Stuttgart und Kairo.......

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Ohne reichlich Blut und Tod ging es nicht. Aber am Ende haben die Tunesier und die Ägypter den großen Schritt in Richtung Freiheit und Demokratie geschafft. Herzliche Glückwünsche aus Stuttgart und die besten Wünsche für den weiteren Weg!

Ben Ali ging also. Mubarak ging am Ende auch – oder wurde gegangen. Mappus bleibt. Und geradezu peinlich wird es, wenn man im Vergleich von „Demokratie“ und Diktatur feststellen muss, dass es in Ägypten zumindest verbale öffentliche Entschuldigungen für die Gewaltexzesse von Polizei und Regierungsmob und Strafandrohungen für die Verantwortlichen gab, während in Stuttgart ein geplanter Untersuchungsausschuss von der schwarzgelben Regierungsmehrheit in ein Tribunal gegen die Gewaltopfer verwandelt wurde und die Staatsanwaltschaft ihre vornehmste Aufgabe darin sieht, diese zusätzlich noch zu kriminalisieren und finanziell auszubluten. Von einer angemessenen öffentlichen Entschuldigung für die von oben gewollte Gewalt am 30.09.2010 kann bis heute keine Rede sein.

Als zynisch kann man es ansehen, wenn ausgerechnet der linientreue CDU-Kanal SWR in Stuttgart die Entwicklung im fernen Kairo gerührt feiert und Kanzlerin Merkel die ägyptische Nomenklatura ermahnt, friedliche Demonstrationen müssten erlaubt sein. Gut, dass das ägyptische Regime einen anderen Gewaltbegriff hat als Prof. Württemberger und die schwarzgelbe Mehrheit im Stuttgarter Untersuchungsausschuss, wo fast schon die bloße Existenz eines Andersdenkenden als Gewalt gilt.

Neid und Melancholie stellen sich ein, wenn man ausgerechnet in Stuttgart, wo es seit über einem Jahr Montagsdemonstrationen und andere vielfältige Formen des Widerstandes gibt ein Plakat hochhalten muss mit der Parole „Von Tunesien lernen“. Das ägyptische Volk hat gelernt. Die Führung am Ende scheinbar auch. Jedenfalls vorläufig. In Stuttgart bestellte man stattdessen Heiner Geißler und endete mit Mappus plus.

Natürlich hinkt der Vergleich. Und er ist überhaupt nur im virtuellen Raum denkbar. Aber wenn ein ägyptischer Offizieller zu Beginn der Proteste im TV meinte, eine "Minderheit" könne nicht über die "Mehrheit" bestimmen (Tagesschau vom 27.1.2011). Wenn die Demonstranten sich gegenseitig zur Friedfertigkeit anhalten, während das Regime offen zum Mittel der brutalen Gewalt greift – u.a. durch Polizisten, deren Bekleidung mit der vom Schwarzen Stuttgarter Donnerstag fast identisch ist. Wenn im "Mubarak geh!" das "Mappus weg!" widerhallt und ein ägyptischer Übersetzer ein "Hau ab!" ins Mikrophon für Deutschland ruft. Wenn schließlich auch in Kairos Zentrum Widerständler Zelte aufbauen, wie sie auch im Stuttgarter Schlossgarten stehen. Dann reizt das doch sehr, zu vergleichen.

Und es gibt ja noch andere Verbindungen zwischen Stuttgart und Kairo – auch wenn man mal davon absieht, dass hierzulande einige Lieblingsspielzeuge von Diktatoren und Zuhältern hergestellt werden. Kairo ist nämlich eine der Stuttgarter Partnerstädte ( Menzel Bourguiba in Tunesien eine andere) und im Moment sind Jugendliche von dort zu Besuch hier. Und Paul Bonatz hat sich beim Stuttgarter Hauptbahnhof u.a. von islamischer Baukunst beeinflussen lassen:

Neu dürften ihnen dagegen die in Kairo entstandenen Skizzen des Architekten sein, die zeigen, dass er sich bei der Gestaltung seiner Portale von islamischer Baukunst inspirieren ließ. Charmante Pointe: da Kirchenbauer wie Dominikus Böhm oder Hans Herkommer das Portalmotiv wiederum bei Bonatz entlehnten, lässt sich der orientalische Einfluss via Stuttgarter Bahnhof bis in die deutsche Sakralbauarchitektur der zwanziger Jahre verfolgen.“

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2785110_0_9223_-paul-bonatz-wegbereiter-der-moderne.html

Bonatz hat 1913 eine Reise nach Ägypten unternommen, und sowohl die Bauwerke aus der Pharaonenzeit als auch arabische Gebäude des 14.Jahrhunderts angeschaut und skizziert, das hat ihn sehr beeinflusst. Bei einem größeren Bauwerk in Kairo, von dem er viele Skizzen angefertigt hat, ist ein ganz ähnlicher Portal-Eingang zu sehen, wie in Stuttgart, nur eben nicht mit Rund-, sondern mit Spitzbogen. Dieses kubistische, von runden Bögen durchbrochene, ist, so weiß ich es jetzt, das typische Element von Bonatz, und der Bahnhof ist das Hauptwerk.“

www.drehscheibe-foren.de/foren/read.php?113,5218771

Eine Ägyptenreise inspirierte Bonatz 1913, die Blendpfeilerfronten der Tempel von Sakkara zu zitieren. Sie gaben den Anstoß für die knappe monumentale Gliederung der jetzt zum Abriss anstehenden Seitenfront am Schlossgarten.“

www.faz.net/-01ib4n

In der Tat, Stuttgart sollte ja zum mitteleuropäischen Kopfbahnhof der Bagdadbahn werden, die orientalischen Architekturanleihen kamen dem entgegen. Wollte man, so könnte man angesichts der Parteinahme der Stuttgarter für ihren orientalisierenden Bahnhof von einer fabelhaften Integrationsleistung sprechen.“

www.fr-online.de/kultur/der-wandelbare-mensch-der-moderne/-/1472786/6600742/-/index.html

Dass ausgerechnet der Napola-Schüler Dürr als Vater von S21 die Hauptverantwortung für die Zerstörung dieses interkulturellen Baudenkmals trägt, ist eine makabre Pointe. Dass ausgerechnet der gebürtige Kairoer Hany Azer achselzuckend diese auch fremdenfeindliche Zerstörung einer Hommage an seine Herkunftskultur genau in dem Moment vollzieht, wo sein Herkunftsland um Freiheit und Öffnung auch zur westlichen Kultur hin kämpft, ist keine Pointe mehr: „Was ich nicht verstehe, ist die Aufregung der Leute.“

de.wikipedia.org/wiki/Heinz_D%C3%BCrr

www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/aktuelles_termine/aktuelles/20100123_1/default.aspx

Äußerungen eines ehemaligern„Insiders“ spitzen die Geschichte noch ein bißchen weiter zu:

Hab ein Jahr lang an diesem Projekt des Wahnsinns mitarbeiten „dürfen“, weil mein damaliger Chef die €urozeichen in den Augen hatte. Um aus der Nummer wieder rauszukommen, hab ich gekündigt. Ich kann nur sagen, das Projekt steht auf äußerst wackligen Füßen, sowohl was die finanzielle Kalkulation als auch den Stand der fachlichen Planung betrifft.

...wurde fast die gesamte daran beteiligte Planungsmannschaft bei der DB ProjektBau ausgewechselt und gegen die gerade frei gewordene Mannschaft vom Berliner Hauptbahnhof mit Hany Azer an der Spitze ausgetauscht. Und wie die Projekte durchziehen, hat sich nicht nur bei der Bahn herumgesprochen. Der Mensch zählt nichts, die Sache alles – Kriegskommunismus pur!!!“

www.s21.siegfried-busch.de/page23/page68/page78/page78.html

Womit ich wieder beim Thema Gewalt wäre. Diesmal Gewalt gegen Kultur und Natur. Dass der Schritt von dort zur Gewalt gegen Menschen nicht sehr weit ist, wurde am Schwarzen Donnerstag sichtbar. Und sollte das einzigartige baden-württembergische Wahlrecht am 27. März den Zweck erfüllen, für den es konzipiert wurde, nämlich die Dauerherrschaft der CDU zu sichern, dann ist nicht auszuschließen, dass sich im Schlossgarten die Worte des christlichen Stuttgarter Hasspredigers gegen die dortigen Camper in Blut materialisieren.

Bis dahin aber gilt, was Geißler mit seinem Schlichtungsbetrug demonstrieren wollte: richtig umgesetzt ist der demokratische und soziale Rechtsstaat weitaus besser geeignet, die Herrschaft der Machteliten zu sichern als eine Diktatur. Die (ökonomischen) Bedingungen in Baden-Württemberg sind dafür noch ideal. Weniger ideal sind sie für ein engagiertes Bürgertum, das sich Dinge wie die Zerstörung der eigenen Stadt nicht von oben verordnen lassen möchte. Und auch wenn es ein mediokrer Journalismus wohl nie kapieren wird (kapieren darf?): bei S21 geht es nicht nur um „Bahnhof“ und Stadt-Zerstörung, sondern auch um die Frage, ob Demokratie hierzulande eine lebbare Realität ist oder nur ein hoch effektives Instrument der Herrschaftssicherung einiger Weniger.

Verglichen mit den Problemen der Ägypter und Tunesier sind unsere Probleme hier Luxusprobleme. Aber durchaus auch Probleme, die man weder haben muss noch haben will. Und Demokratie sollte eigentlich dafür da sein, sie friedlich zu lösen......

Leicht überarbeitet am 12.02.2011, 9:30 h.

Nachtrag 12.2.2011, 17:30:

Kritische Auseinandersetzungen mit Paul Bonatz unter dem Stichwort „nationalsozialistischer Monumentalismus“ finden sich hier:

www.dbz.de/artikel/dbz_Paul_Bonatz_ein_Moderner_Im_DAM_versucht_Kurator_Wolfgang_Voigt_einen_1058099.html

www.tagesspiegel.de/kultur/gleisanschluss-babylon/3722674.html

www.jungewelt.de/2011/02-12/013.php

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2798454_0_9223_-paul-bonatz-ausstellung-gesundes-leben-gegen-mondaenes.html

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/1916208_0_9223_-paul-bonatz-konservativ-aber-nicht-reaktionaer.html

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2800111_0_6709_-bahnprojekt-stuttgart-21-moralkeule-kommt-zum-schluss.html

Einen kritischen Rückblick auf die wilhelminische Kombination von Imperialismus, Antisemitismus und den Versuch, den Islam zu instrumentalisieren (später von den Nazis fortgeführt), versucht die Junge Welt:

www.jungewelt.de/2011/02-09/016.php

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

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