Spanien gut, Stuttgart schlecht. Oder: Revolution nach Vorschrift (2)

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Die Hofberichterstatter im Lande und im Ländle laufen nach dem Machtwechsel in Baden-Württemberg – völlig unbehelligt – zu Hochform auf. Kaum war die letzte Stimme in Baden-Württemberg ausgezählt, da wurde z.B.schon fleißig das Gerücht gepuscht, Grün-Rot wolle Lehrerstellen streichen. Dass das der Lokalpresse und dem Philologenverband sehr zupass kam, kann nicht überraschen. Umso weniger, als aus der Wirtschaft durchaus Zustimmung zu einem Abschied vom bildungspolitischen Mittelalter zu hören war. Wenn aber die GEW noch heute in der neuesten Ausgabe der hiesigen Mitgliederzeitschrift nicht nur von klarem Wahlbetrug spricht, sollte es ab 2016 als Reaktion auf einen Schülerrückgang solche Streichungen geben, sondern auch noch ebenso ahnungslos wie arrogant nachschiebt, man müsse sich eben vorher überlegen, was man in die Wahlprogramme schreibt, dann ist das ein Gipfel an Solidarität. In solchen Momenten möchte ich solchen Damen & Herren ein Nachsitzjahr mit Mappus und seinem Rau verordnen, damit sie ihre Lernlücken füllen können und sich vielleicht doch noch die Fähigkeit erwerben, differenziert und sachorientiert zu denken, anstatt bloße Besitzstandswahrung zu betreiben (b&w 5/ 2011, Kommentar S. 6).

Und natürlich hatte auch Edelproletarier Uwe Hück von Porsche bei BamS ein dringendes Bedürfnis zu erledigen: Die Grünen seien dabei, „mit ihrer porschefeindlichen Haltung Jobs und Investitionen zu gefährden“ (zit. Nach Sonntag Aktuell vom 15.05.2011). Die Gefahr wäre vielleicht weniger groß, hätte Betriebsratschef Hück im Vorfeld etwas genauer bei den Casino-Spielchen des alten Managements hingeschaut. Aber da ist es doch allemal einfacher, auf gezielte Denunziationen der bürgerlichen Medien hereinzufallen. Kritisches Denken ist schließlich viel zu anstrengend vor und nach Feierabend. Und außerdem schmerzt es, dass die eigene tolle Partei nur auf Augenhöhe mitmachen darf. Auch hier: Besitzstandsdenken statt Zukunftswerkstatt.

Das schlimmste an solchen Ausrutschern ist aber, dass man sich blind und dumm einordnet in eine sich bildende Widerstandsfront von Systembewahrern, die allmählich aus der Lähmung erwachen, in die sie das Möglichwerden des Unmöglichen in Baden-Württemberg gestürzt hat. Es ist eine sehr bunte, sehr unterschiedlich auftretende Front. Sie ist in ihrer scheinbaren Differenziertheit als Einheitsfront nur schwer erkennbar. Und deshalb umso gefährlicher für das Experiment, das die Schwabadener in erstaunlicher Coolness begonnen haben.

Giovanni di Lorenzo z.B. gibt in der ZEIT den Alternativ-Pädagogen, der die Grünen sanft umsäuselt, um gleichzeitig Kretschmann-Äußerungen, die er für konservativ, also wünschenswert hält, positiv zu verstärken. Hetze à la Ypsilanti scheint ihm diesmal offenbar (noch) unangebracht (5). Als Tiger Mom versucht sich dagegen die StZ, wo Thomas Braun und Jörg Nauke indigiert vermerken, dass „nach 75 Montagsdemonstrationen jetzt ... nicht mehr argumentiert, sondern agitiert“ werde (6), um dann etwas zu tun, was diese Zeitung über all die zahlreichen „argumentierenden“ Demos hinweg nie getan hat: sie berichten ausführlich über den Inhalt der Reden an diesem Abend. Umso sie dann zu kritisieren. Dass dies ausgerechnet zwei Redakteure tun, die bislang eher kritisch über S21 berichtet hatten, gibt zu denken. Handelt es sich um Rehabilitationsversuche? Oder ärgert sie, dass „mit rund 1500 hartnäckigen Gesinnungsgenossen...die wöchentliche Veranstaltung ... immer noch stärker frequentiert“ ist „als die meisten anderen Demos in der Republik“? Jetzt habt ihr doch lang genug Demokratie spielen dürfen! Nun ist es aber genug! Ab ins Bett mit euch! Aber natürlich nicht im Protest-Camp im Schlossgarten. Das ist gefälligst vorher sauber aufzuräumen, wie es an zahlreichen anderen Stellen – auch grün und rot gefärbten – seit der Wahl immer häufiger heißt (7). Ordnung muss schließlich sein. Bürger schützt eure Anlagen! Notfalls mit Gewalt. Nur nicht vor Bahn und Kapital.

Und weil dies bislang auch nicht geholfen hat, kommt nun der unvermeidliche Obermobber und -diffamierer der Republik zum Schuss: Henryk M. Broder. Denn Gefahr ist im Verzug. Erst hatte der Chefplaner der Bahn in einem internen Gutachten Risiken von über einer Milliarde Euro aufgelistet. Und nun wirft er das Handtuch. Die Botschaft – ob gewollt oder nicht – ist unüberhörbar. Die veröffentlichte Begründung, Azer habe „sich während seiner Arbeit immer wieder persönlichen Anfeindungen bis hin zu Drohungen ausgesetzt“ gesehen und die Deutsche Bahn habe ihm daher Personenschutz gewähren müssen, scheint doch sehr durchsichtig und unplausibel (8).

Also greift Broder zu seiner besten Waffe, der Projektion: „Einer der besten Ingenieure der Republik ist aus dem Job gemobbt worden“. Schlimmer noch: „und niemand regt sich auf. Das passt gut in ein größeres Bild. Auf dem Weg zur grünen Öko-Diktatur ist die Bundesrepublik gestern einen guten Schritt vorangekommen.“ (9) Huhu Haha! Empört euch gefälligst, ihr Rechten! Das linksgrüne Gesocks verjagt sonst womöglich noch die Vollstrecker eurer Gier und eures Größenwahns! Dann noch ein paar Details weglassen, den grünen Verkehrsminister unvollständig und damit verfälschend zitieren, beiläufig nochnational befreite Zonen” erwähnen und Baden-Württemberg zum Maultaschen- und Kutteln-Staat erklären und der „grüne Mob“ hat sein Broderfett weg. Und Henryk M. hat sich bei der WELT nebenbei ein bisschen Extra-Futter für das Hündchen verdient.

Dass die zermürbenden Kritiker eher bahnintern zu suchen sein dürften, passt nicht ins Brodersche System (10). Winne Hermann umso mehr. Und da ist sich Broder mit einer ganzen Reihe anderer Journalisten einig. Dass Hermann sich nicht pseudodemokratischen Ritualen unterwerfen und gegen sein Gewissen handeln möchte – also den Tunnelbahnhof notfalls wider besseres Wissen und Gewissen bauen - das ist das Allergefährlichste für das herrschende System, das fest darauf setzt, dass auch die Grünen sich korrumpieren lassen – und dazu gehören. Und so ist die Jagd auf den ersten Minister eröffnet (11). Lafontaine lässt grüßen. Was danach unter Schröder-Fischer unvermeidlich folgte, dürfte nicht allzu schwer zu recherchieren sein. Soll es sich nun wiederholen? Wollen wir uns wieder mal dazu verleiten lassen?

…...In Stuttgart findet derweil übers Wochenende ein (möglicherweise) international besuchtes Aktions-Camp statt - sofern es nicht gerade (Samstag) verhagelt wird (12). Die Großkundgebung am Samstag – diesmal wieder mit prominenter Rednerliste - ist leider ausgerechnet vor dem Konstantin Wecker-Highlight buchstäblich ins Wasser gefallen (13). Am Abend fand im Schauspiel die ausverkaufte Premiere des von Volker Lösch inszenierten Theaterstückes "Metropolis/The Monkey Wrench Gang" mit Schauspielern und Stuttgart-21-Gegnern.statt (14). Im Studiotheater gibt es noch das Musical „Die Schlichtung“, von dem die StZ ganz besonders hingerissen ist: „Wunderbar an diesem Musical auf engstem Raum ist, dass es nicht eindeutig Stellung bezieht zu Stuttgart 21......(15). Allerlei „bürgerlicher Scheiß“ halt;) Und Montag ist wieder Demo. Wie gehabt. Die 76.

Die Stuttgarter SPD hat einen neuen Kreisvorsitzenden. Er ist jung, links, hat einen „Migrationshintergrund“ und ist gegen S21 (16). Und die Stuttgarter CDU hat auch einen neuen Kreisvorsitzenden. Der ist schwul, konservativ und pro S21 (17).

Also: Stuttgart lebt und bebt. Aber es muss weder Vorbild noch Maßstab sein. Und es darf auch nicht eine Revolte gegen die andere ausgespielt werden. Im Gegenteil: es gilt, Spaltungsversuche und bewusst eingesetzte (Ab-)Qualifizierungen – ob plump oder subtil - abzuschütteln und konsequent den eigenen Weg zu gehen. Was Stuttgart sein kann ist die Anregung, überkommenes schematisches Denken des Protests zu überwinden, mit offenen Augen und Ohren wahrzunehmen, wo Kapital und Politik übergriffig werden und die Grenzen des Hinnehmbaren überschreiten. Und dort gemeinsam, kreativ und ohne ideologische Ausgrenzungen mit Widerstand anzusetzen. Und durchzuhalten, auch wenn es manchmal unmöglich scheint, Erfolg zu haben. Das Grundproblem hat sich seit Karl Marx nicht verändert, wohl aber seine konkreten Ausformungen. Und deshalb könnte es auch erforderlich sein, in neuer Weise und an neuen Konfliktpunkten darauf zu reagieren.

In diesem Sinne:Liebe Grüße auch nach Spanien. Und viel Erfolg!

Und an Herrn Perger dies: Wie wäre es mit spanischen Verhältnissen im Speersort 1, vor allem aber im völlig verblauten Online-Bereich der ZEIT? Oder sind auch Sie nur ein leerer Schwatzbürger?

(5) www.zeit.de/2011/20/01-Baden-Wuerttemberg-Gruene

(6) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nach-75-montagsdemonstrationen-jetzt-wird-nicht-mehr-argumentiert-sondern-agitiert.c4153049-c639-464b-9fa2-f2c3a453ddd3.html

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kommentar-zum-stuttgart-21-camp-zauberlehrlinge-in-

aktion.541d8fda-d23e-4ca7-a3ad-5d969f3a60b4.html

(7) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kritik-am-protest-zeltlager-woelfle:-wir-brauchen-keine-wachzelte-mehr.e5ec8f01-687b-4d8b-a2eb-d56de5ee232d.html

(8) zughalt.de/2011/05/16/hany-azer-gibt-auf/

(9) www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article13376482/Gruenes-Mobbing-gegen-den-Stuttgart-21-Ingenieur.html

(10) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nach-hany-azers-ruecktritt-drohungen-zerren-am-nervenkostuem.2b290b23-f628-4fff-9d38-3b772039a773.htmlwww.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-azer-wirft-nicht-das-handtuch.9c1fe574-9d70-4dd1-9b9c-23fa2cd46285.htmlwww.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.hany-azer-geht-kommunikation-ist-nicht-seine-staerke.4fced378-9a36-4b8e-b4dc-4d77e4802423.htmlwww.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.neuer-s21-chef-es-soll-ihm-nicht-anders-gehen.b21c7ffd-4a63-405e-ad9a-0a309c8dc70d.html

Und dazu auch unbedingt Arno Luik (STERN) anschauen:

www.youtube.com/watch?v=HYRiKJ29oX8&;;;feature=related

www.youtube.com/watch?v=61ZLjX9nvy8&;;;feature=related

(11) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nach-der-machtuebernahme-gruen-rotes-gerangel-um-stuttgart-21.6df3f843-1801-404c-b037-42ab99ba4068.html

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kuenast-zu-stuttgart-21-nicht-aus-der-verantwortung-stehlen.52e37362-ce91-4552-afff-9d86d5c73c36.html

(12) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.protestaktion-der-parkschuetzer-hunderte-aktivisten-sollen-s21-lahm-legen.3a16bc4d-8777-4cd2-a50d-bec5d13097ee.html

www.bei-abriss-aufstand.de/2011/05/19/baustopp-fotodokumentation-29-3-bis-17-5/

www.radio-utopie.de/2011/05/20/erstes-bundesweites-aktionscamp-in-stuttgart-beginnt-heute/

21einundzwanzig.de/896/aktionscamp-zum-baustopp

www.baustopp-selber-machen.de/

www.baustopp-selber-machen.de/?page_id=763

https://picasaweb.google.com/Thomas.Igler/Stuttgart21S21Camp#

(13) www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=8077728/f6r4ul/index.html

(14) www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.volker-loesch-natuerlich-stresst-das-alle-beteiligten.0f7c945d-f88a-40b7-8cd4-8338ec7ff21d.html

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-im-theater-wem-gehoert-die-stadt.f14336c7-9f41-4d01-89f5-b6e9b77a93f5.html

(15) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.musical-ueber-stuttgart-21-es-wird-beplant-und-optimiert.7e1d6704-d04c-4ca0-9068-e2b756fd5d2c.html

(16) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-dejan-perc-meine-spd-laviert-nicht-herum.310e749e-c136-4ff5-83ca-f87c6df1d4d4.html

(17) www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgarter-cdu-stefan-kaufmann-ist-neuer-kreischef.711ae0c9-167a-40ea-a3dc-d7aaf35300e4.html

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kommentar-zum-sonderparteitag-machtkampf-in-der-cdu.1e814051-917a-4a7a-bf98-a16138add33e.presentation.print.html

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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