Was für ein Timing: am 10. Juni berichtete der Weltspiegel der ARD über „Erziehungs“-Praktiken, die in österreichischen Kinderheimen bis Ende der 70er Jahre praktiziert wurden und eine nahtlose Fortsetzung von Nazi-Ideologien und Nazi-Praktiken darstellten. Medzinische Versuche inklusive (1). Zwei Tage später berichteten die Medien vom Tode Margarete Mitscherlichs, die just zu der Zeit, in der diese Verbrechen immer noch geschahen und vertuscht wurden, zusammen mit ihrem Mann Alexander mit dem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ den Finger just in diese Wunde gelegt hatte. Was könnte mehr verdeutlichen, dass das Problem bleibt, auch wenn die Therapeutin nicht mehr ist.
In diesem Sinne ist das Datum ihres Todes auch eine Provokation: mitten hinein in die Vorfreude auf den deutschen Fussballsieg am folgenden Tag platzierte das Schicksal eine Aufforderung ans Feuilleton zu Besinnung und erneutem Blick auf das Hässliche unter der deutschen Spassfassade. Insbesondere die 68er sind durch diesen Tod des letzten großen Mitgliedes der Frankfurter Gesellschaftskritik gefordert, erneut auf die eigene Biographie zu schauen, auf das, was erreicht wurde und auf das was gescheitert ist und als fortzuführendes Erbe zurückbleibt (2)/(3).
3sat dokumentierte ausgerechnet in seinem Bemühen, eine Gedenksendung zeitnah ins Programm zu bringen unfreiwillig die ganz eigene Unfähigkeit zu trauern. Die Sendung startete ausgerechnet während der Endphase des Spieles gegen Holland und stellte so wohl sicher, dass sie ein Minimum an solchen Zuschauern fand, die ihrer ohnehin nicht bedurften. Während also auf dem einen Kanal noch einmal die Nicht-Bewältigung der braunen Vergangenheit mitschwang, waren auf dem anderen Kanal, wenn ich das richtig gehört habe (!?!), die deutschen Fangesänge in ein dumpfes „Sieg! Sieg! Sieg!“ übergegangen.
Und in der dadurch nach hinten gerückten 3. Folge der norwegischen Polizei-Verherrlichungsserie „Codename Hunter“ konnte man in einer im Kontext unsinnigen und überflüssigen virtuellen Live-Vergewaltigungs-Szene drastisch erleben, wie aktuell auch Mitscherlichs andere zentrale Themen sind: (Männer)Gewalt(Phantasien) und die Rolle der Frau. Mir jedenfalls schien diese Szene weniger der schonungslosen Beschreibung von Wirklichkeit geschuldet, als der Bedienung von Gewaltbedürfnissen von Drehbuchautor und Zuschauern (4).
Um diese Liste zur Aktualität der Mitscherlichschen Psychoanalyse als Gesellschaftskritik zu komplettieren, sei schließlich noch auf eine merkwürdige Diskussion in konservativen Kreisen Baden-Württembergs hingewiesen, wo, ausgerechnet nach dem staatlich „übersehenen“ langjährigen Rechtsterrorismus (5), nach dem jahrzehntelangen Decken des Ohnesorg-Mörders Kurras durch Polizei und Justiz (6), den immer neuen Medienberichten über die Nicht-Ahndung von polizeilichen „Übergriffen“ (sprich Verbrechen) (7) und dem Nichtverfolgen eines in Italien rechtskräftig verurteilten SS-Mörders durch den Stuttgarter Oberstaatsanwalt Häußler (8) nebst öffentlicher Rückendeckung für denselben durch einen SPD-Justizminister (9), der Rücktritt der Integrationsministerin Öney gefordert wird, die sich in einer Diskussion verplappert hatte und die deutschen Zustände, politisch inkorrekt, nicht hinreichend von türkischen Zuständen separiert hatte, wo mit dem Begriff „tiefer Staat“ ein Staat im Staate gemeint ist, „bei dem Politik, Verwaltung, Justiz und Sicherheitskräfte mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeiten.“ Damit haben die oben genannten Zustände selbstverständlich nichts zu tun. Wir sind schließlich keine Türken (10).
Wie man sieht, rühren allein die Tatsache des Todes von Margarete Mitscherlich und dessen Zeitpunkt (bei mir) alles wieder auf, was diese Gesellschaft so gerne nicht sehen will. Ein Tod im Kontext sozusagen. Und als solchen wollte ich ihn hier einordnen. Fortsetzung nicht ausgeschlossen.
(1)
„So wurden Kinder mit Malaria infiziert, weil der Fieberschock angeblich heilsam war. Andere zur Ruhigstellung mit Röntgenstrahlen therapiert. Pubertierende Mädchen bekamen eine Spritze mit dem Tiermedikament Epiphysan, das normalerweise gegen die Brünftigkeit von Kühen eingesetzt wurde. Als die Dokumentation [1980 – sg] erschien, war die Entrüstung groß. In erster Linie aber über den Filmemacher, der sich Kritik am System erlaubt hatte. Politiker forderten vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen dessen sofortige Absetzung. „Man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, irgendetwas im Detail zu widerlegen, sondern es war Nestbeschmutzung, Insubordination, unzulässige Auflehnung gegen staatliche Einrichtungen und das hat gereicht, um zu sagen. Nehmt diese Schmutzfinken weg aus dem Sender.“
www.daserste.de/weltspiegel/beitrag_dyn~uid,cnlj7kkwjjzw2nou~cm.asp
„Auch in Deutschland hat der Runde Tisch Heimkinder, der vor einem Jahr seine Arbeit abschloss, von Medizinversuchen berichtet. Im Abschlussbericht war zu lesen, dass Kinder zur Einnahme von Psychopharmaka gezwungen worden seien, an einem Heim seien Versuche mit sedierenden Medikamenten durchgeführt worden. Auch aus Großbritannien gibt es Meldungen über medizinische Versuche an weiblichen Bewohnerinnen von Kinderheimen; einige von ihnen sollen später schwer missgebildete Kinder zur Welt gebracht haben.“
Weitere Links zu diesem Thema:
derstandard.at/r1328507252249/Misshandlungen-von-Heimkindern
www.youtube.com/watch?v=ogIJ-8xU9sE&;;feature=related
www.youtube.com/watch?v=hKn5Y4PyRGQ
www.youtube.com/watch?v=GqqZzpdSF_E&;;feature=related
(2)
Aktuelle Würdigungen von Maragrete Mitscherlich:
www.freitag.de/kultur/1224-zum-tod-von-margarete-mitscherlich
(Fachlich derzeit wohl beste Würdigung)
www.fr-online.de/leute/psychoanalyse-margarete-mitscherlich-ist-tot,9548600,16366660.htmlwww.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1782761/
www.faz.net/aktuell/rhein-main/margarete-mitscherlich-die-grosse-dame-der-aufklaerung-11784813.html
(3)
„Die Unfähigkeit zu trauern“:
www.spiegel.de/spiegel/print/d-45465484.htmldocupedia.de/zg/Mitscherlich,_Unf%C3%A4higkeit_zu_trauern
www.jenacenter.uni-jena.de/Presse/Aktuell/ReineckeMitscherlich.html
www.sueddeutsche.de/politik/margarete-mitscherlich-im-interview-ohne-angst-wuerden-wir-fett-1.464648
de.wikipedia.org/wiki/Margarete_Mitscherlich
(4)
www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/163075/index.html
www.3sat.de/mediathek/?display=1&;;mode=play&obj=31384
(5)
Der Suizid von Böhnhardt und Mundlos:Was geschah am 4.11.in Eisenach ?
www.freitag.de/politik/1222-was-wusste-andreas-t
www.karl-weiss-journalismus.de/?p=1595
(6)
www.spiegel.de/spiegel/print/d-83679109.html
www.spiegel.de/video/video-1173633.html
www.spiegel.de/panorama/benno-ohnesorg-manipulation-auf-dem-op-tisch-a-811294.html
www.spiegel.de/spiegel/print/d-83774681.html
www.spiegel.de/spiegel/print/d-83774682.html
(7)
www.karl-weiss-journalismus.de/?p=1550
(8)
www.freitag.de/community/blogs/mcmac/s21---schwarz-brauner-filz-bei-der-arbeit
(9)
(10)
www.badische-zeitung.de/cdu-fraktion-haelt-ministerin-oeney-fuer-nicht-tragbar--60486271.html
www.badische-zeitung.de/nachrichten/suedwest/union-setzt-ministerin-unter-druck
www.faz.net/aktuell/politik/inland/kritik-an-oeney-spiel-mit-begrifflichkeiten-11782238.html
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