Steinbrück-Rhetorik – Schmiedel-Realität

S(PD)21 Beim SPD-Parteitag herrscht hehre Weihnachts(markt)-Rhetorik. In Baden-Württemberg gröhlt zeitgleich Claus Schmiedel profane SPD-Stammtisch-Realität.

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Nachdem Angela Merkel sich mit ihrer Haushaltsrede über "Die beste Regierung seit der Wi(e)dervereinigung" vermutlich erfolgreich für einen Anschlussjob bei der heute show beworben hat, wollten Peer Steinbrück und Siegmar Gabriel sich nicht lumpen lassen. Für ein Dick-und-Doof-Remake gibt es ja vielleicht in Hollywood Steinbrück-kompatible Gagen. Und so verkündeten sie auf dem SPD-Parteitag in Hannover unter dem Motto „Der lustige Sozialstaat der Sozialsoßendemokraten“: "Wenn Sozialdemokraten regieren, geht es dem Land besser".

Es sei die "katastrophale Bilanz" von Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Armut wachse, der Reichtum wachse und die Mittelschicht dazwischen zerrieben werde. "Wir Sozialdemokraten nehmen den Kampf gegen die Armut in unserem Land wieder auf", versprach Gabriel.“

Mit Peer Steinbrück gewinnen wir sichtbar und unüberhörbar beides: soziale und wirtschaftliche Kompetenz, und das gehört zusammen, mitten in die SPD, und da steht Peer Steinbrück für uns", rief Gabriel.“

Der schwarz-gelben Bundesregierung warf Gabriel vor,....eine "Lobbyisten- und Klientelpolitik" zu machen.“

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-parteitag-steinbrueck-will-gerechtigkeit-zum-wahlkampfthema-machen-a-871822.html

Es darf (zynisch) gelacht werden, denn, klar, es war die böse Merkel, die sich mit der Riester-Rente der Versicherungswirtschaft andiente (2001), sich die Deregulierung der Finanzwirtschaft (2002 – 2004) und Steuergesetze (2006) von der Bankenlobby, und Hartz IV von der Großindustrie als Gesetz diktieren ließ (2002). Es war alleine Merkel, die die Sozialpolitik für Zocker-Banken einführte (Hartz Unbegrenzt). Und der gute, ahnungslose und unschuldige Steinbrück stand damals nur zufällig mit im Bild.

http://de.wikipedia.org/wiki/Hartz-Konzept#Hartz_IV_mit_Wirkung_ab_1._Januar_2005

http://bundes.blog.de/2012/05/15/suenden-spd-gruenen-deregulierung-finanzmaerkte-13685227/

http://www.zeit.de/wirtschaft/2012-12/lobbyismus-banken-steinbrueck

http://www.focus.de/politik/deutschland/rechnungshof-ministerien-liessen-lobbyisten-gesetze-schreiben_aid_268156.html

Für all diejenigen, die sich also über die Märchenstunde des Gevatter Gabriel gewundert haben sollten, präzisierte Steinbrück die sozialsoßendemokratische Kernthese vom besseren Regieren, in dem er sie historisch korrekt verortete:

Immer dann, wenn Sozialdemokraten regiert haben, ging es diesem Land besser", sagte Steinbrück. So hätte die SPD unter anderem das Frauenwahlrecht durchgesetzt. "Heute wollen wir das Zwei- oder Drei-Klassensystem im Gesundheitssystem abschaffen." (SPIEGEL, s.o.)

Das mit dem Frauenwahlrecht war vor 94 Jahren, als Sozialdemokratie noch über sozialdemokratische Elemente verfügte:

Nach jahrzehntelangem Kampf um staatsbürgerliche Gleichstellung wird am 12. November 1918 das Frauenwahlrecht in Deutschland gesetzlich verankert.“

Und bereits 10 Jahre später wurde relativierend ausgesprochen, was im Prinzip bis heute gilt:

Die Schriftstellerin und SPD-Abgeordnete Toni Sender sagte 1928 im deutschen Reichstag: "Ihr sagt vielleicht, was hilft uns das Wählen? Das Parlament, was hat uns seine Tätigkeit gebracht in den letzten Jahren, geht es uns etwa besser als früher? Ja, meine Herren und Damen - Sie müssen vergleichen die Reden, die man im Wahlkampf liest mit den Taten, dann wissen Sie, wie Sie zu handeln haben."

http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/719/frauenwahlrecht_in_deutschland.html

Das mit dem einheitlichen Gesundheitssystem: vergiß es.

Die sonstige Wahrheit über die Geschichte des Sozialstaates spricht eher für das Gegenteil der sozialsoßendemokratischen Behauptung: es war die vorübergehend gefühlte Bedrohung der kapitalistischen Herrschaft durch eine sozialdemokratische Opposition und den real existierenden östlichen Staatssozialismus, der( christ-) konservative Regierungen im „Westen“ dazu brachte, vorbeugend eine macht-sichernde Sozialpolitik zu betreiben.

http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialstaat

http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialversicherung#Entstehung_der_Sozialversicherungen

http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/40372/sozialstaat?p=all

http://www.marxists.de/germany/mosler/sozialstaat.htm

http://www.wiwi.uni-rostock.de/fileadmin/Institute/ISD/Lehrstuhl_Makrosoziologie/Lehrmaterialien/Prof._Berger/Seminare_SoSe_07/Soziologie_des_Wohlfahrtsstaates/Geisler_ua_Wohlfahrtsstaat_Handout_2007-04-17_01.pdf

http://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/Leisering/pdf/Der%20deutsche%20Sozialstaat.pdf

Zurück in die Gegenwart und vom Steinbrück-Versprechen zur Claus Schmiedel-Realität, und zu den Früchten, an denen man ihn/ sie – laut Bibel - erkennen soll:

Die Wähler könnten darüber entscheiden, ob es einen flächendeckenden Mindestlohn, verbindliche Frauenquoten, eine bessere Bildung, eine armutsfeste Rente und erschwingliche Mietwohnungen geben solle.“ (SPIEGEL, s.o.)

Als putativer Faktencheck hierzu lohnt ein Blick auf Claus Schmiedel und S21. Die sind nämlich, neben vielem anderen eine aktuelle Fallstudie zur SPD-Realität. Daran, wie die SPD es mit der Rente hält, wurde bereits weiter oben erinnert. "Mindestlohn" verspricht irgendwie auch die CDU. Bliebe also z.B. noch das Versprechen erschwinglicher Mietwohnungen. Und da hat die BW-SPD „erfreulicherweise“ bereits die rosaroten Hosen heruntergelassen und klargestellt, was Sozialsoßendemokraten darunter de facto verstehen:

Heuschrecke frisst 21 000 Wohnungen. Unter diesem Kampfbegriff wird der zweitgrößte Wohnungsdeal der Republik verhandelt. In Verschiss geraten ist die LBBW, die grün-rote Regierung und Stuttgarts Bürgermeister Föll. Die Staatskanzlei sagt, Föll (CDU) habe ... den Milliardendeal versemmelt, der 60 000 Menschen ins Unglück stürzt, weil er sie einer Heuschrecke zum Fraß vorwirft. Alles Mieter der LBBW, die ihre 21 000 Wohnungen auf Geheiß der EU verkaufen und einen Käufer auftreiben musste. Den hat sie in Gestalt der Augsburger Patrizia Immobilien AG gefunden, und der eilt wahrhaft kein guter Ruf voraus (Projekt "Carl"). Nicht zum Zug gekommen ist Fölls Baden-Württemberg Konsortium, in dem sich eher heimische Unternehmen wie die Stadt Stuttgart (25,1 Prozent), R+V-Versicherung/GWG (60), WGV (5) sowie die Bietigheimer Wohnbau, Flüwo und VdK (gemeinsam rund zehn Prozent) zusammengeschlossen haben. Gescheitert sind sie an der Portokasse. An 30 Millionen Euro, die sie weniger geboten haben – bei einem Gesamtvolumen von 1,43 Milliarden Euro. Macht pro Wohnung 70 000 Euro. In Stuttgart. Nahe beim S-21-Areal. ...Und jetzt wundern sich alle. Wie konnte das passieren? Bei einer Bank, die Stadt und Land gehört? In der OB Wolfgang Schuster (CDU), Nils Schmid und Claus Schmiedel (SPD), Klaus-Peter Murawski (Grüne) im Aufsichtsrat hocken? ..[Im]Koalitionsvertrag ... steht: "Wir setzen uns dafür ein, dass die Auflage der EU-Kommission zum Verkauf der von der LBBW-Immobiliengruppe gehaltenen Wohnungsbestände sozial verantwortlich und mit dem Ziel nachhaltiger Bewirtschaftung umgesetzt wird. Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang der soziale Schutz der Mieter und der Beschäftigten vor betriebsbedingten Kündigungen. ...“

http://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/02/panther-gegen-tiger/

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.lbbw-aufsichtsrat-lbbw-aufsichtsrat-entscheidet-fuer-patrizia.2bc700b0-9663-452e-b5de-a8c705872ec6.html

http://solid-stuttgart.de/?p=1403

http://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.lbbw-wohnungen-spd-landeschef-rechtfertigt-wohnungsverkauf.0053c749-9593-4ff3-8bb2-679fdf62f86a.html

http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/wohnungsdeals-in-deutschland-immobilieninvestoren-spielen-wieder-monopoly-a-815288.html

Ei der Daus, wie konnte das bloß passieren? Ganz einfach: Die verkauften Wohnungen liegen - wie schon gesagt - im Einzugsbereich der versprochenen S21- Edelbebauung. Das heißt, hier handelt es sich um geradezu perfekte Objekte für Luxussanierung und Gentrifizierung. Und wer, wie die SPD, sich an der einen Stelle für die Profite der Immobilienbranche verselbstmordet, kann sich an anderer Stelle nicht verweigern. Nur wenn das sogenannte Nordbahnhofviertel „attraktiv“ gentrifiziert wird, lassen sich nämlich die vermutlich völlig überteuerten S21-Grundstücke optimal vermarkten. Und das ist schließlich das Hauptanliegen der Schmiedel-(Schmid-Reißig-) Gang, denen es bekanntlich immer da gut geht, wo ein Bagger (bei Schmiedel gerüchteweise auch: Weizenbier oder Trollinger) steht:

Beton-Schmiedel“ hegt Affinität für Straßenbau und Stuttgart 21 – und ihm wird nachgesagt, im Herzen die CDU für den besseren Koalitionspartner zu halten.“

http://www.focus.de/politik/deutschland/profile-gruen-rot-kein-fall-fuer-zwei_aid_622868.html

Und während sich Schmiedel offenbar im nüchternen wie im adventlichen Glühwein-Zustand nicht lumpen lässt und bei den Staatsausgaben für S21 keine Grenzen kennt, muss Grün-Rot z.B. bei der Bildung leider, leider kräftig sparen:

Ein Ausstieg der Bahn aus dem Milliardenprojekt Stuttgart 21 wegen dramatisch steigender Kosten ist nach Ansicht von Baden-Württembergs SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel undenkbar. "Das ist jenseits der Realität.“...Die Frage ist nicht mehr, was ist wirtschaftlich für die Bahn aus dem Blick von 2009.“...Aus Sicht des SPD-Fraktionschefs müssen die zusätzlichen Kosten für Vorschläge aus der S-21-Schlichtung außerhalb des Kostenrahmens beglichen werden. Das Land könne sich nicht wegducken: "Es waren schließlich die Grünen und auch die SPD, die die Schlichtung verlangt haben." Auch Verbesserungen bei der Trasse zum Flughafen müsse das Land mittragen.“

http://www.n-tv.de/politik/Bahn-steckt-in-Milliardenfalle-article9725441.html

Vor Tische, als der saubere Herr noch mit Gottes Segen hausieren ging, klang Seltsam-Schmiedel noch ganz anders:

Und wenn wir einen Blick zurückwerfen, auf die Auseinandersetzung um die neue Landesmesse, auch damals wurden Horrorzahlen in die Welt hinausgerufen, die neue Landesmesse würde nicht 800 Millionen, sondern 1,8 Milliarden kosten, eine Milliarde mehr. Nichts ist getreten, punktgenau abgeschnitten (?), und so wird es auch in Stuttgart 21 sein.“

http://spd-mitglieder-gegen-s21.de/?p=1552

So wird es sein. Genau. Sozusagen diesseits der Realität sind demgegenüber die Bildungsausgaben. Da darf der Sozialsoßendemokrat getrost weniger generös sein:

Lehrerverbände und Elternvertreter laufen ... Sturm. Der Verband Bildung und Erziehung, der Philologenverband, die GEW und der Landeselternbeirat werfen SPD und Grünen vor, den Rotstift zuallererst bei der Bildung ansetzen zu wollen. Damit werde ein Wahlversprechen gebrochen.“

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-04/spd-gruene-baden-wuerttemberg/seite-2

Heute sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel, er halte den geplanten Abbau von Lehrerstellen im Doppelhaushalt 2013/14 für vertretbar. Bis 2020 sollen 11.600 Stellen wegfallen.“

http://www.gew-bw.de/Binaries/Binary22902/GEW-Wochenecho37.pdf

Bei Hartz Unendlich für die LBBW wissen die Sozialsoßendemokraten sich sogar einig mit den Grünen. (Das im Text erwähnte Bürgerbegehren ist, nach einer negativen Entscheidung des VGH vom Tisch.) Ergänzend:

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kommentar-zum-lbbw-anteil-wer-trifft-eigentlich-die-entscheidungen-im-rathaus.2bf92da4-c180-49d9-9d2b-09925032b6a3.html

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kapitalumwandlung-bei-der-lbbw-wandlung-der-stillen-einlagen-bei-der-lbbw-perfekt.1c3398b4-7520-4e92-8f62-421b51d5a4e0.html

Wundern kann auch das nicht, denn alle „bürgerlichen“ Parteien haben im Aufsichtsrat das Zocker-Treiben der LBBW jahrelang wohlwollend begleitet (der Link bezieht sich auf die aktuelle Zusammensetzung, zeigt aber dennoch ungefähr die üblichen Verhältnisse dort). Und das käme bei einem Crash der LBBW wohl ans Tageslicht. Also, wie bei S21, lieber weiter Geld versenken, als final entlarvt zu werden.

So also sieht heute sozialdemokratische Realität aus, nachdem die „Arbeiter-Mehrheit“ sich im „Wirtschaftswunder“ irgendwie aufgelöst zu haben scheint und man es leider versäumt hat, rechtzeitig Kontakt zum Bürgertum aufzunehmen. Was bei der SPD „Mitte“ heißt, hatte mit Bürgertum nur mal vorübergehend während der Ära Brandt zu tun. Seitdem herrscht vermeintliche „Wirtschaftskompetenz“, worunter spätestens seit Helmut Schmidt das Anbiedern an die Großkonzerne, und seit Schröder das zusätzliche Unterwerfen unter die Interessen der Finanzindustrie zu verstehen ist. Eine Tradition, der sich auch Steinbrück erkennbar verschrieben hat.

Das Bürgertum, der „Mittelstand“ und beider Interessen kommen bei der SPD nicht vor, und der „Arbeiter“ nur in soweit, als er vom Wohlwollen seines Managements profitiert. Dass er im Zweifel an dessen Seite steht, dafür haben die Mitbestimmungsgesetze gesorgt. Und da stehen folglich auch Gewerkschaften und SPD. Wer „draußen“ ist, den beißen die Hartz-Hunde.

Ob im Bund oder in Baden-Württemberg, die SPD belügt schamlos ihre (potentiellen) Wähler und hofiert das Kapital und dessen „Großprojekte“. Nur Lobbyismus darf man ihr nicht vorwerfen, es handelt sich eher um Prostitution. Wenn Steinbrück dies wirklich ändern möchte, dann muss er schnellstens dafür sorgen, dass die Schmiedels und die Ihren entmachtet werden, die SPD sich sofort vom noch verabschiedungsfähigen Großprojekt S21 verabschiedet und sich stattdessen tatsächlich dem widmet, was sie wieder mal verspricht: einer sozialen und gerechten Gesellschaft. Beides zusammen geht nicht.

Zumindest in Baden-Württemberg wird nächstes Jahr aber genau darüber abzustimmen sein. In Stuttgart, und über Personen ausgedrückt, bedeutet das: Peter Conradi - Ja, Dejan Perc - Jein, Andreas Reißig (Schmiedel-Klon) - Nein. Denen sind die tatsächlichen Kandidaten zuzuordnen - falls denn überhaupt noch jemand SPD wählen möchte.

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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