S21: Geißler, Mut und Wahrheit

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Wahrheit ist ein großes Wort. Vor allem in der Politik, wo es im alltäglichen Klein-Klein – das in Wahrheit häufig eher ein Groß-Groß ist – darum geht, tragfähige Kompromisse zwischen geringsten Übeln zu finden. Aber Herr Geißler ist mit großen Worten und der großen Geste eines „Baustopps“ in diese Schlichtung gegangen und gleich einmal als Bettvorleger der Herren Grube und Mappus gelandet. Für jeden anderen hätte dies das Medien-Aus bedeutet. Nicht für Herrn Geißler, der es im Verlauf der Schlichtung trefflich verstand, mit seiner Dominus-Attitüde und seinen Anekdötchen die unausgesprochene Marke „Geißler-Show“ zu etablieren und damit alle TV-Talks auf einen Streich auf die hinteren Ränge zu verbannen.

Dabei war viel Rede von etwas Neuem in der Demokratie, hinter das man in der Politik nicht mehr zurück könne: «Es ist ein Experiment, es ist noch nie da gewesen», hatte der ehemalige CDU-Generalsekretär Geissler zu Beginn gesagt. Die öffentliche Debatte solle dafür sorgen, dass die interessierte Bevölkerung in der Lage sei, «selbständig zu denken und sich aus der eigenen Unmündigkeit zu befreien» (1). Oder: „Wir haben das Gegenteil von dem gemacht, was bisher üblich war, wir haben alles öffentlich gemacht. Nur so kann man künftig Projekte für die Zukunft entwickeln“(2). Und von Transparenz war die Rede. Von Augenhöhe. Von „alles auf den Tisch“.

Konnte man Herrn Kefers „Jobangebot“ an Boris Palmer noch als „Augenhöhe“ interpretieren, sein widerwärtiger Geschäftsschädigungsversuch gegenüber Herrn Vieregg war es gewiss nicht. Und von „alles auf den Tisch konnte bei der DB schon gar keine Rede sein. Nichts auf den Tisch wäre näher dran. Also auch hier wenig mehr als Bettvorleger. Aber keiner will es mehr sehen. Zu schön war die Geißler-Show. Zu melancholisch ihr Ende. Womit sollen die alternden Singles nun ihre Tage verbringen? Woher sollen die Journalisten – trotz aller Mängel – in Zukunft so viele Informationen mit so wenig Recherche-Arbeit bekommen? Da sieht man doch gerne über Vertuschung, Vernebelung und Intransparenz hinweg. Ist man ja auch gewohnt.

Und Neues, hinter das man nicht mehr zurück könne? Geißler selbst hat es noch vor der siebten Schlichtung wieder zurückgenommen, indem er der Presse steckte, was er in seinem „Schlichterspruch“ zu sagen vorhabe. „Mein Votum wird auch stark davon abhängen, ob die zu bebauenden Grundstücksflächen bis zum Jahr 2020 vor Immobilienspekulation geschützt werden können“, hieß es bereits am 25.11.2010 vorauseilend in der FAZ . Sein Vorschlag zur Schlichtung werde möglicherweise Nachbesserungen an „Stuttgart 21“ enthalten. Damit seien abermalige Mehrkosten nicht ausgeschlossen (3).

Und damit auch keine Unklarheiten darüber entstehen mögen, woher der neue, alte Wind weht, versäumt es Herr Soldt von der FAZ nicht, zu erwähnen, dass Ministerpräsident Mappus zu Beginn der Woche angekündigt hatte, durch die Schlichtung entstehende Mehrkosten mitzutragen. Auch verwies er auf Gerhard Heimerl, den Erfinder der ICE-Trasse von Wendlingen nach Ulm, der für mindestens vier Stellen des neuen Schienennetzes Nachbesserungen in Form von zusätzlichen Gleisen empfohlen hatte.

Wieder mal einer jener Zufälle, mit denen uns in den letzten beiden Schlichtungsrunden so einiges erklärt werden sollte – auch wenn es bei den Wasserschutzzonen in Stuttgart „Gott“ genannt wurde (4)? Oder perfekte Teamarbeit? Der neue Wind jedenfalls, von dem sich Geißler spätestens seit dem Vortrag der Wirtschaftsgutachter am 7. Schlichtungstag willig treiben lässt, weht aus Richtung Arroganz der Macht. Und von der sollte diese Republik sich ja unter anderem durch die Schlichtung verabschieden.

Ich jedenfalls hatte während der letzten beiden Schlichtungstage des öfteren den Eindruck, dass Geißler zumindest anfangs sehr genervt reagierte, wenn die S21-Kritiker Schwachpunkte des Projektes aufzeigten und sie konsequenterweise auch einige Male abblockte. Erst später schien er sich den unerwünschten neuen Erkenntnissen nicht mehr vollständig entziehen zu können. Da geriet die „Skizze“ wohl vorübergehend ins Wanken.

Ich selbst habe mir die Schlichtung auf die Sachargumente hin angeschaut und mein subjektives Resümee ist eindeutig: K21 besticht in der Summe, S21 steht ziemlich nackt da. Geißler hätte also die Chance, mit einer sachlichen Auflistung von Pro und Contra für beide Projekte der „mündigen“ Öffentlichkeit die Chance zu bieten, sich ein einigermaßen objektives Bild zu machen. Dazu noch die Empfehlung, die Meinung der Mehrheit einzuholen, und die Schlichtung hätte mehr erreicht, als man anfangs erwarten konnte.

Damit aber hat solches gar nichts zu tun: „Ich bin nicht der Heilige Geist und als Tröster geeignet.“ Und dies halte ich schlichtweg für eine falsche Aussage: “Durch die Versachlichung der Thematik müssten beide Seiten klar sehen, dass es nicht möglich ist, S 21 mit dem neuen Tiefbahnhof und K 21 mit der Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofes auf einen Nenner zu bringen"(7). Denn, wenn man sich anschaut, was die Schlichtung an Ergebnissen erbracht hat, dann bietet sich ein Kompromissvorschlag nach üblichem politischen (Koalitionsverhandlungs-)Brauch ohne viel Nachdenken an.

Klar dargelegt wurde die Überlegenheit des bestehenden Kopfbahnhofs, dessen „Ertüchtigung“ allerdings längst überfällig ist – und wohl auch im Falle von S21 nötig wäre, will man kein Sicherheitsrisiko eingehen. So schnitten im Vergleich sowohl das Betriebskonzept wie der mögliche Fahrplan bei K21 eindeutig besser ab. Dass die Spitzenkräfte der Bahn die politischen Vorgaben von S21 in all den Jahren nicht besser in die Praxis umsetzen konnten, spricht nicht gegen diese Fachleute, sondern gegen die unsinnigen Vorgaben, die offenbar nicht in befriedigende Bahnpraxis umzusetzen sind.

Extrem überlegen ist der Kopfbahnhof in den Bereichen Sicherheit im Katastrophenfall und Behindertengerechtigkeit, was wohl auch erklärt, weshalb diese beiden Punkte selbst in Zeiten von Terrordebatten von den unterstützenden Medien pflichtschuldigst totgeschwiegen werden.

Ein eweitere Überlegenheit ergibt sich daraus, dass K21 mit und ohne Neubaustrecke funktioniert. Das bedeutet für die Neubaustrecke (NBS) mehr Freiheit bei der finanziellen und zeitlichen Ausgestaltung. Und schließlich sprechen die geringeren Kosten und die zahlreichen Optionen bei K21 für dieses Projekt, sowie die Möglichkeit der stufenweisen Umsetzung, die auch für die Bauindustrie günstiger wäre, da Arbeitsplätze über einen längeren Zeitraum gesichert würden.

Auch der Schlossgarten und der Hauptbahnhof müssten nicht weiter zerstört werden und die Belastung der ohnehin bereits überlasteten Stuttgarter Innenstadt durch die Baumaßnahmen wäre weniger massiv.

Für S21 sprechen – neben einem massenhaften Gesichtsverlust - eigentlich nur der größere Flächengewinn und die weitgehend abgeschlossene Planung. Allerdings ist hier, wie bei K21 auch, die Finanzierung noch nicht gesichert, da die Finanzierung der NBS eine Lücke aufweist und S21 ohne die NBS nicht geht. Und die Kosten sind höher und schränken damit die Finanzierung anderer, notwendigerer Bahnprojekte in Baden-Württemberg ein.

Die Kompromisslinie unter Berücksichtigung des Gemeinwohls scheint also klar. Gebaut werden könnte die NBS für ca. 2,9 Mrd (Kostenvorstellung der DB). Das wäre zwar teuer und nicht unbedingt rational, hätte aber wenigstens einen behaupteten geringfügigen Nutzen für größere Teile Baden-Württembergs und die Fahrgäste im europäischen Fernverkehr. Dieser Preis würde den Befürwortern gezahlt.

Die Gegner bekämen dafür K21 für geschätzte 2,5 Mrd Euro. Geht man davon aus, dass der Tiefbahnhof mindestens 4,1 Mrd (DB) plus mindestens 500 Mio Euro für die von Heimerl und Geißler für notwendig gehaltenen Nachbesserungen kostet und [Update] bis 2020 ca. 340 Mio Euro Ersatzinvestitionen in die oberidischen Anlagen erforderlich sind (5), ergäbe sich daraus eine theoretische Ersparnis von ca. 2, 5 Mrd Euro, die dann, dritter Teil des Kompromisses, für andere notwendige Bahnprojekte in Baden-Württemberg eingesetzt werden müsste. Die Grünen nennen dafür einen Investitionsbedarf von ca. 5 Mrd Euro. Davon könnte, je nach Höhe der Ausstiegskosten (600 Mio - 1,5 Mrd ?), durch diesen Kompromiss zumindest ein Teil aufgebracht werden (6).

Dieser mal eben so aus dem hohlen Ärmel geschüttelte Kompromissvorschlag käme einer Win-Win-Win-Situation gleich. Umso mehr verwundert es, wenn der „Schlichter“ nun sagt: „Es ist sehr schwer, beide Positionen auf einen Nenner zu bringen. Ja, es ist nicht möglich".Und dass ein Volksentscheid zwar prinzipiell etwas Richtiges sei – und im konkreten Fall auch die einfachste Lösung. Aber bei Stuttgart 21 fehle dafür eine rechtliche Basis und der Landtag habe eine Volksabstimmung abgelehnt. Als Schlichter könne er aber nichts vorschlagen, was unrealistisch sei (7). Unrealistisch, Version CDU, müsste es wohl korrekt heißen.Mut und Unparteilichkeit sehen anders aus. Und selbst wenn man einräumt, dass Geißler sichtbar wegen seines Alters nicht alles in der Schlichtung so richtig mitbekommen hat, so sind seine jüngsten Erklärungen doch aus dem Schlichtungsprozess selbst nicht mehr erklärbar und es stellt sich der Verdacht ein, dass da einer wieder einmal den „Rebellen“ gibt, um anschließend vor der Parteiräson den Schwanz einzuziehen.

Und die FAZ nährt diesen Verdacht geradezu unverfrohren: „Geißler ist 1930 in Oberndorf am Neckar geboren. Mit dem späteren Ministerpräsidenten Erwin Teufel baute er die örtliche Organisation der Jungen Union auf. Seine politische Karriere begann er als Büroleiter des Landessozialministers Joseph Schüttler...Mit Teufel ist er bis heute befreundet.“ Und Teufel ist bekanntlich einer der Väter und heftigsten Beförderer von S21.

Legendär ist auch der Ausfall des heutigen Attac-Mitglieds gegen die Friedensbewegung: „Als CDU-Generalsekretär handelte er sich den zweifelhaften Ruf ein, der „schlimmste Hetzer“ des Landes zu sein. Das war zur Hochzeit der Friedensbewegung. Geißler hatte gesagt, der Pazifismus der dreißiger Jahre habe den Holocaust erst möglich gemacht, und eben mal Appeasement-Politik mit Pazifismus gleichgesetzt.“ Für einen gläubigen Katholiken nicht unbedingt überraschend, für den Sohn eines Zentrumspolitikers aber vielleicht doch etwas deplatziert (2). Jedenfalls zeigt das Beispiel wie schamlos weit Geißler für die Zwecke seiner Partei damals zu gehen bereit war.

Und heute? Am Dienstag wissen wir voraussichtlich mehr.


Update Ausstiegskosten: 29.11.2010, 10:00 Uhr

Quellen:

(1)www.nzz.ch/nachrichten/international/schlichtung_um_stuttgart_21__und_was_dann_1.8451145.html

(2) www.faz.net/-01kp8f

(3) www.faz.net/-01kl5a

(4) www.stern.de/politik/deutschland/interne-dokumente-zu-stuttgart-21-bahn-verschwieg-kosten-fuer-s21-1626945.html

www.stern.de/politik/deutschland/stuttgart-21-schwere-fehler-in-der-bibel-1627395.html

www.stern.de/politik/deutschland/stuttgart-21-schlichtung-mappus-rechnet-mit-den-gruenen-ab-1627962-photoshow.html

(5) www.bei-abriss-aufstand.de/wp-content/uploads/2010/11/2010-11-26_Frageliste.pdf

(6) http://gruene-gegen-stuttgart21.de/s21-wurde-auf-41-milliarden-euro-schon-gerechnet/1121/

(7) www.badische-zeitung.de/weder-einigung-noch-volksentscheid

Siehe auch:

Kommentar

www.unsere-stadt.org/?p=2415

Presseerklärung der Parkschützer

www.bei-abriss-aufstand.de/2010/11/28/presseerklaerung-kantersieg-fuer-s21-gegner/

Grundsätzliches (Herbert Marcuse 1965 über repressive Toleranz, deutsche Übersetzung)

www.marcuse.org/herbert/pubs/60spubs/65reprtoleranzdt.htm

Aus der Ergänzung 1968:

www.marcuse.org/herbert/pubs/60spubs/65repressivetolerance.htm

UNDER the conditions prevailing in this country, tolerance does not, and cannot, fulfill the civilizing function attributed to it by the liberal protagonists of democracy, namely, protection of dissent. The progressive historical force of tolerance lies in its extension to those modes and forms of dissent which are not committed to the status quo of society, and not confined to the institutional framework of the established society. Consequently, the idea of tolerance implies the necessity, for the dissenting group or individuals, to become illegitimate if and when the established legitimacy prevents and counteracts the development of dissent. This would be the case not only in a totalitarian society, under a dictatorship, in one-party states, but also in a democracy (representative, parliamentary, or 'direct') where the majority does not result from the development of independent thought and opinion but rather from the monopolistic or oligopolistic administration of public opinion, without terror and (normally) without censorship.“

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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