Margaret Thatcher gestorben

Kritischer Nachruf Baroness Thatcher, von 1979 bis 1990 britische Premierministerin und Jeanne d'Arc des weniger neoliberalen als sozialdarwinistischen Raubtierkapitalismus ist tot

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Margaret Thatcher gestorben

Foto: AFP/ Getty Images

Margaret Hilda Thatcher, Baroness Thatcher of Kesteven, starb Montag morgen im Alter von 87 Jahren. Wie ihr ehemaliger neo-liberaler Mit-Kämpfer Reagan litt sie in ihren letzten Jahren an Demenz. Dass dieser Tod fast mit dem Tod des letzten Sozialdemokraten in der SPD, Ottmar Schreiner, zusammenfällt, ist eine makabere Ironie des Schicksals – und dürfte bewirken, dass der Missionarin des Sozialdarwinismus mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird als dessen erbittertem Gegner. Wie gehabt eben.

Meine früheste Erinnerung an Thatcher ist der Slogan "Thatcher, Thatcher, Milk Snatcher" (Schul-Milch-Diebin), der seit 1970 der neuen Erziehungsministerin unter Edward Heath angesichts ihrer Sparvorschläge im Schulbereich entgegen schallte. Ich studierte zwar Anfang der 70er Jahre in Nottingham, interessierte mich aber für exotischere Dinge als Politik, so dass ich von der britischen Innen-Politik sehr wenig mitbekam. Unter linken Studenten jedenfalls war Thatcher bereits damals unübersehbar Hass-Objekt Nummer 1. Soviel bekam auch ich mit.

Ihre endgültige Mission fand Thatcher aber wohl in einem anderen Bereich: im ersten großen Bergarbeiterstreik seit 1926, der Anfang 1972 auch mich mit Strom-Abschaltungen und Referate-Tippen bei Kerzenlicht, mit Handschuhen und im Schlafsack traf.

Thatcher selbst dürfte mehr darunter gelitten haben, dass sich die Bergarbeiter damals durchsetzten und mit ihrem nächsten Streik 1974 zum Sturz der konservativen Regierung beitrugen.

Die eiserne Lady trat danach gegen den „Schwächling“ Heath an und gewann in einer Kampfabstimmung den Parteivorsitz bei den Konservativen. Aus dieser Position heraus gewann sie die Wahlen 1979 gegen den Labour-Premier Callaghan. Und bekam ihre Chance auf „Rache“ an den Gewerkschaften, die sie radikal „reformierte“.

Es war bereits im Vorfeld klar, dass dies eine Schlüsselwahl sein würde und so habe ich sie ausführlich für Unterrichtszwecke dokumentiert. Leider verhindern meine technische Unzulänglichkeit und Unsicherheiten des Copyright, dass ich die Dokumente hier einstelle, aus denen z.B. hervorgeht, dass zumindest die veröffentlichte Meinung die zahlreichen Streiks als Gewerkschaftsterror empfand, der die britische Wirtschaft immer weiter in den Abgrund trieb. Thatchers Sicht der Lage erschließt sich u.a. aus einer Rede vor dem britischen Unterhaus. Audio hier. Auch Reiner Luyken hat auf ZEIT Online die damaligen Zustände wohl zutreffend beschrieben.

Unbegründet war dies nicht, denn durch die eher kleinteilige, nicht an Branchen, sondern an Jobs orientierte Organisation der britischen Gewerkschaften gelang es kleinen Splittergruppen immer wieder, ganze Firmen lahm zu legen und/ oder durch militantes „Picketting“ durch "Flying Picketts" (mobilen Streikposten) auch nicht beteiligte Firmen an der Arbeit zu hindern. Hinzu kam u.a. die Praxis der sogenannten "Closed Shops" (Einstellungsmonopol für Gewerkschaftsmitglieder), die für kapitalistisches Wirtschaften nicht gerade förderlich waren.

Hinzu kam das nach wie vor ungelöste Nordirlandproblem und der ungebrochene Terror vor allem des radikalen Flügels der IRA (Provos) zwischen 1970 und 1996.

Gegen all dies also trat Thatcher 1979 an und machte damit wohl auch schon mal einen Punkt bei vielen Wählern. Hinzu kam eine neue Art von Wahlkampftaktik*), die neben dem bis dahin üblichen Kandidaten-Wahlkampf von Tür zu Tür ("Canvassing") sehr stark auf die Parteiführerin setzte. Die aber hatte einige Handicaps. So wurde z.B. ihre Stimme immer dann schrill, wenn sie aggressiv wurde. Und in einem Schlüsselwahlkampf gab es dafür zahlreiche Anlässe.

Der Observer warf damals einen Blick hinter die Kulissen und fand heraus, wie systematisch Journalisten ausgesiebt wurden, auf die Thatcher aggressiv reagierte. Betreut vom Fernsehproduzenten Gordon Reece unterzog sich Thatcher außerdem Summübungen u.a., um eine tiefere Tonlage zu stabilisieren, änderte ihre Frisur und ihre Halsketten, und versteckte ihre Hände. Ebenso wurden ihre hausfraulichen Fähigkeiten thematisiert:

Never before had a British party leader been so packaged. The British electorate bought the package. Margaret Thatcher, housewife superstar, became prime minister on 4 May 1979. Reece would be there whenever she needed him, which in those early days was often.“

[Der verlinkte Beitrag von Germaine Greer im Guardian, vom 11 April 2009 ist nicht das Original aus dem Observer, aber naturgemäß höchst lesenswert.]

So kam also eine seltsame Kombination aus erster westlicher Regierungschefin, neoliberaler Sozialdarwinistin, Gewerkschaftsbekämpferin und reaktionärer Nationalistin an die Macht und bestimmte ein Jahrzehnt lang die Richtlinien der Politik im UK. Zusammen mit Reagan stand sie darüber hinaus an der Wiege der Weltfinanzkrise und bestimmt so bis heute das Schicksal der davon Betroffenen.

Markenzeichen ihrer Politik war der Beginn der "Privatisierungen"im UK, die z.B. bei der von ihrem Nachfolger John Major privatisierten Bahn **) teilweise katastrophale Auswirkungen hatte, die völlig überzogene, gouvernantenhafte Entmachtung der Gewerkschaften ***), die Wiederbelebung des Jingoismus im Falkland-Krieg und die Förderung (Deregulierung) des britischen Finanzkapitalismus zu Lasten der britischen Industrie, die von allerdings erst in ihrer Nachfolge von Tony Blair „New Labour“ und „Cool Britannia“ – und mit Hilfe des Kokain (?) - zur veritablen Wirtschaft-„Bombe“ weiterentwickelt wurde.

Man mag also zu Recht fragen, ob Thatcher das, was in ihrer Ära und danach passierte auch alles selbst umgesetzt hätte. In ihre Ideologie passt es allemal. Insofern scheint mir die Überschrift zu Reiner Luykens Würdigung in der ZEIT „Thatcher ist nicht an allem schuld“ nicht ganz zutreffend. Korrekter sah es wohl Thatcher selbst, als sie "New Labour" als ihren größten Erfolg bezeichnete. Eindrucksvoll bestätigt wird Luykens Sicht allerdings durch die Tatsache, dass die konservativ-liberale Regierung gerade mal wieder dazu ansetzt, den, Klassenkampf von oben zu eskalieren, während der Volkszorn sich gegen eine Tote austobt.

Auch in Sachen Großprojekt war Thatcher übrigens aktiv. Zusammen mit Frankreichs Mitterand startete sie den Bau des seit Ewigkeiten diskutierten "Channel Tunnel" – den dann allerdings wiederum erst ihr politischer Enkel Tony Blair eröffnen durfte.

Während die Bedeutung des deregulierten Finanzkapitalismus für die britische Wirtschaft öffentlich wahrgenommen wird, scheint mir die Rolle des Nordseeöls für die tatsächlichen oder scheinbaren Erfolge der Thatcherschen Wirtschaftspolitik eher wenig beleuchtet.

Wie genau sich das UK unter Thatcher verändert hat, habe ich nicht mehr vor Ort nachvollzogen. Kurze Besuche, hauptsächlich in den Süden und Süd Wales hinterließen den subjektiven Eindruck, England sei insgesamt „renovierter“, bürgerlicher und „europäischer“ geworden. Aber der touristische Blick geht nicht tief genug. Insofern kann ich hier keine ausgewogene Würdigung als Blogger geben. Eine umfängliche und wohl auch positive, sprich: neoliberale, Würdigung dürfte sich hier finden.

Aus einer linken Perspektive blickt Sunder Katwala in einem Essay auf Thatchers Erbe, der erstmals 2009 erschien, jetzt aber, anlässlich Thatchers Tod, wiederveröffentlicht wurde.

Aus der medialen Rezeption kommen mir selbst Begriffe wie „divided“ oder „the great divide“ ****) in den Sinn, die bezeichnenderweise auch jetzt in Berichten über die öffentlichen Reaktionen auf Thatchers Tod wieder auftauchen. Gespalten scheint das Land also in Arm und Reich, „Nord“ und „Süd“ - und in der Einstellung zur Person Thatcher und ihrer Politik.

Die Ermordung des kleinen James Bulger durch zwei Zehnjährige 1993 löste eine intensive Debatte auch über die sozialen Zustände im UK aus, in der auch die Frage aufgeworfen wurde, was der Thatcherismus aus der Gesellschaft und dem sozialen „Kitt“ gemacht habe.

Seit Geraint Andersons Buch Cityboy schließen, haben wir auch einen ungefähren Eindruck, wie Thatchers Wunschkinder ticken und welche Perversionen sie pflegen.*****)

Ausführlicher habe ich mich mit der Ära Thatcher und den Folgen angesichts der London Riots 2011 beschäftigt:

London Riots 2011: Die Ära Thatcher (1)

13.08.2011 | 22:17

London Riots 2011: Die Ära Thatcher (2)

13.08.2011 | 22:20

London Riots 2011: Großbritanniens gespaltene Gesellschaft

12.08.2011 | 01:09

London Riots 2011: Soziale Unruhen in Großbritannien

12.08.2011 | 01:38

London Riots 2011: Links zu "Soziale Unruhen in Großbritannien"

12.08.2011 | 01:45

Soweit mein schneller und unvorbereiteter Ritt über den politischen Bodensee. Den Rest überlasse ich gern den professionellen Medien.

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*) Wie der Wahlkampf „heute“ aussieht, wird hier beschrieben:

http://www.prodialog.org/downloads/studien/Campaigning_British_Style.pdf

**)

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bahn-privatisierung-in-grossbritannien-der-traum-vom-staats-express-1.916240

***)

http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=11973

http://www.gew.de/Deutsch-Britisches_Gewerkschaftsforum.html

http://www.historyandpolicy.org/papers/policy-paper-63.html

http://library.fes.de/fulltext/bueros/london/00944.htm

****)

http://www.nytimes.com/2013/04/09/opinion/thatchers-divided-isle.html?_r=0

http://www.ippr.org/articles/56/7752/as-britains-great-divide-gets-bigger-the-north-needs-its-voice-to-be-heard

http://www.economist.com/node/21562938

http://www.guardian.co.uk/uk/2007/oct/20/britishidentity.socialexclusion

http://www.thedailybeast.com/newsweek/2008/08/02/britain-s-great-divide.html

*****)

http://www.youtube.com/watch?v=oWjIdmNBBVA

Zusätzliches:

http://www.cicero.de/blog/goettinger-demokratie-forschung/2013-04-17/wir-wussten-wogegen-wir-standen

http://www.telegraph.co.uk/news/politics/7932963/How-Margaret-Thatcher-became-known-as-Milk-Snatcher.html

http://www.spiegel.de/politik/ausland/grossbritannien-ex-premierministerin-thatcher-gestorben-a-893138.html

http://www.spiegel.de/thema/margaret_thatcher/

https://de.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher

http://www.guardian.co.uk/politics/datablog/2013/apr/08/britain-changed-margaret-thatcher-charts

http://www.bbc.co.uk/history/people/margaret_thatcher

http://www.guardian.co.uk/politics/blog/2013/apr/08/miliband-clegg-local-elections-cameron-madrid

http://www.economist.com/blogs/blighty/2013/04/margaret-thatcher-0

http://krugman.blogs.nytimes.com/2013/04/08/did-thatcher-turn-britain-around/?ref=opinion

http://www.focus.de/politik/ausland/tid-14135/margret-thatcher-wohlstand-auf-pump_aid_395594.html

http://www.newstatesman.com/books/2009/02/margaret-thatcher-british

http://www.margaretthatcher.org/speeches/

http://www.margaretthatcher.org/document/106689

...und den, der zu lange schreibt, bestraft....in diesem Fall Poor on Ruhr mit seinem persönlich gehaltenen Nachruf....;)

https://www.freitag.de/autoren/poor-on-ruhr/die-eiserne-lady-ist-tot

Ergänzend – insbesondere auch zum Thema Honkong - auch dies:

https://www.freitag.de/autoren/justrecently/margaret-thatcher-1925-2013

http://ind.pn/HQ1l3b

Jörg Augsburg beleuchtet das Verhältnis der britischen Musikszene zur Eisernen Lady:

https://www.freitag.de/autoren/joerg-augsburg/ding-dong-the-witch-is-dead

Dazu auch Jan Jasper Kosok/ Morrissey:

https://www.freitag.de/autoren/jan-jasper-kosok/schrecken-ohne-einen-funken-menschlichkeit

Lukasz Szopa schließlich unterzieht die Ära Thatcher noch einem (Wirtschafts-)Zahlencheck:

https://www.freitag.de/autoren/lukasz-szopa/margaret-thatcher-in-zahlen#1365618310726107

Zugabe (Update):

https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/bye-bye-cool-britannia-aus-gegebenem-anlass

https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/zur-sozialistischen-familienpolitik-des-augusto-pinochet

https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/fremdgelesen-der-neoliberale-teufelskreis

http://community.zeit.de/user/seriousguy/beitrag/2010/01/19/der-neoliberale-teufelskreis-link-zum-dossier

Zuletzt ergänzt und überarbeitet am 17.04.2013, 16:10 Uhr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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