Stuttgart 21: Ein formaldemokratischer Staatsstreich?

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In Stuttgart fällt am 27.11.2011 eine Vorentscheidung darüber, ob wir in der Bundesrepublik wieder zu einigermaßen rechtsstaatlich-demokratischen Verhältnissen zurückkehren, oder ob die herrschende Kaste in Wirtschaft und Politik ihren an den Beispielen Chile (Pinochet) und China orientierten Weg in die Diktatur des Kapitals – beschönigend auch Neo-Liberalismus genannt – leicht irritiert, aber ungebrochen fortsetzen kann. Hassprediger Bräuchle hat recht: es wird wieder über ein Ermächtigungsgesetz abgestimmt. SPDCDUFDP und Kapital suchen über die Volks-„Legitimierung“ des Verfassungsbruches durch die in Art 104a verbotene Mischfinanzierung auch die weitergehende Legitimation dafür, in der Operation „Großprojekt“ auch die real gelebte Demokratie durch ein formal demokratisches Manipulations- und Akklamationssystem zu ersetzen, das den Weg frei macht für das nackte Durchregieren der Kapitalinteressen.

Es geht – in Klartext - um einen formal demokratischen Staatsstreich-Versuch. Und das erklärt, weshalb – vom Rest der Republik kaum oder nur achselzuckend wahrgenommen – in Baden-Württemberg gerade alles aufgefahren wird, was die herrschende Kaste an Geld, Manipulation, Lüge, Betrug, Vernebelung, Verleumdung, Erpressung, juristischem Mobbing usw. aufzubieten vermag. (1)

Dass dies zeitlich mit der Selbstenthüllung einer über Jahre hinweg „unentdeckten“ nazistischen Terrororganisation zusammenfällt, mag Zufall sein. Dass dieser Terror sich aber parallel mit dem neo-liberalen Kreuzzug ab Mitte der 90er Jahre unbehelligt austoben konnte, mag ich nicht mehr als Zufall betrachten. Zu gut passt alles zusammen. Erst das Aus- bzw. Tot-Sitzen des 68er Aufbruchs durch den Bimbes- und „Ehren“-Wort-Kanzler. Dann die öffentliche (Selbst-)Zerschlagung der Gewerkschaftsmacht (2), die nahtlos in den neo-liberalen Kreuzzug überging, in dem der „demokratische[r] und soziale[r] Bundesstaat“ des Art 20,1 GG (3) auf der Basis eines „Rheinischen Kapitalismus“ in eine mit dem Raubtierkapitalismus kompatiblere Deutschland AG umgewandelt werden sollte.(4) Was dies für Mensch und Politisches System bedeuten würde, hatte Robert Jungk früh am Beispiel der Mutter aller Großprojekte in seinem Buch „Atomstaat“ deutlich gemacht. S21 und Gorleben: da fand zusammen, was zusammen gehört. Und hoch vertraut und prophetisch zugleich dürfte in Stuttgarter Ohren klingen, was die FAZ bereits 1978 in einer Besprechung von Jungks Buch (1977) schrieb:

In den Kernkraftwerken dokumentiere sich das Genie unserer Zeit genauso wie das des Mittelalters in den großen Kathedralen. Wolf Häfele, Prophet der Kernenergie, der diesen Vergleich liebt, setzt die Konstrukteure unserer Atomanlagen dementsprechend den Erbauern der Kathedralen gleich. Für Robert Jungk dagegen sind sie die Wegbereiter der vollständigen Unterwerfung des Menschen unter die Allmacht der Techniker und des Staates. In seinem neuen Buch „Der Atomstaat“ bezieht er kompromißlos Stellung gegen die Verkünder einer alleinseligmachenden und ewiges Wirtschaftswachstum verheißenden Kernenergie. Er hat sein Buch, wie er selber sagt, „in Angst und Zorn geschrieben. In Angst um den drohenden Verlust der Freiheit und Menschlichkeit, in Zorn gegen jene, die bereit sind, diese höchsten Güter für Gewinn und Konsum aufzugeben“. Wenn er dabei übersteigert, tut er nichts anderes als die Gegenseite, wenn sie die Risiken der Kernenergie bagatellisiert und ihre Beherrschbarkeit überschätzt.....Der Ingenieur muß schon bei der Planung „Resultate rechtfertigen, die eigentlich noch gar nicht abzusehen sind“, um die Mittel zu bekommen, sein Projekt zu realisieren. Hat er sie, dann steht er unter ständigem Erfolgszwang. Das hat den „verwegenen Forschungsstil“ gefördert, der auf die „nachträgliche Bestätigung seine theoretischen Erwartungen setzt und der nicht dem Zweifel und der Erkenntnis verpflichtet ist, sondern der Spekulation und ihrer Bestätigung“. Dieser Erfolgszwang schließt auch eine freie Information der Öffentlichkeit über kritische Ergebnisse aus, weil sie das Projekt gefährden könnten. “ (5)

Nochmals also: Es geht nicht um Bahnhof, es geht um die „Wurst“. «Von dem Referendum muss ein Signal für den Wirtschaftsstandort Deutschland und Baden-Württemberg ausgehen». Mit diesem Signal aus den dicken Backen des Herrn Hundt begannen also konsequenterweise die organisierten Arbeitgeber am Wochenende nun offiziell ihre gefühlte Entscheidungsschlacht gegen Volk und Demokratie und um die endgültige Absicherung ihres Alleinherrschafts-Anspruchs. Was in der Meldung folgte, ist an Realitätsferne und Uninformiertheit nicht mehr zu überbieten.

Die Wirtschaft benötige die „neue Strecke Stuttgart-Ulm aus logistischen Gründen dringend“, heißt es da unter souveräner Ausblendung der Tatsache, dass dort z.B. schon mal keine Güterzüge fahren können. Und, um auch wirklich keine Peinlichkeit auszulassen, wird schon wieder von der längst abgeschminkten „europäischen Schienen-Magistrale zwischen Frankreich und Osteuropa“ schwadroniert, als ob die Gehirne dieser „Führungskräfte“ im Jahr 2010 bei der Umstellung auf Winterzeit stehen geblieben wären und von der Schlichtung kaum einen Hauch gespüret hätten.

So richtig interessant aber ist die Formulierung, bei Stuttgart 21 handele es sich um „ ein seit Jahren geplantes, durchfinanziertes und auf allen politischen Ebenen genehmigtes“ Projekt [Hervorhebung von mir]. Damit ist auch sprachlich die Maske ab. Auf die angebliche demokratische Legitimation wird unter Vorwegnahme eines Abstimmungserfolges bei der Volksabstimmung schon mal – Pardon! - höchst feudal geschissen. (6) Breit genug sind die kapitalen Ärsche ja.

Und es hallt nach, was bereits 1995 die vielfach zitierte triumphalistische Feststellung Heinz Dürrs gegenüber den Stuttgarter Nachrichten offenbarte, die er voller Selbstüberschätzung kundtat:

Die Art der Präsentation im April 1994 war ein überfallartiger Vorgang.Gegner und Skeptiker sind nicht imstande gewesen, die Sache zu zerreden .Ein Musterbeispiel, wie man solche Großprojekte vorstellen muss." (7)

Dies ist Staatsstreich-Speak pur, eine unverklausulierte Absage an einen der beiden zentralen und – neben Art 1 – in Art 79 vor Veränderung besonders geschützten Säulen unserer Verfassung (8), den bereits zitierten Art 20 GG:

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (3)

In Dürrs an Weimar-Sprech angelehnter, aber diesmal zuvörderst gegen die Bürger gerichteter, Formulierung (9) reduziert sich all dies auf die Vokabel „zerreden“. Und das dürfte das sein, was Unternehmer üblicherweise und unter Kumpels unter Demokratie versteht.

Und Journalist offenbar auch. Anders jedenfalls ist nicht zu verstehen, wie Josef Schunder jetzt, fast 17 Jahre danach, in den Stuttgarter Nachrichten unter dem Titel „Mit einem Überfall beginnt Stuttgart 21“ an jenen denkwürdigen Vorgang erinnert, von einer politischen „Bombe“ schreibt, die die schwarze Schwaben-Mafia aus Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU), CDU-Verkehrsminister Matthias Wissmann (Bund) und Hermann Schaufler (Land) plus OB Manfred Rommel dann weisungsgemäß mit der Projektvorstellung von S21 zündete – um dann allerdings nicht kritisch zu analysieren, was da mit der Demokratie passierte, sondern um in willfähriger Eile alsbald die Propaganda-Vokabel „Vision“ einzuführen, um den Staatsstreich-Versuch in eine himmlische Offenbarung umzuschleimen (10) - wobei man sich dann gerne an das Schmidtsche Diktum erinnern mag, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Hier trifft es ausnahmsweise mal voll umfänglich zu. (11)

Die eigentliche Katastrophe ist im Übrigen, dass dieser Staatsstreich-Versuch nicht bereits damals von den Stuttgarter Medien thematisiert und bekämpft, sondern triumphalistisch hochgejubelt wurde. Und jetzt also soll dieser Staatsstreich-Versuch mit Hilfe nicht oder falsch informierter Massen durch die Volksabstimmung endlich perfekt gemacht werden. Die mehr als 10 000 Menschen, die sich am 21.11.2011 am abgerissenen Nordflügel zur 100sten Montagsdemo versammelt haben (12), haben deshalb nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, vom Widerstandsrecht Gebrauch zu machen, mit dem der Art 20 schließt:

(4)Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. (3)

Dies den Herren Grube und Voßkuhle ins Stammbuch. Das „Ja“ zum Ausstieg ist also auch und vor allem ein Bekenntnis zum Grundgesetz und gegen Verfassungskriminalität. Und dass dies vom Widerstand nicht oder nur leise thematisiert wird, mag dem Versuch geschuldet sein, Polemik zu vermeiden, scheint mir aber ein schweres aufklärerisches und verfassungspartiotisches Versäumnis im derzeitigen Wahlkampf zu sein.

(1) www.nachdenkseiten.de/?p=11378

(2) www.spiegel.de/spiegel/print/d-13497147.html

(3) dejure.org/gesetze/GG/20.html

(4)www.manager-magazin.de/finanzen/geldanlage/0,2828,166879,00.html

de.wikipedia.org/wiki/Deutschland_AG

(5) www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/2.1715/modernes-antiquariat-robert-jungks-kritik-am-atomstaat-1610991.html

(6) www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article13726216/Hundt-fordert-Signal-fuer-Standort.html

(7) www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s-21-zur-schlichtung-und-zur-sache-2http://dejure.org/gesetze/GG/20.html

(8) www.gesetze-im-internet.de/gg/art_79.html

(9) www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2010%2F11%2F23%2Fa0103&cHash=ff7325ce16

(10) www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.anno-1994-mit-einem-ueberfall-beginnt-stuttgart-21.707474a8-f8e4-418d-a582-3e282b5b35e5.html

(11) de.wikiquote.org/wiki/Helmut_Schmidt

(12) www.freitag.de/community/blogs/mcmac/100

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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