S21: Deutsche Bahn macht Guttenberg plus

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Nicht nur die Wissenschaftsgemeinde hat sich über Guttenbergs "Doktorarbeit" wegen offenkundiger wissenschaftlicher Mängel mächtig erregt. Dass anderswo bereits das ganze Verfahren zur Titel-Erlangung stinkt, wurde zumindest gelegentlich am Rande erwähnt. Umso erstaunlicher ist, dass sich in der Wissenschaftsgemeinde bislang kaum jemand um all die Fragen und Vorwürfe kümmert, die spätestens seit der Geißler-Show hinsichtlich des "wissenschaftlichen" Gebahrens um Stuttgart 21 im Raume stehen: Gefälligkeitsgutachten, Missachtung wissenschaftlicher Grundsätze, Außerkraftsetzen anerkannter (Sicherheits-) Standards aus politscher Willfährigkeit und schließlich der manipulative und verfälscchende Umgang der Bahn mit dem eigenen Regelwerk zum Zwecke des Erschleichens eines "Bestanden" im "Stresstest" - der keiner war.

Anders als bei Guttenberg, wo es "nur" um ideelle Werte ging, geht es bei diesen Fragen um die Gesundheit und das Leben von Menschen, um sehr viel Geld und um das Ansehen der Ingenieurs- und Bahnwissenschaften in Deutschland, die Gefahr laufen, dem Größenwahn einiger Politiker, der Geld-Gier der Baubranche und der Machtbesessenheit der herrschenden Kaste geopfert zu werden.

Es ist deshalb zu hoffen und zu wünschen, dass der im Folgenden zitierte Aufruhr Gehör findet und zum Anlass genommen wird, (selbst-)kritisch über das Ausmaß von Abhängigkeit und Korrumpiertheit der hiesigen Wissenschaft nachzudenken - und die nötigen Konsequenzen zu ziehen:

Posted on15. Dezember 2011byPetra A

Richtlinienverstöße im Stuttgart 21-Stresstest: Aufruf an die Deutsche Bahn AG, SMA und Partner AG und den Schlichter Dr. Heiner Geißler zur Stellungnahme

Eine Woche vor der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 war der Vorwurf umfassender Regelverstöße im Stresstest zu Stuttgart 21 von WikiReal.org veröffentlicht worden. Seither gelang es der Deutschen Bahn und dem Stresstest-Auditor SMA nicht, die Kritik an dem Leistungsnachweis für das Milliardenprojekt nachvollziehbar auszuräumen.

Die Unterzeichner dieses Aufrufs bewerten hiermit nicht die fachliche Kritik, aber halten die Vorwürfe der unter WikiReal.org veröffentlichten Untersuchung des Stresstests zu Stuttgart 21 für schwerwiegend. Sie sind überzeugt, dass es ureigenstes Interesse der DB AG und SMA sein muss, dass die begründete Kritik bezüglich der Regelverstöße und möglicher Lücken in der Auditierung durch die SMA nachvollziehbar ausgeräumt wird. Der Nachweis der Leistungsfähigkeit des neuen Durchgangsbahnhofs Stuttgart 21 darf keinem Zweifel unterliegen. Andernfalls fehlt dem Fortschritt des Baus die Legitimation.

In einem Verfahren, das zur Befriedung eines kontrovers diskutierten Projekts dienen sollte, dürfen keine solch gravierenden Indizien für eine Täuschung der Öffentlichkeit im Raum stehen bleiben. Es ist zudem ein Gebot der Wissenschaftlichkeit, dass eine Ergebnisdokumentation, die demokratische Entscheidungen rechtfertigen soll, fachlich nachvollziehbar und über jeglichen Zweifel erhaben ist. Andernfalls besteht die Gefahr, dem exzellenten Ruf des Wissenschafts- und Industriestandorts Deutschland Schaden zuzufügen. Es gilt zu vermeiden, dass an der deutschen Bahnwissenschaft ein Makel haften bleibt.

Hintergrund
Als Teilnehmer und Experten haben wir uns an dem Demokratie-Experiment der Faktenschlichtung und der Stresstest-Präsentation zum Projekt Stuttgart 21 (S21) beteiligt oder dieses Verfahren anderweitig begleitet. Ein strittiger offener Punkt der Faktenschlichtung war die realistische Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs. Im Schlichterspruch war der "Nachweis" der Leistungsfähigkeit durch den sogenannten "Stresstest" gefordert worden. Bei "guter Betriebsqualität" sollten 49 Züge in der Spitzenstunde abgefertigt werden können. Die Prüfung der Ergebnisse durch den Gutachter, SMA und Partner AG (SMA), aus der Schweiz war verabredet worden.

Ebenso wie Millionen Bürger haben wir als Beteiligte unser Vertrauen in diesen Prozess gesetzt. Auch zum Zeitpunkt der Volksabstimmung ging die große Mehrheit der Wahlberechtigten bei der Stimmabgabe davon aus, dass das Verfahren regelgerecht abgelaufen war. Eine gute Woche vor der Volksabstimmung waren jedoch die Vorwürfe aus der Analyse von Dr. Christoph Engelhardt veröffentlicht worden, einem Experten der Stresstest-Präsen¬tation. Demnach besteht der dringende Verdacht, dass bei der Durchführung des Stresstests vielfach gegen die maßgebliche Konzern-Richtlinie 405 „Fahrwegkapazität“ der DB AG verstoßen wurde, die die Bahn auch als Grundlage der Simulation angegeben hatte. Die Abschätzung der notwendigen Korrekturen für eine regelgerechte und realitätsnahe Abbildung des Bahnverkehrs führt laut WikiReal auf eine Leistungsfähigkeit von lediglich 32 bis 38 Zügen in der Spitzenstunde. Dies würde einen nach § 11 AEG genehmigungspflichtigen Rückbau der Kapazität bedeuten und bisherige Nutzen-Kosten-Rechnungen ungültig machen.

Auf dem neuen Faktencheck-Portal WikiReal.org sind die Stresstest-Fehler in großer Detailtiefe dokumentiert und werden von einer ständig wachsenden Gemeinschaft ergänzt und ausgearbeitet. Zahlreiche Wissenschaftler und Bahnfachleute haben sich der Kritik angeschlossen. Weder die Deutsche Bahn noch SMA konnten oder wollten bisher die Vorwürfe nachvollziehbar ausräumen (siehe Anlagen).

Dieser Aufruf sowie die ständig aktualisierte Liste der Unterzeichner findet sich HIER oder im Originaltext unter: de.wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/Stresstest/Aufruf

Dr. Christoph Engelhardt,
www.bei-abriss-aufstand.de/2011/12/15/aufruf-zum-unterzeichnen-schwerwiegende-fehler-und-richtlinienverstose-im-stuttgart-21-stresstest/
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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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