Sechs Teigtaschen gegen einen Arbeitsplatz (Mit Link zum Urteil)

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Jetzt also sind die Maulttaschen dran. Das kulinarische Wappentier der Schwaben ist der neueste fristlose Kündigungsgrund. Nach Pfandbon, Frikadelle, Brötchen, Strom (für private Handy-Aufladung) usw. Man darf gespannt sein, ob morgen die Sauren Kutteln dran sind oder vielleicht gar der Trollinger?

Sechs "gebrauchte" Maultaschen hat eine examinierte Altenpflegerin selbst verspeisen wollen anstatt sie pflichtgemäß dem Müll zu übergeben, wurde vorher ertappt und nach 17 Jahren fristlos gekündigt. Selbstverständlich ist auch sie ein "schwieriger" Fall, denn sie ist 58, auf Altersteilzeit und, laut Gegenanwalt, "praktisch unkündbar", weshalb eine Abmahnung sinnlos sei. Da bietet man doch lieber eine Abfindung von 18 000 Euro an (vom Gericht zeitweise auf 25000 Euro erhöht) und sucht sich eine kündbare Neue - die es eher nicht auf dem Arbeitsmarkt gibt. Man ist doch auch nicht so blöd und lehnt 25 000 Euro ab, bloß weil man "Recht" bekommen möchte. Wer tut denn so was?

Skandal ruft man wieder mal allenthalben und übersieht dabei den eigentlichen Skandal. Denn das "Maultaschen"-Verbot hat seinen Sinn. Altenpflegeheime sind keine Restaurants, sondern Einrichtungen mit tatsächlichen oder gefühlten Abhängigkeiten. Wer will am Ende entscheiden, ob ein alter Mensch freiwillig sein Essen nicht zu sich nahm oder sich vielleicht verpflichtet fühlte, der beliebten Pflegekraft einen Gefallen zu tun? Hatte er/ sie keinen Hunger oder war er/sie nur gerade zu depressiv zum Essen? Darf eine Pflegekraft überhaupt an den eigenen Verzehr des fremden Essens denken oder muss sie nicht vielmehr alles daran setzen, dass alte Menschen genügend Flüssigkeit und Mahlzeit zu sich nehmen?

Andererseits ist es doch auch obszön, wenn man, wie man mir einmal erklärte, alles Essen wegwerfen muss, das auf einer Station war - egal ob irgendjemand es berührt hat. Oder nicht?

Es ist ein heikles Terrain und weder die Medien, noch die Heimleitung noch die zuständige Richterin scheinen es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die Urteilsbegründung scheint mir deshalb völlig unhaltbar. Dort wird nämlich formuliert:

"Es steht im Ermessen des Arbeitgebers, wie er mit seinem Eigentum verfährt und welche Regelungen er auch trifft für die Verwertung von Resten, selbst wenn sie letztlich nichts anderes als Abfall darstellen." (zitiert nach StZ vom 17.10.2009)

Eigentum des Arbeitgebers? Moment mal. Haben die Heimbewohner nicht für Unterkunft, Pflege und Essen bezahlt? Gehören also servierte Maultaschen nicht rechtlich dem, der sie gekauft hat? Wurde, wenn überhaupt, hier nicht ein alter Mensch bestohlen? Könnte es sein, dass Frau Richter das kleine Einmaleins des Vertragsrechts nicht beherrscht? Oder stehen alte Menschen für Gerichte außerhalb des Rechts? Verliert man mit dem Einzug in ein Pflegeheim den Status des Bürgers? Ist man für Gerichte, Heimleitungen und Pflegekräfte nurmehr ein zu vernachlässigender Nebenaspekt, der weiters keine Aufmerksamkeit verdient?

Das hätte nicht nur verhandelt werden müssen, es hätte auch jeder einzelnen Pflegekraft so vermittelt werden müssen. Ein einfacher Aushang ohne Begründung reicht da doch wohl nicht. Und wenn Frau Richterin meint, einer Begründung für ein so ausgesprochenes Verbot bedürfe es nicht, so irrt sie auch hier und offenbart ein ziemlich obrigkeitsstaatliches Menschenbild. Überdies sanktioniert sie ein Verhalten, das geradezu mit dazu beiträgt, dass solche Handlungen auch ohne böse Absicht passieren. Einfach aus Gedankenlosigkeit. Dann aber wird erbarmungslos zugeschlagen. Wegen Verletzung von vermeintlichen Privateigentumsrechten. Weiter reicht der bürgerliche Horizont wohl nicht. Bei Eigentum hört nicht nur der Spass auf, sondern offenbar auch das Denken.

Damit aber wären wir auch schon wieder bei den Pfandbons. Wie kann ein Richter mit intaktem Verstand eigentlich auf die Idee kommen, ein Pfandbon gehöre dem Händler, auf dessen Territorium er gefunden wurde? Der gehört doch wohl dem Kunden, der seine Flaschen abgegeben und dafür den Bon erhalten hat. Oder?

Aber ein Händler, der solche Bons unterschlägt, muss sich vor keinem Gericht verantworten. Wegen 1,30 Euro wird kein Zivilgericht und kein Staatsanwalt tätig. Selbst ein Beamter muss schon mindestens 50 Euro unterschlagen, um entlassen zu werden. Stefan Geiger, der solches in der StZ vom 17.10.2009 schreibt, weist im Weiteren darauf hin, dass Arbeitsgerichte in der Bundesrepublik sich in diesem Aspekt von aller anderen Gerichtsbarkeit durch unmäßige Urteile abheben. Er meint, die Praxis habe sich längst von den Gesetzen gelöst und die Arbeitsgerichte hätten sich in einen Basar verwandelt, auf dem es längst nicht mehr um Recht oder Unrecht gehe, sondern nur um die Höhe von Abfindungen. Wer so dumm sei, auf seinem "Recht" zu bestehen habe große Chancen als Verlierer zu enden. Wie im Fall "Maultasche".

Wichtig auch sein Hinweis, die Rechtssprechung der Arbeitsgerichte sei sehr stark von einschlägigen Kommentaren bestimmt, die von Lobbyisten verfasst seien - gewerkschafts- oder arbeitgebernah. Und wer mehr zahlt, bekommt mehr Kommentare. So einfach mag das sein.

Es wird noch einfacher, schaut man sich die soziale Zusammensetzung der deutschen Richterschaft an. Brandaktuelle Zahlen habe ich nicht, aber zur Orientierung mag genügen, was Röhl in seiner Rechtssoziologie von 1987 sagt. Demnach stammen ca. 90 Prozent der Richter aus der Mittelschicht, zum größten Teil aus der Oberen Mittelschicht. Die Unterschicht, immerhin ca. 55 Prozent der Gesamtbevölkerung, ist schichtenmäßig dagegen mit maximal ca. 8,2 Prozent vertreten. Die Hälfte der Richter stammt überdies aus Beamtenhaushalten, aber nur 9 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Man darf also vermuten, dass in der Regel Menschen über andere Menschen richten, von denen sie (sozial gesehen) keine Ahnung haben. Sie berufen sich dabei auf Fachtexte, die von Leuten geschrieben wurden, denen es ebenso ergeht. Und im Arbeitsrecht sind es auch noch überwiegend Leute, die einseitig Interessen vertreten, wenn sie von "Recht" sprechen.

Das Ergebnis können wir in letzter Zeit vielfach bestaunen. Und dazu rechne ich auch die Tatsache, dass im Maultaschenfall ein Phantomurteil gesprochen wurde, das eigentliche Problem dagegen offenbar nicht einmal zur Sprache kam. Alte Menschen haben ja schließlich keine Lobby, die sie dafür bezahlen können, ihre Situation den Damen und Herren Richtern nahezubringen.

Links zum Beitrag:

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2241779_0_8744_-arbeitsgericht-radolfzell-maultaschen-kosten-frau-den-job.html

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2242021_0_8548_-kommentar-vertrauen-keine-einbahnstrasse.html

www.ruhr-uni-bochum.de/rsozinfo/pdf/Roehl-RS-Kap8.pdf

Mittlerweile habe ich einen Link zur schriftlichen Urteilsbegründung bekommen:

vghmannheim.de/servlet/PB/show/1246875/4-Ca-248-09.pdf

Zur Lektüre empfohlen!

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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