Sozialkunde bei Oberlehrer Precht

"Precht" im ZDF Grande Opera sollte es werden im ZDF. Zwei Diven der Populärwissenschaft mit intellektuellen Koloraturen im Duett. Aber „Precht“ war am Ende nichts weiter als Precht.

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Eigentlich hätte man bereits dem Titel der neuen ZDF-Sendung (Link zur ZDF-Mediathek) entnehmen können, um was es allein geht: „Precht“. Aber dann war da ja noch die irreführende Ankündigung, es gäbe auch noch einen Gast, woraus man wiederum schließen konnte, derselbige habe und dürfe auch etwas (zu) sagen. Mit ihm werde gar diskutiert. Und der Neurowissenschaftler Gerald Hüther hätte als „Gast“ ja auch interessant sein können. Durfte er aber nicht, schließlich ging es um die (Selbst-)Inszenierung von Precht als Super-Precht. Und um sonst gar nichts.

Und der fühlte sich berufen, Herrn Hüther und dem Fernsehpublikum 45 Minuten (=eine Unterrichtsstunde) lang Sozialkunde im Frontalunterricht zu erteilen. Schüler Hüther durfte zwischendurch ein paar Fragen zu seiner Hausaufgabe beantworten. Der Rest der Klasse hörte zu oder kämpfte vor dem Fernsehgerät gegen den Schlaf an. Schuldidaktik wie gehabt: junger, gut aussehender Lehrer versucht als intellektueller Verführer, seinen vorbereiteten Stoff an den Mann/ die Frau zu b ringen. Es geht um optimale Verkaufsstrategien, weniger um gemeinsame Erkenntnis oder gemeinsames Lernen.

Nun machte Precht es zwar insofern besser als andere Talk-Hampel, als er sich auf das Thema „Skandal Schule – Macht Lernen dumm?“ selbst vorbereitet hatte und nicht von anderen beschriebene Karteikarten ablas, weshalb er dann auch nachfragte oder eingriff, wenn es inhaltlich passte und nicht, weil halt eben mal die vorgesehenen x Minuten vergangen waren. Anders aber als bei Sloterdijk und Safranski wurde weder hinreichend vorgestellt, was der Gast dachte und schrieb. Noch wurde kritisch mitgedacht und hinterfragt. Das ZDF hat lediglich in den Bereich der „Philosophie“ fortgeschrieben, was bei anderen Talkshows längst schlimme Regel ist: Schönheit schlägt Kompetenz. „Precht“ ist also Seichtigkeit auf erhöhtem Niveau. Öffentlich-rechtliche Klofrau mit akademischem Studium, um es mit Georg Schramm zu sagen.Ganz so unbedarft wie andere ist der Mann schließlich nicht.

Soviel zur Form. Aber es gab ja auch Inhalt. Und der entlarvte sich bereits im Titel der Sendung als flach vorgedacht. Denn dumm ist in ihrer Pauschalität schon mal die Frage, ob Lernen dumm mache. Zum einen nämlich macht Lernen in der Regel nicht dumm – und falls doch, gibt es ein Problem. Zum andern geschieht Lernen nicht nur in der Schule, wie der ganze Titel andeutet. Dort wird womöglich sogar am wenigsten gelernt – was denn auch im Verlauf der Sendung so fast explizit angedeutet wurde, wenn z.B. (wohl zu Recht) behauptet wurde, nach dem Abitur werde der größte Teil des der Schule Gelernten schnell wieder vergessen.

Womit ich schon wieder bei einer unzulässigen Verkürzung gelandet bin. Denn an der Schule wird ja ganz offensichtlich mehr gelernt als der offiziell gelehrte Stoff, weil Schule nicht gleich Unterricht ist, sondern ein soziales Feld zwischen Gesellschaft und Familie, wo Schüler nicht nur auf Lehrer, sondern auch auf andere Schüler treffen. Und Lehrer wiederum treffen nicht nur auf Schüler, schon gar nicht auf einzelne oder gleiche, sondern auch auf Kollegen, Eltern, Bürokratie. Mindestens.

Schule ist also ein komplexes soziales Geflecht, das ein sehr viel vielfältigerer Lernort ist, als gemeinhin beachtet wird. Und wir gelangen auch nicht als unbeschriebene Blätter an die Schule. Und das sind schon mal zwei womöglich entscheidende Missverständnisse, die vielleicht mit erklären, weshalb Hüthers Kollege Spitzer, der am selben Abend bei der Konkurrenz zugange war, in seinem Buch „Lernen“ etwas verkürzt konstatiert:

Dass die meisten dennoch ihre Kindheit mitsamt Erziehung und Schule halbwegs überstehen, liegt daran, dass Kinder erstaunlich robust sind. Sie suchen sich einfach selbst, was sie gerade am besten lernen können.“ (Spitzer, Lernen, 2002, S. 240 f)

Hier müsste man wohl ergänzen, dass es nicht nur die eigene Robustheit ist, die Kinder so manches überstehen lässt, sondern auch ein vielfältig stützendes, förderndes und korrigierendes soziales Umfeld. Nicht nur in der Schule, sondern auch außerhalb. Wer das aber übersieht, kann Schule nicht wirklich einschätzen. Und deshalb verfehlte die Sendung von vornherein viel von ihrer aufklärerischen Mission – sofern eine solche überhaupt angestrebt wurde.

Dass dies aber nicht grundsätzlich schlecht sein muss, bemerkte ich an mir selbst. Denn, während über den Bildschirm ein Cliché nach dem anderen blubberte, regte sich mein eigener kritischer Geist und arbeitete sich an der Sendung ab, was für einen ehemaligen – neurowissenschaftlich einigermaßen informierten - Lehrer durchaus Neues zutage fördern kann.

Stärker noch als Precht und Hüther ist man als Fachlehrer natürlich auf den vorgeschriebenen Stoff und seine Vermittlung fokussiert. Was am Lernort Schule und daneben noch passiert, bleibt weitgehend unbeachtet – und wäre in seiner Komplexität gar nicht hinreichend zu erfassen. Also lässt man es sein und geht davon aus, dass es im Normalfall schon in Ordnung sein wird. Schaut man sich allerdings eine solche Sendung mit dem Spitzer-Zitat im Hinterkopf an, dann relativiert sich Unterricht doch sehr. Man mag sich vorstellen, wie einzelne Schüler für sie Interessantes/ Nützliches von dem selektiv abspeichern, was ihnen im Unterricht präsentiert wird und ihr Gehirn so langfristig vor Übermüllung schützen. Wie sie sich im Kontakt mit anderen und Medien zusätzlichen „Soff“ aneignen. Wie sie Inhalte miteinander austauschen, ergänzen, korrigieren....

Und schon regt sich der Gedanke, dass Unterricht vielleicht viel zu wichtig genommen und in seiner Bedeutung prinzipiell überschätzt wird. Unterrichtsinhalte stammen zunächst einmal von der Lehrplanstange. Gute Lehrer versuchen, sie für ihre Klassen nachträglich maßzuschneidern. Aber es bleibt ein Einheitskanon, der allen gerecht werden soll, aber auf Einzelne trifft, die ganz Unterschiedliches brauchen und wollen. Und Unterricht versucht, das Minimum an allgemeiner „Bildung“ zu vermitteln, das eine Gesellschaft für ihr Funktionieren und ihren Zusammenhalt für unabdingbar hält. Und das Ganze soll am Ende auch noch justitiabel sein und Interessierten via Zeugnis bestätigen, dass man es mit einem Gegenüber zu tun hat, der innerhalb dieses allgemeinen kulturellen Rahmens steht.

Unterricht ist ein Teil von Schule. Und Schule ist ein Teil von Gesellschaft. Mehr ist da nicht. Und mehr sollte man auch nicht wollen. Immer noch sollte das afrikanische Sprichwort gelten, es bedürfe eines ganzen Dorfes, um ein Kind zu erziehen. Das macht Gedanken um die „richtige Schule“ nicht überflüssig, aber es könnte zu mehr Gelassenheit gegenüber Schule und zu mehr Aufmerksamkeit gegenüber Familie, Peer-Groups, Medien und Gesellschaft führen, die als Lernverbund zu sehen wären, anstatt Lernen ausschließlich und einseitig an Schule zu delegieren.

Schule wäre überdies als Initiationsprozess zu sehen, in dem junge Menschen gesellschaftlichen Ansprüchen und Werten sowie staatlicher Autorität konfrontiert werden. Reibung wäre dann erwünscht und würde nicht, wie es in der Sendung geschah, bloß als „Reibungsverlust“ gesehen. Schule würde nicht nur als Vermittler von „Stoff“ betrachtet, sondern als Ort, an dem Kommunikation und Interaktion mit sozial Ferneren und Autoritäten geübt wird, wo Leistungsfähigkeit ausprobiert und trainiert wird, wo man gesellschaftlich erwachsen wird. Selbst „Sinnlosigkeit“ bzw. der Umgang mit ihr würde - sofern sie nicht durchgängig ist – zu einem Gegenstand von Lernen, das auf ein reales Leben vorbereitet.

Darüber hätte man sich austauschen können und dabei hätte man neue Denkperspektiven entdecken können. Und von daher hätte man sich Schule und Unterricht neu anschauen können. Stattdessen rekurrierte Precht auf Humboldtsche Bildungsideale und einen romantischen Individualismus, dem er kapitalistische Gleichmacherei und ihr “zu Grau Mischen“ entgegensetzte. Die Frage, wie viel Konformismus eine Gesellschaft braucht und wie viele Menschen Konformismus der Individualität vorziehen, stellt sich dem idealistischen Bildungsbürger nicht, der seine eigenen Bedürfnisse als allgemeine und den herrschenden überlegene sieht. Genau solche Fragen wären zu stellen gewesen, wollte man den eigenen bildungsbürgerlichen Konformismus überwinden, der zu Unrecht als individuell daher kommt, wie sich spätestens dann zeigte, als Precht von 80 Prozent Abiturienten in der Zukunft sprach. Wäre das keine Gleichmacherei?

So blieb die Sendung beim vertrauten bildungsbürgerlichen Gejammere, das Spitzer bei der ARD mit seinen Pauschalitäten gegen PC und Internet ergänzend verstärkte. Ein Flop in Inhalt und Form also. Aber vielleicht dennoch informativ für bislang Uninformierte. Sofern die das überhaupt eingeschaltet haben. Precht wäre in seinem schicken Konformismus und Strebertum eine Freude für so manchen Lehrer. Als kluger, kritischer Moderator oder Gesprächspartner erwies er sich in dieser Sendung nicht.

Zum Nach-Sehen:

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1720560/Macht-Lernen-dumm%253F#/beitrag/video/1720560/Macht-Lernen-dumm%3F

Ergänzende Links:

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/geht-in-den-wald-und-trinkt

http://bit.ly/OpfJ4z

http://www.reinhardkahl.de/


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Foto Community-Startseite: Christian Pirjol / ZDF

TV-Kritik zur Erstsendung von "Precht" am 2.09.2012 im ZDF.

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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