S21: Lügentsunami über Stuttgart?

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Stuttgart-21-Gegnern geht die Puste aus“, titelte Florian Gathmann noch am 15. Juni 2011 auf SPIEGEL Online und textete: „Stell dir vor, die Bahn baut weiter an S21 - und nur ein paar Dutzend Gegner kommen zu Blockaden. Rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof sind die Proteste seltsam erlahmt. Die Kritiker des Prestigeprojekts fühlen sich von der Bahn hintergangen und von der neuen Regierung im Stich gelassen......Der S-21-Protest, das zeigen die vergangenen zwei Tage, ist in der Krise.... Grube scheint sich seiner Sache inzwischen so sicher zu sein, dass er die Partei von Ministerpräsident Kretschmann selbst öffentlich attackiert. Den Grünen sei vor der Landtagswahl bekannt gewesen, dass sie nicht aus den vereinbarten Verträgen herauskämen, sagt der Bahn-Chef. "Alles andere, was sie gemacht haben, ist Volksverdummung und ist Wählerfängerei.“.... Von der Bahn fühlen sie sich hintergangen, von der Landesregierung nicht ausreichend unterstützt. Und die eigenen Leute bleiben im Moment zu großen Teilen lieber zu Hause, als sich nochmals in den Kampf gegen S21 zu stürzen."

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,768600,00.html

Ob der Stuttgarter Widerstand nun den SPIEGEL gelesen und wirken lassen hat, ob es die eskalierenden und von Provokationen begleiteten Wortbrüche, Tricksereien, Täuschereien und frechen Abschmettereien zunehmender kritischer Einwände durch Bahnvertreter waren oder alles zusammen, nach der 79. Montagsdemonstration jedenfalls hatten all diejenigen, die beim angeblichen Ende eines Baustopps, der in Wahrheit nie stattgefunden hat, so vergeblich mit ihren Notizblocks und Kameras angereist waren, um endlich wieder ihren „Wutbürger“ in Aktion sehen zu können, endlich das Schlagzeilen-Futter, nach dem sie so lange schon gierten:

Schwere Ausschreitungen in Stuttgart“ titelt z.B. grell die Schwäbische Post, die in Ellwangen ihren 25 000_ plus Lesern offenbar zwischendurch mal etwas Sprengstoff bieten muss – schließlich muss man ja rechtzeitig beginnen, das Volk da draußen auf die mögliche Volksabstimmung einzustimmen..

www.schwaebische-post.de/560267/

Gut, mit dem Sprengstoff selbst dauerte es noch etwas, der fand sich offenbar erst am nächsten Tag:

Bisherigen Erkenntnissen zufolge sind zahlreiche Baustellenfahrzeuge im Gelände teilweise stark beschädigt worden. Es wurden Reifen zerstochen, Radmuttern abmontiert, Sand und Steine in die Benzintanks gefüllt, unzählige Kabel und Schläuche abgerissen und Baumaterial, wie zum Beispiel Wasserrohre und Installationsgeräte zerstört. Auch die betroffenen Baufirmen untersuchen die Beschädigungen an den Fahrzeugen sowie an der Einrichtung am Zentralgebäude des Grundwassermanagements, das gestern Abend von elf Aktivisten besetzt worden war. Offenbar sind auch dort Beschädigungen verursacht worden.

Der entstandene Sachschaden dürfte immens sein, konnte bislang jedoch noch nicht beziffert werden....“

Auch der Sprengstoff an und für sich fand sich schließlich als „ein von Stuttgart-21-Gegnern gezündetes mutmaßliches Selbstlaborat“ (ersatzweise auch eine „selbst gefertigte Knallbombe“ StZ), durch dessen Explosion 8 Polizeibeamte laut offizieller Darstellung ein „Knalltrauma“ erlitten haben sollen. Vier davon sind mittlerweile wieder aus dem Krankenhaus entlassen.

www.schwaebische-post.de/560287/

Laut Staatsanwältin Claudia Krauth hat die Staatsanwaltschaft darüber hinaus in Zusammenhang mit einem schwer verletzten 42 Jahre alten Zivilpolizistens ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag gegen unbekannt eingeleitet. „Der Beamte wurde am Montagabend von Demonstranten an Kopf und Hals verletzt. Zudem wurde versucht, ihm seine Dienstwaffe wegzunehmen.“

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-baustelle-polizei-spricht-von-immensen-schaeden.5e3e9fa7-21f0-4a6f-8e7d-0baf6bf6c832.html

Nun, da wird man sicher noch nähere Informationen von den behandelnden Ärzten usw. bekommen. Es macht jedenfalls schon mal Hoffnung, dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft Körperverletzung usw. wieder als zu ahndende Straftaten betrachtet. Da dürfen die am 30.09.2010 schwer verletzten Demonstranten sich wohl doch noch ein bisschen Hoffnung machen, dass auch die Verbrechen ihnen gegenüber im Namen des Volkes angemessen gewürdigt werden – auch wenn sie dummerweise keine Polizisten sind.

Ich selbst weiß von all dem nichts, obwohl ich selbst bis gegen 20:30 Uhr – außerhalb des unmittelbaren Baugeländes – anwesend war. Allerdings bewegte ich mich photographierend durch die Gegend, so dass ich natürlich nicht immer unbedingt da war, wo gerade etwas passierte. Andererseits meine ich, dass man auch so „schwere Ausschreitungen“ mitbekommen müsste, sonst können sie nicht allzu schwer gewesen sein. Außerdem schnappte ich gesprächsfetzenweise Worte wie „Agent Provocateur“ auf, so dass ich zumindest zeitweise in der Nähe des Geschehens mit dem in den Berichten erwähnten Beamten in Zivil gewesen sein, muss.

Da ich von dem, was innerhalb des Baugeländes passierte, also nur das mitbekam, was weithin sichtbar war, hier ergänzend etwas aus der StZ dazu:

In der Tat haben unzählige Bürger aller Altersklassen die Gelegenheit genutzt, ihren Unmut über die Bahn und Stuttgart 21 am Baumaterial und Geräten auszulassen. Betagte Damen ließen die Luft aus gewaltigen Lastwagenreifen, Familienväter und Rentner halfen einander beim Umwerfen von Paletten. Es flogen mächtige Metallteile, ganze Gruppen harmlos anmutender Protestler versuchten sich am Anzünden von Gummiteilen, die aus den Grundwasserleitungsrohren ragten. Dafür gab es viel Beifall, viele Demonstranten zeigten sich aber auch fassungslos und entschuldigten sich bei den Polizisten.“

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.polizisten-verletzt-stuttgart-21-gegner-stuermen-baustelle.50117fb9-fbcb-4c11-a763-675acbb30c3a.html

Selbstverständlich entschuldige auch ich mich hiermit sofort dafür, dass ich an einer Stelle mit unfreiwilliger Komik gelacht habe.

Mein persönlicher Eindruck an diesem Abend deckt sich dagegen voll mit dem von Matthias von Hermann:

Die Versammlung auf dem Gelände verlief friedlich, es kam zu keinen Ausschreitungen, auch die Polizei verhielt sich sehr ruhig. In gelöster Feierabendstimmung nehmen die Anwesenden ein Stück ihrer Stadt wieder in Besitz.“

www.bei-abriss-aufstand.de/2011/06/20/fotos-von-der-gwm-besetzung/

Ein Eindruck von Außen, wohlgemerkt, kein „objektiver“ Bericht von Innen. Im Übrigen habe ich auch damals bei meinem Besuch in Belfast nichts mitbekommen von den damaligen Unruhen – außer dem Knall, den man bis aufs Land hörte, wo wir am Sonntag Freunde besuchten. Und den hielt ich für einen Überschallknall. Ok, bei der Heimfahrt fehlte dann natürlich ein Geschäftshaus in der Innenstadt....

Was nun den schwer verletzten Zivilbeamten betrifft, so gibt es dazu auch Stellungnahmen von Widerstandsseite. Zum Beispiel:

Laut Polizei war ein 42 Jahre alter Polizeibeamter in Zivil nach seiner Enttarnung von rund einem halben Dutzend Unbekannter zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Dies wies von Herrmann zurück. Der Beamte sei von Demonstranten aus der Menge geführt worden - unverletzt. Von einer feindseligen Stimmung gegen die Beamten könne keine Rede sein.“

www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.eskalierte-montagsdemo-parkschuetzer:-keine-gewalt-gegen-polizei.4c723633-7c92-4d2e-9195-7402a1d516bc.html

Oder:

„.....tauchte Berichten zufolge in der Menge ein mit einer Schusswaffe ausgerüsteter Agent Provocateur und Zivilbeamter der Polizei auf. Aktivisten setzten den Mann fest und führten ihn aus der Menge. Im Video gut erkennbar: der Agent Provocateur ist nicht äußerlich verletzt. Berufsbedingte schwere seelische Störungen können allerdings nicht ausgeschlossen werden.

In den verschiedenen Organen der Informationsindustrie tauchte heute immer wieder ein gleichlautender Satz auf:

“Ein Beamter wurde schwer verletzt, als er einen Demonstranten kontrollieren wollte, der zuvor eine Sachbeschädigung begangen haben soll.”

Wie sie sehen, ist das gelogen.“

www.radio-utopie.de/2011/06/21/stuttgart-video-von-festnahme-des-angeblich-schwer-verletzten-agent-provocateurs-der-polizei/

Zwei Videos hierzu habe ich bislang gefunden, aus denen man zumindest erkennen kann, weshalb es da aggressive Reaktionen gegeben haben kann: Der Mann erinnert nämlich sehr an jenen gewalttätigen Einzel-Polizisten-Täter, der auf Videos vom 30.09.2010 zu sehen war, auch wenn er es – nach meinem Eindruck – nicht ist.

www.youtube.com/watch?v=a95XOs328BQ&;feature=player_embedded

www.youtube.com/watch?v=H8dNzYPCaac&;feature=youtu.be

Das „Knalltrauma“ könnte hier dargestellt sein:

www.youtube.com/watch?v=19K-jOr9fJg&;feature=youtu.be

Zum Schluss möchte ich dann noch zu ein paar Videos verlinken, die den Ablauf des Montagabends in etwa so zeigen, wie ich selbst ihn auch erlebt habe:

www.youtube.com/watch?v=FKEyxG-u2LU

www.youtube.com/watch?v=6K1xeLtIdtk&;feature=player_embedded

www.youtube.com/watch?v=KwHekBvbvNA&;feature=player_embedded

www.youtube.com/watch?v=aPi7v7vvfD4&;feature=player_embedded

www.youtube.com/watch?v=XLm5ZaX_-RU&;feature=player_embedded

Soweit ein schneller „Frontbericht“ von mir, der – nach meinem persönlichen Erlebnisstand – eigentlich nur ein bissle einer ist. Ein tatsächlich schwer Verletzter ist natürlich ein Schwerverletzter zuviel und nicht zu akzeptieren. Auch nicht zu akzeptieren ist allerdings, mit so einer Sache zu Propagandazwecken zu spielen. Also: mal sehen, was am Ende tatsächlich dabei herauskommt.

Update 23.6.2011, 17:10 h:

Als visuelle Zusammenfassung hier noch ein Link zu einer 6stündigen Doku bei Cams21. Das Video scheint mir ein sehr schönes Beispiel von sympathischem Bürgerjournalismus zu sein. Es zeigt aus subjektiver, spontaner, zufällig eingefangener Sicht sehr schön, wie sich die Baustellenbesetzung aus der Perspektive der Teilnehmer und Beobachter darstellte:

bambuser.com/v/1759086

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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