Stuttgart 21: Rundgang durch eine nette Revolte

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Als ich gestern den Beginn der Zerstörung des denkmalgeschützten Stuttgarter Hauptbahnhofs (1) als Barbarei bezeichnete hielt ich das heimlich für Polemik und erwartete nicht, dass hiesige Polit-“Größen“ sich dieser Denkmalschändung auch noch öffentlich rühmen würden. Aber selbst wer sich in der öffentlich-rechtlichen Politgeisterbahn schon einmal an Birgit Homburger erschrocken hat, muss nun entsetzt feststellen: Es geht noch schlimmer. Zumindest die hiesige FDP-Fraktion ist in ihrem Niveau schon dort, wo der Bahnhof erst noch hinkommen soll: unterirdisch. „FDP begrüßt Abriss des Nordflügels“ titelten die Stuttgarter Nachrichten noch um 00:16 heute früh. Schließlich muss ein so aufrechtes Beharren auf etwas, das viele hier für blanke Idiotie halten schnellstens bekannt gemacht werden ( www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-fdp-begruesst-abriss-des-nordfluegels.f98f3790-6117-4bb2-bd2f-5a4db2f57078.html ).

CDSPFDP wollen ja auch endlich etwas schaffen, das weder Adolf, das Großmaul, noch alliierte Bomben, noch Auto-Freundliche-Stadt-Fanatiker im Gefolge der Bomben geschafft haben: die Zerstörung des seit fast 100 Jahren etablierten Wahrzeichens von Stuttgart und in der Folge die endgültige Zerstörung dessen, was seit der Neudefinition durch das monumentale „Stadttor“ Bonatzbau das Stadtzentrum war. Die gerade noch so „gute Stube“ der Stadt.

Da wollte die CDU nicht nachstehen und so mancher linientreuen Bloggerkehle entrang sich ein „Endlich“. Schließlich hatte man schon so lange jenes befreiende Gefühl eines Kriegsbeginns vermisst, das der unterdrückte und unterdrückende Spießer fühlt, wenn die ganze angestaute Destruktivität und Nekrophilie endlich mal raus darf.

Als ich mich selbst mit zweistündiger Verspätung - „Nau net hudla“ - endlich zu Fuß dem Geschehen näherte, hörte ich schon von weitem Trillerpfeifen, Getröte, Gehupe. In Berlin oder Hamburg hätte ich Bürgerkrieg und stürzende Regierungen vermutet. Aber hier ist Stuttgart. Hier war „nur“ autofreie Innenstadt. Bis tief in die Nacht. Obwohl die meisten Demonstranten sich zu diesem Zeitpunkt wohl schon verlaufen und der Rest sich auf verschiedene strategische Punkte verteilt hatte.

Aber es waren doch genug Demonstranten da, um zu sehen, dass die von FAZ und anderen so gerne beschworenen Demonstrationsgreise so zwischen 15 und 35 waren. Auch „linksmilitante Demonstrationschaoten“ , von denen Blogger wie Giovanni L. schreiben traf ich. Z.B. den Jung-Papa mit Neubaby im Brust-Tragetuch oder den grauhaarigen Opa in Bermudas, je eine Begleiterin rechts und links und die Tröte in der Mitten, der von einer 40erin auf Fahrrad freundlich gebeten wurde, doch zum Charlottenplatz zu gehen. Dort brauche man noch welche zur Verstärkung der Kreuzungsblockade. Brav machte sich Opa auf einen Weg, den man normalerweise nicht zu Fuß geht. Aber es war ja autofreie Stadt. Und der Weg führte über die Kulturmeile mit Staatsgalerie, Oper usw. Da konnte man sich jetzt so bewegen, wie die Stuttgarter es sich schon lange wünschen. Und würde man statt der Schienen, die außer den Immobilienfritzen niemand stören, die mehrspurige Straße dort auf Maulwurfsniveau bringen, gebe es mit Sicherheit keine Demos. Nicht mal nette, wie diese.

Aber wenigstens jetzt konnte man die Meile endlich einmal so sehen, wie man sie eigentlich immer sehen sollte. Und so ging auch ich zum Charlottenplatz und genoß den neuen, raren Blick auf die neue, „postmoderne“Staatsgalerie und das Haus der Geschichte des James Stirling, der, anders als Maulwurf-Fan Ingenhoven, ein architektonischer Könner ist, der virtuos Traditionelles aus der Stadtlandschaft aufnehmen und in Modernes integrieren konnte – und sich dafür schon mal den Vorwurf einer „faschistoiden“ Architektur einhandelte (2).

Nicht, dass mir alles gefallen würde. Mir ist da noch zuviel „Bonatz“ drin und in jenem zu wenig von jener „Italianità“, die laut Reiseführer „Touring“ kennzeichnend für das heutige Stuttgart ist:

Italienisch noch am stärksten infiltriert sei Stuttgart, "eine der reichsten und lebhaftesten Städte im Terrain des Schwarzwaldes": "Beseelt von Genießergeist" zeige die Stadt "an sonnigen Sommertagen eine fast mediterrane Atmosphäre" ( www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2595815_0_2302_-nationalcharakter-berlin-bier-autobahn.html?_skip=3 ).

Am Charlottenplatz schließlich dasselbe Bild wie an den beiden Kreuzungen zuvor: kein Bürgerkrieg, keine Konfontation, nur eine ruhige, überschaubare Gruppe von BlockiererInnen, ein bißchen Polizei, ein paar Ampeln auf Rot, ein überschaubarer Autostau. Wen sein Weg durch die Unterführungen führte, hatte ohnehin freie Fahrt, sofern er dorthin durchkam. Als ich eine Abzweigung überqueren wollte, über die ein paar Autos flüchteten, wartete einer höflich wie am Zebrastreifen, um mich zu den Blockierern durchzulassen. Ich selbst gestehe, dass ich, gelegentlich selbst staugeplagter Autofahrer, mein klammheiliches Mitgefühl mit den Ärmsten nicht unterdrücken mochte. Soviel Political Incorrectness muss denn doch sein. Jedenfalls in Stuttgart, wo man so nett revoltiert.

Stramm CDU-politically correct dagegen Innenminister Rech - Warum will mein Wortergänzer hier unbedingt „Rechenschieber“ haben? - , der sich seinen Bürgerkrieg von diesem dämlichen Volk dann doch nicht ganz kaputt machen lassen wollte: „Rech zeigte sich auch erbost über die Aktionen am Mittwochabend: „Es geht auch nicht, dass Züge behindert, Rettungskräfte gestört, Straßen blockiert und die Innenstadt lahmgelegt wird“, erklärte er. „Das hat nichts mehr mit demokratischem Protest zu tun, hier werden die Grenzen eindeutig überschritten.“ Die Gegner müssten die demokratischen Entscheidungen akzeptieren und einsehen, dass der Protest viel zu spät komme, Unfrieden und Zwietracht säe.“ ( www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.nordfluegel-demonstranten-wurden-vom-dach-geholt.ce6c1526-d5de-455e-b1c8-0396e1963730.html ). Huch, bin ich bös. Kriminell gar, wie der Polizeipräsident laut SWR findet. Was bin ich doch für ein schlimmer Junge....

Aber mal im Ernst: Es geht ja auch wirklich nicht, dass das Volk seine Meinung kundtut, wenn die Chefs eine ganz andere haben. Man kauft schließlich auch keine Steuer-CDs, die womöglich Daten von potentiellen S21-Investoren enthalten..

Nachdem meine kriminelle Energie auch an dieser Kreuzung nicht gebraucht wurde, wollte ich mal kurz beim Weindorf vorbeischauen, das passender Weise genau an diesem Tag eröffnet wurde. Überhaupt hat unsere schwarzrotgelbe Zwergentruppe ein sehr sensibles Gespür für Timing. Der erste Abrißanlauf erfolgte nämlich am 13. August (Niemand hat die Absicht, Milliarden sinnlos zu versenken, einen Maulwurfsbahnhof zu bauen, eine Bahnverkehrs-Störzone zu errichten, das Mineralwasser zu versauen, den Schlossgarten und ein historisches Baudenkmal zu zerstören...). Ja, manchmal wächst bekanntlich zusammen, was zusammen gehört. Einparteienherrschaft scheint irgendwie ideologieübergreifend zu verbinden.

Im Weindorf Betrieb wie immer. Wer zu spät kommt, den bestraft eben das Leben. Wie gerne hätte ich doch dies vor der Eröffnung hinter Gittern gesehen: "Das ist eine Katastrophe", sagt eine Frau, die zur Eröffnung eingeladen war. Denn auch die Einladung ist nun kein Türöffner mehr. "Wir dürfen niemanden mehr reinlassen", lautet die Antwort des Polizisten.“ ( www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2605481_0_9684_-stuttgart-21-gegner-protest-vor-dem-alten-schloss.html ). Na ja, dem Schuster hat sie zwar wohl nicht mehr girliehaft zukreischen können. Und sein Gewand konnten auch nur die 40 Begleitpolizisten anfassen, um Heilung zu erlangen. Aber zum Wein ließ man später alle durch. Schließlich sind nächstes Jahr Landtagswahlen und da kann es nicht schaden, wenn einige sich vorher noch ein bißchen Hirn kaputt saufen.

Obwohl die Rechtsabteilung von Siemens womöglich ohnehin schon an einem schwarzroten Koalitionsvertrag für ihren zur Regierung der Niederlassung BW vorläufig beurlaubten Herrn Mappus arbeitet, der ja seine Pflichten bislang vorbildlich erfüllt (Kernkraftwerks- und Hochgeschwindigkeitsbahn-Lobbyismus) ( www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2603851_0_9223_-stefan-mappus-ein-jobangebot-von-siemens.html ). Man darf gespannt sein, ob man auch noch ein paar Arbeitsplätze streichen kann, um Finanzmittel freizubekommen für all die Beraterverträge, die, nach herrschender marxistischer Verschwörungstheorie, im Moment eigentlich auflaufen nüssten. Ob das wohl die versprochenen Arbeitsplätze durch S21 sein werden?

Ach, leid tut es mir schon, dass ich die freundliche Nahrungsmittelspende der S21-Gegner für die Weinfest-Besucher verpasst habe: „Besucher des am Mittwoch eröffneten Stuttgarter Weindorfs wurden mit Eiern beworfen“ ( www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-polizei:-es-wurden-grenzen-ueberschritten.caf87248-7a74-4e21-8b45-87f5b3fd09c1.html ).

Nach diesem weiteren Flop – kein Bürgerkrieg, nirgends – beschloß ich, kurz zu resignieren und mir anzuschauen, was sonst noch gerade an Stadt-“Verschönerung“ läuft; „Century“ und „Bülow Carré“ (3). Nein, eine Nummer kleiner geht’s nicht. Wir wollen jetzt schließlich auch endlich Metropole sein. Wie Paris, London, Bratislava. Und „Da Vinci-Projekt“ (4) - das habe ich auf meinem Weg diesmal ausgelassen - klingt schließlich auch viel schöner als „Abriss der ehemaligen Gestapozentrale“. Aber da bin ich ja gerade nicht, sondern am „Palast der Republik“ (sic!), einem zur kultigen Alkohol-Abfüllstelle umgebauten ehemaligen Klohäuschen in der Architektur eines Zeitungskiosks (5). Die Fläche ist gut gefüllt. Aber mit jungen Leuten. Da wird bei der Landtagswahl noch genug Resthirn übrig bleiben.

Einen kurzen Blick auf den Komplex, aus dessen „Revitalisierung“ die ersten Szenenwirte flüchten, weil die zu erwartenden zukünftigen Fünffachmieten für sie zu viel Revitaisierung sind. Aber wozu braucht man schöne Restraurants und Kneipen in der Innenstadt. Eine weiterer Elektronikmarkt tut's doch auch. „Warum schaut Stuttgart da zu“. Dumme Frage. Aus dem gleichen Grund, warum man den denkmalgeschützten Bonatzbau zerstört, die Gestapozentrale dem Erdboden gleichmacht, ca. 300 alte Bäume vernichtet und das Mineralwasser bedroht ( www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2604285_0_9223_-quartierumbau-verdraengt-szenewirte.html ).



Danach auf immer noch leerer Vierspur(?)-Straße zurück zum Hauptbahnhof, wo immer noch autofrei ist und die Ampeln entweder auf Rot stehen oder das Dreifarben-Spiel spielen. Als ich zuerst dort war, standen über der Abriß-Wunde SIEBEN!!!!!!!!!!!!!!!!! Aktivisten. (Da mußte heute natürlich ein SEK ran, um einen Umsturz zu verhindern. Und um endlich mit Berlin auf Demonstrations-Augenhöhe zu kommen. Jetzt baggern sie wieder, unsere Nekrophilen. UND wir sind zumindest SEK-mäßig METROPOLE.)

Gestern Abend aber analysierte ein Redner unter – für schwäbische Verhältnisse - lautem Gejohle die Beschäftigungsverhältnisse des Herrn Mappus ( siehe oben). Ein anderer dachte laut über weitere Aktionen nach. Schwabenstreich jenseits des Kessels zum Beispiel. Schließlich hatte ein Herr Hauk uns aufgefordert, auch mal über den Kessel hinaus zu schauen. Das tun wir doch gerne. Umso mehr, als die meisten Stuttgarter wahrscheinlich ohnehin schon dort wohnen. Aber dieses vertiefte Wissen kann man von einem führenden CDU-Politiker selbstverständlich nicht erwarten.( www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-fdp-begruesst-abriss-des-nordfluegels.f98f3790-6117-4bb2-bd2f-5a4db2f57078.html )

Natürlich gehen wir auch gerne nach Ulm ond om Olm herom, da wo der rote Gönner wohnt, der der FAZ die tief analytische Schlagzeile bescherte „Viele Schwaben glauben: Was groß ist, ist unnötig“ ( www.faz.net/-01ghm9 ). Auch diesem SPD-Käpsele soll geholfen werden. Gönner wird die Gelegenheit hoffentlich dazu nutzen, mit seinem Ulm aus der Finsternis mittelalterlichen Denkens aus- und ins Zeitalter der Aufklärung einzutreten.

Ein Sonderzug nach Berlin ist auch angedacht. Auch eine Vereinigung mit der Anti-AKW Bewegung. Zusammen, was zusammen gehört. Stichwort „Mappus“.

Ja, und so manche Französin wird gestern wohl gedacht haben „Oh, là là, diese Schwaben“ , als ihr TGV blockiert wurde......Und ich war wieder mal nicht dabei.

Mein Gott, vor lauter Romschwätza hätte ich das Wichtigste fast vergessen: der Bürgerkrieg fand doch noch statt. Zumindest in den bloggenden Köpfen einiger zu Recht verärgerter Autofahrer. Unter den genannten Links finden sich hoffentlich ein paar Beispiele dafür.



Vernünftigeres zum Thema gibt es hier:

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2605429_0_9223_-stuttgart-21-tag-des-abrisses-spaltet-stadt.html

Die Links zur Architektur finden sich hier:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/stuttgart-21-rundgang-durch-eine-nette-revolte-2



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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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