S21-Schlichterspruch: Bürgerverhöhnung 2.0

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Ein Verlierer war bei der Schlichtung nicht dabei: Peter Sloterdijk. Er wurde von Heiner Geißler vielleicht noch mehr vorgeführt als der bürgerliche Widerstand. Im SPIEGEL hatte er unlängst noch unter dem Titel „Der verletzte Stolz“ über „die Ausschaltung der Bürger in Demokratien räsoniert und dabei den Bogen von der römischen „Brot und Spiele“-Taktik der politischen Bewußtseinsausschaltung zur modernen Kulturindustrie als Teil der bürgerlichen Entmannungsstrategien in heutigen Demokratien geschlagen. Sloterdijk nennt es – wie schon gesagt - vornehm zurückhaltend „verletzten Stolz“.

Das Miteinander von Verwaltungsstaat und Unterhaltungsstaat antwortete auf einen Weltzustand, in dem die Machtausübung nur noch durch die weitgehende Entpolitisierung der Reichspopulationen gesichert werden konnte, meint Sloterdijk zum Zeitalter „spätrömischer Dekadenz“ und spiegelt Westerwelles Vergleich auf diesen selbst und die Nomenklatura zurück.

Auch heute fehle es nämlich nicht an Hinweisen, dass wir postrepublikanischen und postdemokratischen Zuständen entgegengehen. Deren signifikantestes Symptom, die erneute Bürgerausschaltung durch eine monologisch in sich verschränkte Staatlichkeit, ist heute auf breiter Front zu diagnostizieren. Dass Politik hierzulande immer mehr dem Monolog eines Autistenclubs nahekommt, zeigt die aktuelle Linie der schwarz-gelben Regierung in Fragen der Atomenergie.“

Allerdings möchte Sloterdijk da – auch in Hinblick auf Stuttgart - nicht ganz folgen:

Wenn heute die Bürgerausschaltung trotz aller Aufgebote an Expertokratie und Amüsierkultur nicht ganz gelingt, so darum, weil man die Rechnung ohne den Bürgerstolz gemacht hat.

Mit einem Mal steht er wieder auf der Bühne - der thymotische Citoyen, der selbstbewusste, informierte, mitdenkende und mitentscheidungswillige Bürger, männlich und weiblich, und klagt vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gegen die misslungene Repräsentation seiner Anliegen und seiner Erkenntnisse im aktuellen politischen System. Er ist wieder da, der Bürger, der empörungsfähig blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libido-Bündel abzurichten, seinen Sinn für Selbstbehauptung bewahrt hat, und der diese Qualitäten manifestiert, indem er seine Dissidenz auf öffentliche Plätze trägt. Der unbequeme Bürger weigert sich, ein politischer Allesfresser zu sein, duldsam und fern von "nicht hilfreichen" Meinungen.“

Die Zukunft „werde bestimmt sein vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen Modus der Bürgerausschaltung“, prognostiziert Sloterdijk, um dann resümierend zu schließen, dass „ keine Regierung der Welt im Zeitalter der digitalen Zivilität vor der Empörung ihrer Bürger in Sicherheit“ sei. Die Postdemokratie müsse daher noch warten. (1)

Das war vor der großen Geißler-Show. Seit heute wissen wir, dass Sloterdijk in seiner Analyse besser auch Herbert Marcuses Essay über „Repressive Toleranz“ von 1965/68 berücksichtigt hätte.(2) Dann nämlich würde er jetzt nicht plötzlich so furchtbar antiquiert wirken. Geißler hat nämlich gezeigt, dass es keiner „monologisch in sich verschränkte[n] Staatlichkeit“ mehr bedarf, um die Bürger demokratisch zu entmannen. Es geht auch - „ im Zeitalter der digitalen Zivilität“ sogar noch viel besser - im Dialog „auf Augenhöhe“. Und schon ist der Bürgerstolz bedient und erschlafft.

Wie schon früher, hat Geißler auch diesmal seiner Partei wieder aufgeholfen, indem er seine Fähigkeit nutzte, über deren bornierten Tellerrand zu blicken, ohne die geringste Absicht, den Teller je zu verlassen. Man erledigt den Bürger 2.0 nicht mit Wasserwerfer und Pfefferspray – in Nomenklatura-Speak: „solche Bilder“. Man erledigt ihn durch Dialog. Lass ihn sich abschuften, um in nicht ausreichender Zeit und mit unzureichenden Mitteln seine Gegenposition aufzubauen. Lass ihn alles bis ins Detail vortragen. Lass ihn zeigen, dass seine Lösung die bessere ist. Und dann sage ihm das, was ihm auch im traditionellen „ Monolog ...[des staatlichen]...Autistenclubs“gesagtwird: Leider, leider nicht möglich. In anderen Worten: Geißler hat der tumben Nomenklatura gezeigt, wie man als gewiefter Jesuitenzögling „Alternativlos“ alternativ gestaltet.

Darum ging es Geißler wohl von Anfang an. Und um die Rehabilitation von Schwarz-Grün. Beides hat er erreicht. Und es war nichts anderes als eine schamlose Bürgerverhöhnung, als heute der Autistenclub anmarschierte und, als ob in den letzten Wochen nichts passiert wäre, seine monologischen Hohlphrasen emittierte. Selbst der sachorientierteste aller Befürworter, Volker Kefer von der Bahn, tat zeitweise so, als ob es die Schlichtung nie gegeben habe:

K21? "Die Finanzierung ist völlig offen."

"Die Realisierung von K21 würde einen Verzug bis 2035 bedeuten".

S21? "Wir stellen die Sicherheit des Bahnhof, sehr geehrter Herr Doktor Geißler, kompromisslos sicher und werden das auch nachweisen".

"Die Wirtschaftlichkeit ... ist gesichert."

"Die Neubaustrecke spielt eine zentrale Rolle. S21 und die Neubaustrecke gehören für uns zusammen."

"Die Bahn wird sich künftig öffnen und mehr Transparenz zeigen". (3) Anmerkung: Sofern die Bahn die Unterlagen nicht für geheim erklärt und man sich vorher schriftlich verpflichtet, 30 Jahre lang zu den Informationen zu schweigen – oder 500 000 Euro Strafe zu zahlen. (4)

Und von da an ging's bergab. Thomas Bopp, MdL, Vorsitzender des Verbands Region Stuttgart:

Mit dem neuen Durchgangsbahnhof S21 wird das Netz verbessert. Und die Reichweite erhöht. Von 2,6 auf über 5 Millionen Menschen. "Wir reden von einem Jahrhundertprojekt".(3)

OB Schuster:

"Wir Schwaben sind ehrgeizig und wir sollten uns ehrgeizige Ziele setzen".

"Zur Demokratie gehört die Freiheit, unterschiedliche Meinungen zu äußern und auch zu demonstrieren - aber auch zu respektieren." (3) Anmerkung: Äußern dürft ihr eure Meinung, zu respektieren habt ihr mein Diktat.

Tanja Gönner, Ministerin:

"K21 ist also ein Baukastenmodell" und ein "großes Risiko".

S21:"Das Sicherheitskonzept ist geprüft und bestätigt: Das Projekt ist richtig."(3)

Stefan Mappus, ihr Chef mit Küsschentendenz:

"Stuttgart 21 möchte ich zu einem echten Bürgerprojekt machen."

"Kein Bauprojekt darf zu einer Vetrrauensfrage der Demokratie wrden. Das ist uns eine Lehre."

"Lassen Sie uns eine neue Weißenhofsiedlung bauen."

"Wir wollen ein familienfreundliches Quartier mitten in der Stadt - und keine Gigantomanie."

"So viele städtebauliche Chancen für eine Großstadt gab es in Deutschland meines Wissens nur einmal - in Berlin, nach dem Fall der Mauer."

"Und wir schaffen viele Tausende Arbeitsplätze."

"Wir werden eine hervorragende Infrastruktur bekommen!"

"Unser Land kann es sich nicht leisten, dass der Zugverkehr der Zukunft wegen der veralteten Gleise links liegengelassen wird."

"Vielen Dank für Ihre Arbeit in den vergangenen Wochen. Es hat eine neue Sachlichkeit gebracht."

"Unser Land kann es sich nicht leisten, dass der Zugverkehr der Zukunft wegen der veralteten Gleise links liegengelassen wird." (3)

Und wenn sie nicht gestorben sind.......

Auch die Kritiker von S21 brauchten im Durchschnitt 7,5 Minuten. Allerdings fassten sie mehrheitlich nochmals ihre Sachargumente zusammen, die – anders als vieles, was die Befürworter vorgetragen hatten - in der Schlichtung der Prüfung unterzogen worden waren und weitgehend bestanden hatten.

Und Geißler? „Ich kann den Tiefbahnhof nur befürworten....“ Und missbrauchte Kant, bot dem Volk reichlich Opium in Form von unverbindlichen Demokratie-Hymnen, allseits bekannten juristischen Alternativlos-Floskeln und unverbindlichen Forderungen, die nach bekanntem Muster „erfüllt“ werden dürften. So braucht Grube die Prüfungen und Stress-Tests natürlich nicht zu fürchten. Und Mappus kennt sogar schon das Ergebnis: er hofft, dass der Stresstest so ausfällt, dass sich herausstellt, dass das Projekt gut geplant ist, so dass Verbesserungen nicht erforderlich sind.

Geißler wiederum verrät so nebenbei, das es ihm um eine „Entschärfung des Konflikts“ ging, während wir alle dachten, es gehe um einen Faktencheck. So erklärt sich auch das Missverständnis, dass wir auf eine Abwägung der Fakten warteten, er uns aber damit abspeiste, dass dies viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Und es erklärt auch, weshalb ihn die Fakten der letzten beiden Schlichtungstage so furchtbar nervten.

Und was ist das Ergebnis? Die CDU ist obenauf. Mappus hat soviel Kreide gefressen, dass an den Schulen eine Knappheit zu befürchten ist und seinen irritierten bürgerlichen Wählern hat er demonstriert, dass er lernfähig ist – auch wenn er die Schlichtungsschule meist geschwänzt hat, was sich folgerichtig in seinen heutigen Äußerungen niederschlägt. Sein Wahlsieg dürfte sicher sein.

Die Grünen werden Wähler verlieren, weil sie die Schlichtung nicht rechtzeitig abgebrochen haben. An die SPD erinnert sich nicht einmal mehr jemand. Der an der Schlichtung beteiligte Teil des Widerstands gegen den Unsinn 21 ist erschöpft, der Rest auf seinen harten Kern geschrumpft: unter 100 000.

Die Bahn schließlich hat bis mindestens März 2011 Zeit und Gelegenheit, die Ausstiegskosten auf astronomische Höhen zu treiben und sich die Antworten auf die Geißlerschen Forderungen zurecht zu simulieren.

Die zeitweise etwas ins Schwanken geratene Nomenklatura und ihre Medien sind – wie ich vom laufenden TV hören kann – happy und wieder voll auf Linie. Ein CDUler schwätzt unwidersprochen den immergleichen Schwachsinn daher, der nun schon mehrfach erbrochen wurde. Man hat an Schwarz-Gelb hinreichend Dampf abgelassen. Die Symbiose von Verwaltungsstaat und Unterhaltungsstaat (Sloterdijk) ist wiederhergestellt. Jetzt kann man sich voll auf die rot-grünen „Wutbürger“ stürzen, denen man doch so weit entgegengekommen ist. Und die sich jetzt so undankbar zeigen.

Der Protestzaun am Hauptbahnhof kommt ins Museum.

Und die am 30.09.2010 schwer Verletzten müssen von heute an mit der Erfahrung leben, von Geißler am meisten verhöhnt worden zu sein.

Es ist, als ob nichts gewesen wäre. Und so war es von Anfang an gewollt.

Statt heißem Herbst gibt es Schnee. Trotz alledem: Oben bleiben!

(1) www.spiegel.de/spiegel/0,1518,727904,00.html

(2) www.marcuse.org/herbert/pubs/60spubs/65reprtoleranzdt.htm#fn1

(3) service.stuttgarter-nachrichten.de/stuttgart-21/stn/?seite=21 service.stuttgarter-zeitung.de/stuttgart-21/stz/

(4) www.bei-abriss-aufstand.de/wp-content/uploads/2010/11/Vertraulichkeitserkl%C3%A4rung.pdf

Die Schlichtung im Wortlaut:

sueddeutsche.de/politik/stuttgart-die-schlichtung-im-wortlaut-1.1030465

Erklärungen der Grünen und des Bündnisses:

gruene-gegen-stuttgart21.de/bewertung-des-schlichtungsspruchs-durch-aktionsbundnis-und-grune-im-landtag/1140/

www.kopfbahnhof-21.de/fileadmin/downloads/Schlichtungsgespraeche/101130_neuntes_Gespraech/101130_Erklaerung_zum_Schlichterspruch.pdf

Die Einschätzung anderer Blogger:

www.politblogger.eu/stuttgart-21-schlichtes-ergebnis/

www.buntgrau.de/index.php/2010/11/30/stuttgart-21-alles-bleibt-offen/#readmore-entry101130-234923

www.unsere-stadt.org/?p=2460

demokratischesstuttgart.wordpress.com/2010/11/30/schlichtungsergebnis-wer-ist-der-wahre-gewinner/

Presse:

www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/stuttgart_21_tatsachen_vollendete_geissler_heiner_1.8521013.html

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,732135,00.html#ref=rss

FAZ-Chronologie:

www.faz.net/-01ku3o

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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