Pressezensur durch Stuttgarter Landgericht?

S21 S21 Das Stuttgarter Landgericht hat am 04.11.2013 die Berichterstattung zu S21 gravierend eingeschränkt. Mögliches kriminelles Handeln wird jetzt gerichtlich geschützt.

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Während die Verwüstung der Stuttgarter Parks und von Teilen der City gerade eskaliert, hat sich heute auch das Stuttgarter Landgericht aktiv in den Kampf für S21 eingeschaltet und es der Stuttgarter Zeitung untersagt, die Öffentlichkeit über Interna zu unterrichten, wenn es der Bahn nicht in den Kram passt (weil dadurch z.B. mögliches kriminelles Handeln öffentlich nachvollziehbar gemacht würde).

Dass die Stuttgarter Justiz in Sachen S21 gelegentlich weniger Recht als Macht (des Kapitals) spricht, dürfte sich inzwischen über den Stuttgarter Widerstand hinaus herum gesprochen haben. Die Dreistigkeit, mit der das Landgericht Stuttgart heute den Art. 5 GG und mit ihm die rechtsstaatliche Kontrollfunktion der Medien in die Tonne getreten hat, dürfte in der Rechtsprechung der Bundesrepublik allerdings nicht viele Parallelen haben.

Meine Einschätzung dieser Sache gleicht zur Zeit leider noch einem Ritt über den Bodensee. Da ich keine Presseerklärung des Stuttgarter Landgerichts finden konnte und auch sonst nur wenig präzises zu erfahren ist, beruht sie hauptsächlich auf vorläufigen Mutmaßungen, die sich wiederum auf den Artikel der Stuttgarter Zeitung vom 17. September 2013 beziehen, gegen den sich die Klage gerichtet hatte.

Dort hatte die StZ unter der Überschrift „Bahn bestätigt intern Terminverzögerung“ über Unterlagen für eine Aufsichtsratssitzung der DB am 18.09.2013 berichtet, nach denen Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm nicht, wie ständig offiziell behauptet, 2021, sondern erst Ende 2022 in Betrieb genommen werden könnten – was der offizielle Bahn-Kommunikator Dietrich zuvor im Stuttgarter Gemeinderat – wie üblich - anders darzustellen gedachte. Auch andere, offenbar nicht haltbare offizielle Termine und Kostenschätzungen werden in diesem Zusammenhang angeführt und angemerkt, dass dem Bahn-Aufsichtsrat nun Termine genannt werden sollten, die Dietrich bislang beharrlich dementiert habe:

Die StZ hatte in dem Artikel „einerseits aus einer schriftlichen Unterlage der Bahn zitiert und den Lesern gegenüber mit dem Abdruck eines Faksimile sogar dokumentiert, dass sie im Besitz des Bahn-Papiers ist. Andererseits hat die Stuttgarter Zeitung das Kommunikationsbüro von Stuttgart 21 mit dem Inhalt dieses Papiers konfrontiert, um eine Stellungnahme gebeten und die Kernaussagen daraus abgedruckt.“

Inhaltlich kann die Redaktion nachweisen, dass der Aufsichtsrat der Bahn mindestens seit März 2013 damit rechnen muss, dass Stuttgart 21 erst 2022 fertig wird. Bereits in einer Beschlussvorlage für die Aufsichtsratssitzung am 5. März 2013, in welcher der Aufsichtsrat den Gesamtwertumfang des Projektes auf 5,987 Milliarden zuzüglich Risikopuffer erhöht hat, steht auf Seite 9: „Als Inbetriebnahmetermin für Stuttgart 21 und Neubaustrecke ist dabei Dezember 2022 unterstellt.“

Die StZ habe nie bestritten, dass alle Planungen der Bahn auf eine Inbetriebnahme im Jahr 2021 ausgerichtet seien. Eigens hervorgehoben war sogar ein Zitat des „Projektsprechers“ :„Alle Projektplanungen sind auf 2021 ausgerichtet.“ Wolfgang Dietrich, S-21-Projektsprecher“.

Allerdings nimmt das Unternehmen sowohl in internen Geschäftsberichten als auch in den Unterlagen an den Lenkungskreis der Projektpartner mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 80 Prozent an, dass Stuttgart 21 erst 2022 in Betrieb geht.“

Mit Urteil vom 04.11.2013 ordnet das Landgericht Stuttgart nun – soweit ich das nachvollziehen kann - offenbar keine Gegendarstellung bzw. Richtigstellung eventueller nachgewiesener Falschdarstellungen an, sondern untersagt der StZ unter Androhung einer Ordnungsstrafe von bis zu 250.000 Euro, wahrheitsgemäß zu berichten, die Bahn habe beabsichtigt, ihrem Aufsichtsrat mitzuteilen, es sei sicher, dass S21 und die NBS erst Ende 2022 betriebsbereit sein werden, da dies, laut Bahn, nur mit 80%iger Wahrscheinlichkeit eintreten wird.

De facto bedeutet das nach meiner Einschätzung, dass die Medien ab jetzt nicht mehr wahrheitsgemäß über das berichten dürfen, was sie selbst herausgefunden haben, sondern sich darauf zu beschränken haben, die offiziell gestreuten „Lügen“ der Bahn zu verbreiten. Weicht die Stuttgarter Zeitung nach Ansicht dieses Gerichtes in Zukunft davon ab, läuft sie Gefahr, ihr wirtschaftliches Überleben zu riskieren.

Ich erlaube mir, dies als flankierende Maßnahme zu den teilweise überzogenen, teilweise wohl rechtswidrigen, in jedem Fall aber einschüchternden Urteilen gegen Mitglieder des Stuttgarter Widerstandes zu interpretieren, die hier quasi am Fließband gesprochen werden. Und das teilweise unter skandalösen Umständen [http://www.taz.de/!97513/]. Dass die Stuttgarter Zeitung auch darüber gelegentlich kritisch berichtet hat, hat bei dem heutigen Urteil selbstverständlich keine Rolle gespielt – obwohl es sich natürlich angeboten hätte, auf diesem Umweg der Redaktion eine Ohrfeige zu verpassen.....

Brisant ist dieses Urteil überdies in Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortung der Entscheidungsträger. Wagen die Medien nun nicht mehr, öffentlich zu machen, was den Verantwortlichen zur Zeit ihrer Entscheidungen an Fakten bekannt war, weil sie dann jederzeit wegen Petitessen vor dem Kadi landen können, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich später niemand findet, der Anzeige bei Betrug, Untreue usw. erstattet, weil die nötigen Informationen nur betroffenen oder assoziierten Insidern bekannt bleiben.

Das Stuttgarter Landgericht versucht hier also implizit die Aufklärung potentieller Straftaten zu verhindern. Und das dürfte von seiten der Bahn auch als angestrebtes Ziel hinter dieser Klage stehen – was wiederum den Schluss nahelegt, das man bei der Bahn davon ausgeht, dass man ungesetzlich handelt. Sonst müsste man eine kritische Berichterstattung nicht juristisch verfolgen, die klar, nachvollziehbar und ausgewogen auch die Gegenseite zu Wort kommen lässt, wie es in diesem Artikel der Fall war.

Und es gibt einen weiteren Skandal im Skandal. An dem Trägerverein des in dieser Sache klagenden sogenannten „Kommunikationsbüros“, das eigens zur offiziellen „Lügen“-Verbreitung eingerichtet wurde, sind immer noch die Stadt Stuttgart und der Verband Region Stuttgart beteiligt. Man darf also davon ausgehen, dass diese politischen Institutionen hinter der Zensurforderung der Bahn stehen. Schließlich haben sie die Herrschaften bei ihrem antidemokratischen Tun gewähren lassen. Danke, Herr Grünen-OB Kuhn!

Es bleibt zu hoffen, dass dieses Skandalurteil trotzdem nicht Bestand hat.

Siehe hierzu auch:

http://www.kontextwochenzeitung.de/pulsschlag/134/bahn-verklagt-zeitung-1803.html

http://www.kontextwochenzeitung.de/macht-markt/135/das-schweigen-der-zeitungen-1810.html

http://www.railblog.info/?p=8163

http://www.parkschuetzer.de/assets/statements/164452/original/ES21_Tunnelblick-41_s.pdf?1383563715

Übrigens: Wir gedenken in diesen Tagen nicht nur der Novemberpogrome von 1938 gegen die jüdischen Mitbürger – was tat die deutsche Justiz eigentlich damals dagegen? Am 7. November wird der baden-württembergische Landtag auch erstmals eines Justizmordes gedenken, der ebenfalls in diese Tradition gehört: Vor 275 Jahren wurde Joseph Süß Oppenheimer auf dem Stuttgarter Galgenberg gehenkt.

http://www.kontextwochenzeitung.de/denkbuehne/135/stuttgarter-justizmord-1807.html

Und am 10.11.2013 wird der Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter 2013 an die zwei Überlebenden des NS-Massakers von 1944 im italienischen Sant’ Anna di Stazzema Enio Mancini und Enrico Pieri verliehen, dessen strafrechtliche Aufarbeitung die Stuttgarter Staatsanwaltschaft bislang erfolgreich zu verhindern versucht.

https://www.die-anstifter.de/2013/06/ns-massaker-im-italienischen-sant-anna-di-stazzema-uberlebende-erhalten-stuttgarter-friedenspreis-2013/

Überarbeitet am 05.11.2013, 11:30 Uhr

Dieser Beitrag greift - wie so oft - auf Diskussionen und Informationen im Stuttgarter Parkschützer Forum zurück.

http://www.parkschuetzer.de/statements

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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