Spanien gut, Stuttgart schlecht. Oder: Revolution nach Vorschrift (1)

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Endlich ist sie da, die gute, die wahre Revolution: Jung, sozialer Hintergrund, garantiert ohne Muslimbrüder, vor allem aber weit weg. Was lieben die deutschen Medien doch plötzlich die Spanier! Jedenfalls solange sie bleiben, wo sie sind.

„Hunderte Menschen protestieren in Madrid gegen die spanische Regierung“, staunt Werner A. Perger auf ZEIT Online, wo Sebastian Horn gerade – medial völlig unkommentiert oder gar kritisiert - die hauseigene mediale Demokratie abgeschafft hat. Inzwischen könnte Perger sogar von Zehntausenden schreiben. „Der aktuelle Schauplatz des friedlichen Kampfes um mehr Demokratie, Rechtsstaat und Gerechtigkeit ist das Königreich Spanien“, dekretiert Perger. „Seit 15. Mai weht im Herzen von Madrid, auf dem legendären Platz Puerta del Sol, "der Geist vom Tahrir-Platz". Wow! Alle Alters- und Bildungsschichten seien auf den Plazas zu sehen, aber, und das ist jetzt ganz wichtig: es sind „Systemkritiker, die mehr sind als nur "Wutbürger" mit einem einzelnen konkreten "Das muss weg"-Ziel“.(1)

Ja, so muss Revolution sein. Das könnte der neue, der richtige „ Populismus von unten“ sein, „ ein Modell.... für den Widerstand gegen die Postdemokratie“ in ganz Europa. Nicht dieses nervig-peinliche Stuttgart, wo wohlstandsverwahrloste Halbhöhen-Greise sich gegen den Fortschritt wehren, weil sie beim Sonnenbaden und bei ihren Gartenparties nicht von Baulärm gestört werden wollen. Und dann auch noch konservative grüne Dagegen- Greise wählen, die fortan ihre Privilegien schützen sollen. Nein, jung muss sie sein, die wahre Revolution. Und arbeitslos. Und wenn Stuttgart eben gerade nicht genügend arbeitslose Jugend aufbieten kann: Pech gehabt. Dann gibt es eben auch kein Revolutions-Zertifikat. Da könnt ihr demonstrieren, debattieren, organisieren, protestcampieren und abwählen, solange ihr wollt.

Nein, ich bin nicht eifersüchtig auf die Spanier oder auf Nordafrika. Wir ziehen unser Ding durch, die das ihre. Mich stört auch nicht im geringsten, wenn die Aufmerksamkeit sich dorthin wendet. Im Gegenteil, ich freue mich über das Beben des Kapitalismus nach der frech-obszönen Spekulanten-Orgie auf Kosten der anständigen Mehrheit, der man anschließend durch seine politischen Lakaien die fettige Rechnung präsentieren ließ. Und ich bin auch bereit, hier wie dort zu unterstützen, wo das Not tut – was die S21-Gegner im Übrigen auch längst tun: „Um die Nachrichten besser zu bündeln, hat er sich deshalb in Deutschland Hilfe geholt: bei der Piratenpartei und bei den Stuttgart-21-Gegnern. Jetzt gibt es ein zentrales Portal für Livestreams“, berichtet z.B.das ZDF (2). Und europeonline-magazine bestätigt die Nachricht: „In Spanien lernen Demonstranten von den Wutbürgern, den schwäbischen Gegnern von Stuttgart 21. Eine Gruppe von Demonstranten in Baden-Württemberg überträgt seit längerer Zeit Kundgebungen gegen das Milliarden-Bahnprojekt live ins Netz. «Da kam uns die Idee, wir könnten auch den Spaniern helfen, weil sie unzufrieden waren mit der fehlenden Berichterstattung über ihre Proteste», sagte Tobias Raff, einer der Mitinitiatoren der Seite «Cams21», am Donnerstag. Er bestätigte damit einen entsprechenden Bericht der Online-Ausgabe der «Rhein-Zeitung».“ Und das passierte nicht in deutsch-aufdringlicher Besserwisserei, sondern auf eine Bitte aus Spanien hin (3).

So muss es sein. Wir sind eine Bewegung und haben denselben Gegner. Und was mich empört ist der durchsichtige Versuch des Mainstream, die Wahrnehmung dieser Gemeinsamkeit zu vernebeln. Diese heuchlerische Art, das, was im eigenen Land passiert, abzuwerten, zu diffamieren, totzuschweigen, während man die aufmüpfigen Kirschen in Nachbars Garten umso lauter preist. Es sind die faulen Krokodilsfreudentränen des hiesigen bürgerlichen Journalismus, der die spanischen „Mutbürger“ bejubelt (4), den antikapitalistischen Protest vor der eigenen Haustür aber als dumpfes „Wutbürgertum“ diffamiert. Und es ist jenes dümmlich-linke Verkennen dessen, was in Stuttgart tatsächlich passiert als Kampf gegen einen Bahnhof, wo man doch besser gegen Hartz IV kämpfen sollte. Als ob man nicht natürlicherweise den Kapitalismus da bekämpft, wo er einem selbst am meisten weh tut. Und wenn es eben gerade die Zerstörung der Stadt durch Kapitalinteressen und eine korrupte Politik ist, die die Menschen zum Widerstand zusammenführt und man halt in einer boomenden Region lebt und kein Hartz IV-Empfänger ist, dann entzündet sich der Protest eben daran.

Wie blöd ist das alles eigentlich? Und wie dumm-deutsch? Ist ein Machtwechsel nur dann zu begrüßen, wenn er aus den „richtigen“ Motiven heraus erfolgt? Wenn die Linkspartei an der Regierung beteiligt werden muss? Glaubt irgendjemand im Ernst, in Baden-Württemberg hätte es einen Machtwechsel gegeben, wenn die Linkspartei, die vorbildlich den Widerstand hier mitgetragen hat, das Zünglein an der Waage gewesen wäre?

Und dann auch noch ausgerechnet die „Schwaben“, diese dämliche Randpopulation, die nicht mal verständlich reden kann. Was kann von dort schon rechtes kommen. Stuttgart, das ist doch ein Ort zum Flüchten. Da sind sich „Kapital“, „Arbeit“ und „Intelligenz“ einig. Kooperation statt Revolution. So muss es sein. So hat das schon immer funktioniert. Der gemeinsame Feind eint.

Vielleicht ist das, was sich derzeit in der BRD abspielt – 76 Wochen aktiver und erfolgreicher Widerstand hier, blanke Missachtung dort* – ein Lehrstück darüber, weshalb es mit Revolutionen hierzulande nie so recht klappen wollte. Vielleicht sind wir einfach zu blöd dazu. Nach dem Motto: Hartz IV, Arbeitslosigkeit, Abbau des Sozialstaats und eine zunehmende einkommensmäßige Spaltung der Gesellschaft sind zwar schlecht, aber wenn wir uns ausgerechnet von Stuttgart zur Revolte anregen lassen sollen, dann lassen wir es doch lieber. Wobei man statt Stuttgart auch Gorleben sagen könnte. Revolution hat gefälligst aus Berlin zu kommen. Oder wenigstens aus Frankfurt. Jedenfalls nicht aus Stuttgart. Das wäre doch peinlich. Ausgerechnet Stuttgart!

Nein, hier muss immer noch alles streng nach Vorschrift gehen. Und Papst Karl mit seinem Monsignore Engels haben einen Widerstand gegen Bahnhofsprojekte eben nun mal nicht vorgesehen. Und auch keinen Schwabenstreich. Oder einen mit Krempel vollgehängten Bauzaun. Wer macht denn sowas. Ist doch kindisch. Barrikaden müssen brennen für den Sieg! Und dann missbrauchen die auch noch unsere heiligen, artengeschützten Montagsdemos für ihre kleinkarierten Zwecke. Widerlich sowas.

Frau Merkel ist da klüger. Die wusste wohl, weshalb sie die Landtagswahl zur Volksabstimmung ausgerufen hatte. Die sah, dass da das System insgesamt infrage gestellt wurde. Auch wenn sie nicht „System“ sagte, sondern „Großprojekte“. Aber man muss ja nur auf die Fronten schauen, dann sieht man, wer da gegen wen steht. Aber es schaut niemand. Darauf können sich Merkel, Ackermann & Co verlassen. Und natürlich auch auf ihre willigen Hofberichterstatter, die es nach keinem Bericht versäumten, hinzuzufügen, in Stuttgart gehe es doch bloß um die Tieferlegung eines Bahnhofs. Damit auch ja keiner auf andere Gedanken kommt. Die soll er für die Sachen weiter unten im Süden reservieren. Da gehören sie hin.


* Dazu kommt noch der 15jährige weniger sichtbare Widerstand gegen das Projekt, der durch zumindest irreführende Berichterstattung der lokalen Medien gekontert wurde. In dieser Zweistufigkeit des Widerstandes dürften auch die Konflikte zwischen alten Hasen wie Gangolf Stocker und den jungen Wilden um die Parkschützer liegen. Beide aber haben ihren notwendigen Teil zum Widerstand beigetragen. Stocker & Co haben über all die Jahre zäh und unermüdlich ihre Fahne hochgehalten. Die Parkschützer haben auf dieser bereiteten Basis wesentlich zur breiten Mobilisierung 2010 beigetragen. Auch hier ist ein Punkt, den die bürgerlichen Medien immer wieder nutzen, um Spaltungen in die Bewegung zu tragen.

(1) www.zeit.de/politik/ausland/2011-05/spanien-wahl-proteste?page=all

(2) www.heute.de/ZDFheute/inhalt/4/0,3672,8240196,00.html

(3) www.europeonline-magazine.eu/spanier-lernen-von-schwaebischen-wutbuergern_130048.html

(4) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.proteste-spaniens-mutbuerger-finden-ein-ventil.3a1578e9-0844-4209-acab-d6550cad7f60.html

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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