Vom Kreml nichts neues

Ukraine Krieg , Kreml Der Kreml funktioniert nach altem Muster, doch die Realität ist inzwischen eine andere. Versuch einer biographischen Einordnung.

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Gunnar Jeschke hat sich hier den Kopf darüber zerbrochen, was wohl das Kalkül des Herrn Putin bzw. der Herren im Kreml bezüglich des Ukraine-Krieges gewesen sein könnte. Ergebnis: Punktsieg Putin. Eine ganze Menge „Geostrategen“ bieten Verstand und Verständnis für beide. An Dämonisierung des Herrn Putin und an Ferndiagnosen fehlt es in den öffentlichen Medien nicht.

Mir selbst fehlt es nach „kompetenter“ Schnell-Diagnose hier in der Community an Verstand. An Sachverstand allemal - nach meiner eigenen Einschätzung jedenfalls. Aber wenn man in etwa so alt ist wie die Bundesrepublik, hat man nicht nur in der besten Zeit gelebt, die dieses Land vielleicht je hatte, man hat auch so seine Erinnerungen an das Muster, mit dem der Kreml schon immer auf alles regierte, was sich nicht fügen wollte - und mit dem er, nach meiner Meinung, für einige Betroffene am Ende rechtes Gedankengut wieder attraktiv machte.

Berlin 1953... Ungarn 1956….Mauerbau 1961….. Prag 1968…usw.…usw...Syrien 2015. ….Ukraine 2022…….Anfangs saß die Familie stundenlang ungläubig und entsetzt am Radio und versuchte danach irgendwie herauszufinden, wie es der Verwandtschaft in der DDR und anderswo ging. Ich als Kind immer dabei, im Hinterkopf die Erzählungen meiner Mutter von Flucht und Vertreibung. Später dann, als Student, nahm ich fassungslos zur Kenntnis, wie ein überfälliger „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ durch „brüderliche“ Panzer niedergewalzt wurde.

(Der Vollständigkeit halber: Ähnlich erschüttert hat mich der Putsch in Chile 1973..*)

Ein junges Exilantenpaar bezog damals eine Sozialwohnung im Block meiner Mutter und fiel u.a. dadurch auf, dass sie gleich beim ersten Kontakt anboten, ihr zu helfen, wenn sie Hilfe benötigen sollte. Offenbar Sozialisten mit menschlichem Antlitz, diesmal aber bekämpft von der anderen Seite. )

1956 flüchteten zwei Familien aus Ungarn, aus denen meine zwei späteren Schwager kamen. Nach und nach flüchtete die Familie meines Onkels aus der DDR und kam bei uns in der Zweizimmerwohnung unter, bis sie eine eigene Bleibe fanden. Dann erst kam auch mein Cousin , der noch in der Volksarmee „diente“.

Nach dem Prager Frühling kam die Verwandtschaft, die noch in der Slowakei verblieben war, als meine Familie von dort vertrieben wurde.

Was sich als „Sozialismus“ bezeichnete, erfuhren sie am eigenen Leib. Was sich “Westliche Demokratien“ nannte, kam ihnen nicht zu Hilfe – blieb für einige die Rechte als vermeintliche Hoffnung.

Wie das genannt wurde, was im Kreml heute, politisch opportuner, „Entnazifizierung“ heißt, weiß ich nicht mehr. „Brüderliche Hilfe“ vielleicht oder ein anderes Lügenwort für den tatsächlichen interventionistischen Terror.

Als dann 2015 die syrischen Flüchtlinge kamen, machte ich das, was ich in den vergleichbaren Situationen als Kind gelernt hatte: ich half. Und tu das bis heute. Geostrategische Gedankenspiele sind und waren damals wie heute nicht mein Ding. Mein Blick geht auf das, was den Menschen angetan wird.

Wenn aber der Kreml heute seinen Überfall auf die Ukraine als „Spezialoperation“oder „Auslandsaktion“ zu verstehen scheint, dann scheinen mir die Herren nicht nachvollziehbar auf eine angebliche Bedrohung durch das Phantom „Westen“ zu reagieren, sondern mental in der Zeit vor dem Mauerfall hängen geblieben zu sein und ihrerseits mit selektiver Wahrnehmung so zu handeln, als ob der „Ostblock“ sich nie aufgelöst und der „kalte Krieg“ nie aufgehört hätte. Das offen auszusprechen war offenbar eine Zeit lang nicht opportun. In maßgeblichen Köpfen hatte er aber scheinbar dennoch nie aufgehört – was immer Friedenspolitik an neuen Chancen brachte.

Es sind jedenfalls die bösen alten totalitären Denk- und Handlungsmuster, die im Kreml offenbar reflexartig ausgelöst werden, obwohl sich international die Strukturen in einem Veränderungsprozess befinden, vor allem die einstmaligen Vasallenstaaten eigene Wege gehen, was in den Kreml-Köpfen offensichtlich so noch nicht vorgesehen ist. Und prompt steigen auch im Westen die kalten Krieger in das alte Spiel ein und gerieren sich als Wortführer, während die nun geschmähten Friedenspolitiker kleinlaut meinen, gescheitert zu sein, und nicht mehr sehen, wie erfolgreich sie die Welt schon zum besseren verändert haben.

A.S.Neill hat in seinem Summerhill-Buch von einer Schülerin berichtet, die aus einer von Nonnen geleiteten Institution zu ihm kam. Sie brauchte in der neuen, nicht-autoritären Umgebung von allen neuen SchülerInnen die längste chaotische Anpassungszeit nach ihrer vorherigen autoritären Erziehung.

Dass nach der Auflösung des autoritären Systems in der Sowjetunion keine demokratischen Mustersysteme in der Warteschlange waren, sondern eher kapitalistische Auswüchse und orientierungsloses Chaos, kann so nicht überraschen. Dass sich aber am Ende der alte Macht-Apparat mit Putin als vermeintlich sympathischem Aushängeschild als neue alte Ordnungsmacht durchsetzte und statt behutsamem Umsteuern zu scheinbar “bewährten“ alten Herrschaftsmustern griff, diese bei vermeintlichem Bedarf auch noch verschärfte, erweist sich nunmehr als verhängnisvoll und scheint nurmehr als „Götterdämmerung“ mit noch viel schlimmerem Chaos auflösbar zu sein. So mag die Ukraine, statt ein Mosaikstein eines neuen alten russischen Reiches , der Sargnagel desselben werden.

Für alle Systeme ist es verhängnisvoll, wenn sie sich an veränderte Bedingungen nicht anzupassen vermögen. Irgendwann kommt dann der Zusammenbruch: Die Frage ist nur, wann – und in welchem Ausmaß. Für die Ukraine keine gute Aussicht.

Neben den totalitären Reflexen, scheint mir auch ein „Kampf der Kulturen“ beim Versuch der gewaltsamen Wiederherstellung von möglichst viel Sowjetunion, diesmal kapitalistisch, eine Rolle zu spielen.

Ohne Steffen Mau an diesem Punkt widersprechen zu wollen: Als Jugendlicher konnte ich zum Beispiel wegen der Ausweiskontrollen an der Kinokasse den Film „Das Schweigen“ nicht im Kino anschauen. Ein CDU-Abgeordneter startete eine „Aktion saubere Leinwand“. Mittlerweile haben wir die „Schwulen-Ehe“. Und mancher syrische Kriegsflüchtling meidet das hiesige öffentlich-rechtliche TV, um vor allem die Kinder nicht der Flut von Sex and Crime auszusetzen.

Alles und viel mehr innerhalb eines Lebens. Hierzulande fasst man es gerne unter dem Begriff „Freiheit“ zusammen. Da ist manches dabei, was hier und anderswo (Stichworte „Orban“und „Polen“ ) manche überfordert. Und in Russland offenbar nach militanter Abgrenzung verlangt. Möglichst als wieder erstandener Ostblock, der den „Werten“ des Westens seine eigenen entgegen setzt.

Im Kreml scheint man dabei nach dem Motto zu verfahren „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag` ich dir den Schädel ein“. Friedhöfe sind traditionell nicht die bevorzugten Plätze für Kritik und Debatten, sondern die der Stille. Da bietet es sich nach Kreml-Logik an, die Ukraine in einen Friedhof zu verwandeln, und große Teile der eigenen intellektuellen Eliten zu vergiften oder in die Emigration zu treiben – oder beides.

Manches erinnert an Hitler. Der konnte nur von Außen gestoppt werden. Dem steht heute die Gefahr eines Atomkrieges entgegen – der allerdings auch passieren kann, ohne dass der Westen eingreift. Menschen sind im Kalkül der Geostrategen im Kreml und anderswo ja nicht vorgesehen – außer man definiert sie als Ungeziefer, das ausgerottet werden muss.

Bleibt als Ausweg eine „Götterdämmerung“ (s.o.), weil man im Kreml die Chancen der Friedenspolitik verpasst hat und sich nun stattdessen von zu Wahnvorstellungen geronnenen alten Denkmustern leiten lässt.

*) Nachtrag 30.03.22: Über Magda und ihre Kommentatoren entdeckt:Pinochet als Vorbild

Nachtrag 31.o03.22: siehe auch Dietmar Schumann in der Berliner Zeitung vom 31.03.22 und insbesondere 16.03.22

Nachtrag 05.04.22: Pinochet als Vorbild ?

https://www.spiegel.de/politik/ausland/pressestimmen-ein-russischer-pinochet-a-70714.html

Nachtrag 05.04.22: Auf wen hört Putin

Nachtrag 05.04.22: https://www.nytimes.com/live/2022/04/05/world/ukraine-russia-war#bucha-ukraine-bodies

Nachtrag 06.04.22: https://www.freitag.de/autoren/magda/russland-gibt-auskunft-was-tun-mit-der-ukraine/@@view#1649239679821907

Nachtrag 06.04.22:https://www.freitag.de/autoren/wilfried-jonas/historische-einheit-von-russen-und-ukrainern

Nachtrag 07.04.22: https://mdz-moskau.eu/vorteil-russland-putins-manifest-der-abgrenzung/

Nachtrag 22.04.22: Albrecht von Lucke https://www.ndr.de/kultur/sendungen/gedanken_zur_zeit/gedankenzurzeit1878.pdf

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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