S21: „Was nützt ein Rückgrat, wenn kein Hirn darüber ist.“

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Für alle, die anläßlich S21 auch mal den Blick über den rein politischen Tellerrand genießen möchten hat Gerhard Stadelmaier in der FAZ ausgiebig bildungsbürgerlich über "Stuttgart als geistige Lebensform" räsoniert. Als Appetithäppchen habe ich schon mal ein paar Zitate zusammengestellt:

"Völker der Welt, schaut auf diese Stadt - aber bringt eure Badehosen mit! Und wer nur Bahnhof, noch dazu Bahnhof 21 versteht, hat nichts verstanden. Hier sprudelt der Protest an den Mineralquellen des Bürgertums" heißt es gleich zu Beginnunter Bezug auf "die heilige Quelle Stuttgarts: Die Kaltbadehalle des Mineralbades Leuze" . www.faz.net/-01gvq9

Es folgt eine Schilderung des masochsistischen Rituals eines morgendlichen Mineral-Kaltbadens und dessen, was die Stuttgarter alles an Masochismus aufbrachten, um die verordneten "Stadverschönerungen" seit dem Krieg hinnehmen zu können:

"Bisher hatten sie den unaufhörlichen Umbau ihrer nachkriegsgrauen, durch widernatürliche Schneisen und Betonklötze verschandelten Stadt hingenommen. Hatten über das tägliche Aufreißen neuer Baustellen hinweggesehen. Hatten das Herunterkommen ihrer einstmals schönen Königsstraße zu einer gesichtslos grellen Einkaufsmeile, die genauso gut in Hannover oder in Düsseldorf-Rauxel-Pforzheim rasend vor sich hin kommerzeln könnte, akzeptiert. Hatten das Verschwinden dessen an Geschäften und generationenlangen Traditionen von Handel und Wandel, womit sie einst ihr Gemeinwesen halbwegs identifizieren konnten, ertragen. Hatten eine „Passage“ nach der anderen erlebt, für die bestehende Häuser wahllos ab- oder durchbrochen wurden."

Das mag schon mal zu einem ersten intellektuellen Verstehen dessen beitragen, warum die "Stuttgarter Spießer" die Nase voll haben. Die etwas andere Schilderung der Proteste mag noch ein bißchen hinzufügen.

Das im Titel angeführte Zitat eines Bauzaunzettels zeigt bereits an, zu welchem Resümee Stadelmaier am Ende kommt: " dass hier eines der dümmsten, gedankenlosesten und sinnlosesten Vorhaben der letzten Jahrzehnte aus Steuergeldern auf Schienen gesetzt wird" - worauf ein begeistert-entsetzter Kommentator glücklich und zu Recht fragt, was denn mit der FAZ los sei.*

Da ich selbst die Ehre hatte, dass mein XXL-Kommentar nicht vollständig eingestellt wurde, nehme ich mir die Freiheit, ihn ersatzweise hier anzufügen. Um das Ganze noch etwas sinnlicher zu machen, habe ich auch noch Bild- und Textmaterial zum Thema dazu verlinkt:

Exzellent daneben getroffen

Herr Stadelmeier hat Stuttgart als Lebensform fast erfasst. Nur hat er sich allzu sehr auf eine Minderheit konzentriert, die in ihrem Wahlverhalten noch mehr als im morgendlichen Leuze ( www.google.de/images?hl=de&;;;;;;;;client=firefox-a&hs=NEm&rls=org.mozilla:de:official&channel=s&q=mineralbad+leuze+bilder&revid=636908061&um=1&ie=UTF-8&source=univ&ei=xpZ6TNqLFo_HswbHobGyDQ&sa=X&oi=image_result_group&ct=title&resnum=1&ved=0CCMQsAQwAA ) - oder dem abendlichen Staatstheater - ( de.wikipedia.org/wiki/Staatstheater_Stuttgart ) allzu lange und allzu sehr den "masochistischen" Reiz suchte. Typisch Stuttgart scheint mir das mitnichten. Und was die bürgerliche Aneignung der eigenen Stadt im Moment betrifft, so beschreibt er auch da nur eine Minderheit der Minderheit der älteren Neu-Citoyens.

Das mag daran liegen, dass er zwar das Schwäbischsein an und für sich in seiner Stuttgarter Variante korrekt als ein prinzipiell masochistisches erkennt. Er übersieht aber, das ca. 40 Prozent der Stuttgarter mittlerweile eine sogenannte Migration im Hintergrund haben. Dazu kommen dann noch die Flüchtlings-, Heimatvertriebenen- und DDR-Hintergründe, so dass man wohl sagen kann, dass die Schwaben in Stuttgart längst eine Minderheit sind, die längst unter Artenschutz gestellt werden müsste.

Das hat dazu geführt, dass hier mittlerweile die Italianità den protestantischen Masochismus längst überwiegt, wie es ein Schweizer Freund schon vor Jahren wahrnahm und wie es mittlerweile offenbar auch ein italienischer Reiseführer sieht (StZ 18/8/10 : www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2595815_0_2302_-nationalcharakter-berlin-bier-autobahn.html?_skip=3 ).

Anschließend daran würde ich die derzeitige Klarstellung der Bürger gegenüber den Politikern, dass die Stadt ihnen gehört und nicht jenen, als Ausdruck jenes neuen, auf Lebensqualität gerichteten Stuttgart-Gefühls interpretieren. (Und den „Stuttgart Sound“ des RSO sehe ich keinesfalls als Ausdruck von Masochismus, sondern als Sehnsucht danach, dass das allzu glatte doch bitte auch etwas enthalten möge, das die Sinne reizen kann und nicht bloß darüber hinweg flutscht.)

Es ist ein neues Gefühl von Lebendigkeit, das sich gegen eine technophile Nekrophilie des "Kapitals" stellt, die nur einen Sinnenreiz zu kennen scheint, den nämlich, dass Geld nicht stinke. Als manifesten Ausdruck dafür, was dem als "Ästhetik" folgen kann, mag man das neue Büchergefängnis "Stadtbibliothek" betrachten ( www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2591725_0_9223_-neue-bibliothek-ein-introvertiertes-haus.html ).

Dass solcher "Zukunftsvision" 200 Jahre alte Bäume entgegengesetzt werden, ist keine Rückwärtsgewandtheit, sondern eine Erinnerung daran, was für die Menschen zählt ( www.parkschuetzer.de/wissenswertes/park ).

Ironischerweise entspricht auch der Bonatzbau, den wir so emotional verteidigen, längst nicht mehr der neuen Italianità, auch wenn die New York Times ihm Eleganz bescheinigt:

www.nytimes.com/2009/10/03/arts/design/03railway.html?_r=2&;;;;;;;;scp=1&sq=Paul+Bonatz+Stuttgart&st=n

Bevor ich nun vor der Zeichenbegrenzung kapituliere: dass Stuttgarter sich plötzlich ihres lebendigen Herzens erinnern anstatt sich - wie vormals - von den Glas- und Betonfassaden des "Neuen Herzens Europas" blenden zu lassen, und dass diese Erinnerung sich in einem neuen Selbstverständnis als Bürger niederschlägt, mag in der Tat Anlaß sein, mal zur Abwechslung auf Stuttgart und nicht immer bloß auf Shanghai zu blicken. Der Vergleich zwischen dem Totalitarismus von Kapital und Technokratie auf der einen und dem der Lebensqualität zugewandten Citoyen auf der anderen Seite mag lehrreich sein. Der LBBW zumindest hätte es gut getan, wenn sie Stuttgarterin geblieben wäre, anstatt sich in "Shanghai" zu versuchen. Vielleicht sollte man dem Management eine Jahreskarte für's Leuze schenken.....

* Am 30.08.2010 15:00 ergänzt, um Stadelmaiers Position deutlicher zu machen.

Basisinformation:

de.wikipedia.org/wiki/Stuttgart_21

www.das-neue-herz-europas.de/default.aspx (Befürworter)

www.kopfbahnhof-21.de/ (Kritik, Alternativ-Gutachten, Alternativprojekt)

www.bei-abriss-aufstand.de/ (Kritik, laufende Information, Pressespiegel)


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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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