuvollziehen und zu beschreiben, was Andersgläubige im Sinn haben und weshalb sie tun, was sie tun. Das impliziert ja nicht automatisch auch eine Zustimmung.
Und was das zitierte Papier betrifft: die Labour-Regierung verlor gegen Thatcher, weil die Mehrheit überzeugt war, dass Labour gegen die Krise und die destruktive Gewerkschaftspolitik nichts auszurichten vermochte. Und Thatcher wurde dreimal gewählt.
Das ist nun mal so und daran ändern auch tausend hinterher geschriebene Papiere nichts. Es war einfach so. Und deshalb kann ich es auch nur so darstellen.
Es bestand die Notwendigkeit, etwas zu tun. Thatcher bekam den Wählerauftrag dazu, der im UK ja wegen des Wahlrechts eindeutiger ist als bei uns. Und Thatcher hatte nur Neoliberalismus drauf. Und das war - zumindest theoretisch - allen bekannt.
Das ist das eine. Das andere sind die Resultate, zu denen mir die nötigen Informationen fehlen. Oben habe ich ergänzend den Krugman (NYT) verlinkt, der auch nicht so recht weiß, wie er Thatcher bewerten soll. Und wer bin ich, dass ich dem widersprechen würde...?
http://krugman.blogs.nytimes.com/2013/04/08/did-thatcher-turn-britain-around/?ref=opinion
Aber: Genau deshalb begrüße ich jeden kritischen und ergänzenden Kommentar zum Beitrag. Also auch das zitierte Papier. Die Nachdenkseiten werden wohl auch noch was Substantielles bieten. Ich kann es aus den genannten Gründen einfach nicht, ohne gegen meine eigenen Mindeststandards zu verstoßen. (Habe heute übrigens selbst den ganzen Tag vergeblich nach etwas Entsprechendem gesucht. Insofern bin ich für das Zitat durchaus dankbar.)
Aber es ist nur ein kritischer Nachruf, keine Mission....;)
Naja, mir geht es nicht um „Glauben“ sondern um Fakten. In der Bewertung der Fakten spielt dann die Haltung eine Rolle, und das führt gerade bei Thatcher zu der extrem unterschiedlichen Wertung – und da kommt wieder das Linkssein ins Spiel: Linkssein bedeutet für mich, für eine solidarische und menschliche Gesellschaft zu stehen. Und unter dem Aspekt kann man Thatchers Politk nur als negativ bewerten, egal welche Probleme es auch tatsächlich zu lösen gab. Es hätte auch andere Möglichkeiten gegeben, die anzugehen, deutlich sozialere und menschlichere – deshalb wundert mich, dass Sie in ihrem ersten Kommentar die neoliberale Wertung so dargestellt haben, als ob diese Maßnahmen zwangsläufig so getroffen werden mussten.
Das Beispiel mit Ihrer Vermieterin verstehe ich in dem Kontext jetzt gar nicht - weder als Beispiel für "Abgehobenheit, Behäbigkeit und Verantwortungslosigkeit", noch was sich in der Beziehung geändert haben sollte unter Thatcher und warum.
Ich habe Mitte der 90er in London gewohnt - unter recht vergleichbaren Bedingungen. Außer dass es eine Sozialwohnung war, in der meine Vermieterin illegal zwei von drei Zimmern (ihr Sohn war da wohl noch gemeldet) vermiete. Ich hatte Glück, dass die - ohnehin schon happigen - Preise erst während meines Aufenthalts dort massiv stiegen (sie ist einfach nach dem Durchschnitt gegangen) und sie mich mochte und die Miete erst hochsetzte, als ich dann zurückging.
Und bei Bausubstanz und auch Hygiene herrschen in England tendentiell eben andere Standards als in Deutschland.
Gern gelesen! Danke auch für die ausführlichen Verweise.
Nochmals der Link (hoffentlich funktionierend):
http://krohde.wordpress.com/article/freie-marktwirtschaft-und-okologie-xk923bc3gp4-27/
Nein, ich höre die Stones nicht. Ich höre ausschließlich "Klassik". Und die Stones habe ich, im Unterschied zu den Beatles, nie gemocht. Joschka Fischer auch nicht. Wie sich am Ende zeigte: aus gutem Grund. Nichts ekelt mich da mehr, als diese heuchlersiche Art, Revolutionsrhetorik zu benutzen, um sich mit seinen Ellenbogen an die Fleischtöpfe des Kapitals hochzuboxen.
Dafür bin ich zu "katholisch" sozialisiert. Ich halte es also mehr mit den asketischen "Heiligen", die das selber leben, was sie predigen - was nun wiederum auch nicht typisch für die Mehrheits-Katholen ist....
Je weiter sich diese Debatte um Thatcher entwickelt, desto mehr wird mir bewußt, dass mein spontaner Versuch, Thatcher von ihren politischen Anfängen und dem damaligen gesellschaftlichen Umfeld her zu sehen, gar nicht so dumm war.
Da scheint es doch erhebliche Defizite zu geben. Der Hass scheint vorwiegend von denen zu kommen, die später geboren wurden - beginnend offenbar bereits mit Morrissey - und diese Anfänge, bzw. wie diese von der Mehrheit damals gesehen wurden, nicht mehr kennen. Wenn man aber den damaligen Zustand des moderierten politischen Verwaltens gesellschaftlichen Verfalls nicht kennt, der von radikalen roten Gewerkschaftern und der nordirischen IRA zunehmend extremer aufgemischt wurde, kann der folgenden politischen Entwicklung nicht gerecht werden, die leider in die allseits bekannte Richtung ging.
Ich hau da jetzt mal ganz frech als Kronzeugen den Chefsvolkswirt der Berenberg Bank (Welt Online) rein, zu dem allerdings der obige Bezugs-Kommentar unbedingt dazu gelesen werden muss. Persönlich wäre mir allerdings Sebastian Broder (Cicero) sympathischer. Den Kaschmer-Blick liefert Alan Posener (Welt Online) und Popkontext ( 10.04.2013 | 00:11) hat auf eine interessante subjektive Einschätzung von Ian Jack (The Guardian) verlinkt.
Es sind unterschiedliche Einschätzungen, die aber gemeinsame Kernpunkte aufweisen. Ich habe ebenfalls versucht, solche Kernpunkte zu benennen, mangels gefühlter Kompetenz aber nicht selbst allzu sehr darauf einzugehen. Dafür gibt es die Links und den professionellen Journalismus, der andere Möglichkeiten hat als ich.
Vor allem aber habe ich ein historisches Handicap, das mir im Laufe dieser Debatte ebenfalls immer bewußter geworden ist: Der Thatcherismus war nie mein Thema. Und dafür gibt es verschiedene Gründe.
So habe ich zwar die gesellschaftlichen Zustände, die ihn möglich machten, 1971/72 hautnah im Auge des Sturmes erlebt, aber nicht weiter politisch analysiert. Nach meiner Rückkehr hatte ich von 68 im besonderen und der Politik im Allgemeinen die Nase so voll, dass ich meine Studienfächer wechselte und ein alternatives Berufziel "außerhalb" des gesellschaftlichen Mainstream versuchte (zeitweiser "Ausstieg").
Als dies nicht klappte und ich schließlich zum alten Weg zurückkehrte, war just Wahlkampf im UK (1979), ich hatte gerade den Observer und Time abonniert und verfolgte die Sache intensiv, aber aus der Ferne und über die Medien.
Natürlich habe ich dann schon aus beruflichen Erfordernissen die Entwicklung weiter verfolgt. Aber das war eben nicht diese emotionale Einbezogenheit von 1971/72 und wurde danach im Laufe der Jahre immer nebulöser und vager. Und auf dieser Basis wollte ich hier nicht dazu schreiben.
Nottingham war damals auch in anderer Hinsicht anders gewesen. Hier war ich sozusagen dem "Proletariat" am nächsten, hatte also genau dem Blickwinkel, der die andere Seite des Thacherismus hautnah wahrnehmen kann. Alles Spätere war medial vermittelt (also bereits neoliberal verseucht) oder eben aus der Erfahrung des bürgerlichen Südens gespeist, der von Thatcher profitierte. Dort jobte ich noch einige Male, bevor ich in den Beruf hier ging.
Nach den Brixton Riots machte ich dann so Mitte der 80er eine kurze Erkundungstour zu den Themen unseres neuen Englischbuches, wo ich aber selbst bei einem sehr kurzen Aufenthalt in Brixton doch ziemlich schnell zu spüren bekam, dass ich als Weißer gar nicht, als deutscher Lehrer so gerade mal geduldet war.
Schließlich kam ich nach dem Mauerfall via Schulaustausch wieder nach Nottingham, wo ich aber eher positive Veränderungen wahrnahm und natürlich damit beschäftigt war, Fragen zu Wiedervereinigung und befürchtetem neuen deutschen Imperialismus zu beantworten.
Also sehe ich meine Funktion unter den Beiträgern hier einfach darin, auf die genannten Anfänge zu insistieren. Das ist sozusagen meine naheliegende Marktlücke. Andere Ansprüche habe ich nicht. Ich sehe das hier ohnehin als Teamarbeit und nicht als Ort, wo ich mich selbst in meiner intellektuellen Größe selbst produzieren muss (-:).
Ich versuche also nur, mich an meine Informations-Grenzen zu halten. Die Absicht, Thatcher zu beschönigen habe ich nicht.
Wie sehr zu allem bislang Gesagten auch die Beschäftigung mit S21 mein Gedächtnis verödet hat, zeigt sich daran, dass ich nicht einmal mehr das zusammenbrachte, was ich hier an anderer Stelle bereits geschrieben hatte. Schlimmer noch: als ich diesen Beitrag schrieb, suchte ich es und habe es nicht mehr gefunden......
https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/london-riots-2011-soziale-unruhen-in-grossbritannien
https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/london-riots-2011-grossbritanniens-gespaltene-gesellschaft
Das Beispiel meiner damligen Vermieterin soll als Bild für die damalige englische Gesellschaft stehen, die - in meiner Wahrnehmung, und darum geht es ja hier - noch stark in ihrer samtschweren "glorreichen" Geschichte lebte und nicht bemerken wollte, wie links und rechts alles zusammenbrach.....
Vor lauter Absaufen in all den langsam ins Gedächtnis zurückkehrenden Details habe ich glatt eines vergessen: irgendwann in den 80ern wurde ich zu einer Zwangsfortbildung abkommandiert, in der uns Sozialkundlern verknackt wurde, dass es jetzt mit Konjunkturpolitik und sowas vorbei sei. Jetzt müsse man an die Strukturen ran. Dann zeigte man uns vergleichende Schaubilder, auf denen gezeigt wurde, wie fortschrittlich die neue englische Dienstleistungsgesellschaft im Vergleich zu unserem übermässigen Gewicht der "alten produzierenden Industrie" doch sei. Darin läge keine Zukunft.
Mir ging dabei die Frage durch den Kopf, wer denn in dieser Zukunft die materiellen Werte schaffen solle, auf denen alles andere aufbaut....
Später dann -wohl bereits zu Schröders Zeit (?) - wurden wir vom vor-Thatcherischen "kranken Mann Europas" zum neuen "Kranken" ernannt und die deutschen Medien diagnostizierten tapfer mit und forderten immer lauter die bittere neoliberale "Therapie".
Schröder apportierte prompt und trat Thatchers Erbe in D an. Wofür er bis heute einhelliger als die Lady selbst öffentlich gepriesen wird.
Das war sozusagen mein letzter "unmittelbarer" Kontakt mit dem Thatcherismus.
Was die irische Quelle betrifft, da wäre es natürlich toll, wenn man auch da mal wieder etwas Hautnahes hören könnte. Es wird ja so schnell vergessen/ verdrängt. Und dann fängt das Fälschen an....
Liebe Popkontext: ich habe über diese Aspekte auch schon mal geschrieben. Es hat nur niemand gelesen.....
London Riots 2011: Die Ära Thatcher (1)
13.08.2011 | 22:17
London Riots 2011: Die Ära Thatcher (2)
13.08.2011 | 22:20
Auch noch entdeckt:
Wie Maggie an die Macht kam
http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/4033/wie_maggie_an_die_macht_kam.html
Fundiert und erweitert das, was ich dazu geschrieben habe.
Ok, ja, da ist was Wahres dran, leider hat man dann die falsche Zukunft gewählt. :(
Danke für die Links - schaue ich mir gern mal an!
Danke für diesen aufschlussgebenden Blog!
Zu reden ist dazu von den Queensize United Kingdom Kanalinsel Steueroasen, die, exterritorial, wie der „Heilige Stuhl“ in der Steueroase Vatikanstaat in Italien, nicht einmal zur EU gehören, noch dem Geltungsbereich der britischen Gerichtsbarkeit unterliegen.
Zu reden ist davon, dass die Ausbeutung der Nordseeöl- und Gasressourcen durch die britische BP durch Drücken des Öl- und Gaspreises die Finanzressourcen der Perestroika, Glasnost von Michail Gorbatschow, erst ausgetrocknet, dann auf Grund gesetzt hat.
Allen Kommentatoren vielen Dank für die Beteiligung. Ich habe alle Kommentare und die meisten verlinkten Sachen zeitnah gelesen - auch wenn ich nicht alle Kommentare beantwortet habe.
Auf der Basis dessen, was hier und andernorts kommentiert wurde, habe ich den Beitrag etwas ergänzt und überarbeitet und hoffe, dass er jetzt noch etwas "runder" ist.
Der Text wurde auf der Basis neuerer Informationen noch einmal ergänzt und zu Gunsten von Thatcher modifiziert.