Ukrainedebatte & Informationsmanipulation

Nachdenkseiten Ein zentrales Problem in der hiesigen Ukraine-Debatte ist die Ausrichtung nicht an der Sache, sondern an der eigenen Ideologie. Ein Beispiel aus den Nachdenkseiten.

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In ihren Hinweisen des Tages vom 10.07.2014 machen die Nachdenkseitendankenswerterweise auf einen Beitrag von Le Monde diplomatique aufmerksam, in dem „Der wirtschaftliche Hintergrund einer unsinnigen Ost-West-Konfrontation“ in der Ukraine beleuchtet wird, der hinter der derzeitigen Krise gesehen wird. Wie üblich wird in einem Textauszug der Inhalt des Artikels angerissen und dann auf das Original weiter verlinkt.

Möglicherweise ungewollt entsteht bei der Lektüre dieses Anreißers der Eindruck, IWF & EU seien ursächlich die Verursacher der Krise, während Putin quasi als verhinderter Erlöser erscheint. Und bestätigt wird der inzwischen medial verkürzte Eindruck, bei dem Aufstand des Maidan sei es einzig und vor allem um einen Anschluss an die EU gegangen. Von mir verkürzt, liest sich das so:

Die politische Krise in der Ukraine lässt sich auch als ein dramatisches Resultat einer finanziellen Krise begreifen, die sich in den letzten Monaten des Jahres 2013 zuspitzte. Begonnen hatte sie bereits im Juli 2010, als die Regierung in Kiew sich in einem Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verpflichtete,..... Im Mai 2011 hat der IWF seine Zahlungen jedoch eingefroren, weil sich Kiew gegen die Erhöhung der Gaspreise gesträubt hatte.
…..
Ende Oktober 2013 entsandte der IWF ein Expertenteam in die Ukraine, das präzise Bedingungen stellte......

Die Folgen einer drastischen Erhöhung der Energiepreise sowohl für die Bevölkerung als auch für die Industrie im Donbass ließen den ukrainischen Präsidenten zögern. Noch in derselben Woche konferierte er mit seinem Amtskollegen Putin …..Am 21. November setzte Präsident Janukowitsch die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens mit der EU aus. Diese plötzliche Kehrtwende war der Auslöser der Proteste auf dem Maidan.

Der russische Vorschlag …..stellte einen Kredit von 15 Milliarden Dollar in Aussicht, eine Verbilligung der Gaslieferungen an die Ukraine um ein Drittel und günstigere Konditionen für die Abzahlung der Naftogaz-Schulden gegenüber Gazprom – ohne jegliche Auflagen.

Damit hatten IWF und EU zunächst das Nachsehen. Nach dem Umsturz und der Amtsenthebung von Janukowitsch am 22. Februar wandten sich allerdings die neuen Machthaber erneut an den IWF. Und am 27. Juni wurde der zweite Teil das Assoziierungsabkommens mit der EU unterschrieben. Dieses Hin und Her wird verständlich, wenn man sich klar macht, wie die ukrainische Wirtschaft mit dem Weltmarkt verflochten ist. Das Land exportiert seine Rohstoffe und Halbfertigprodukte nach Europa und Asien, die Fertigwaren seiner verarbeitenden Industrie dagegen nach Russland….“ [Hervorhebungen von SG]

Selbst wenn man diesen Textauszug vollständig liest, kann man den Eindruck bekommen, es handele sich lediglich um einen Machtkampf zwischen zwei Machtblöcken, den ein knebelnder Westen begonnen hat, in dem ein großzügiger Putin einen hinreichenden Lösungsvorschlag gemacht habe und den die bösen Protestler des Maidan torpedierten. Für den Leser, der sich damit begnügt, dürfte dies eine Bestätigung seiner Meinung darstellen, von der man bei den Nachdenkseiten wie beim FREITAG wohl davon ausgehen darf, dass sie IWF & EU (& USA) eher und gerne kritisch gegenüber stehen.

Der Haken an der Sache ist nur, dass Julien Vercueil im Originaltext sehr viel ausgewogener und unideologischer analysiert & argumentiert – wobei ich die Frage, wie nah die Übersetzung am Original bleibt mangels Sprachkenntnissen offen lassen muss.

Entscheidend aber in punkto Maidan scheint mir die (gekennzeichnete!) Auslassung des folgenden Abschnittes, der mir selbst für die Revolte des Maidan zentral scheint:

Korruption, private Bereicherung auf Kosten der Staatskasse und die notorische Steuervermeidung reichten bis in die höchsten politischen Kreise. Der Anteil des informellen Sektors (der nicht steuerlich erfassten Tätigkeiten) am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wurde auf 25 bis 55 Prozent geschätzt. Das doppelte Defizit – im Staatshaushalt und in der Handelsbilanz – wuchs kontinuierlich an und damit auch die Auslandsverschuldung. Spätestens im Herbst 2013 war der Regierung bewusst, dass sie umgehend 3 Milliarden Dollar auftreiben musste, um die 2014 fälligen Kredite zurückzuzahlen; dazu kamen weitere Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 1 Milliarde Euro. Und beim staatlichen Gasversorger Naftogaz waren mehr als 3 Milliarden Dollar Zahlungsrückstände gegenüber seinem russischen Lieferanten Gazprom aufgelaufen.

.....“

Dann erst folgt der Satz „Ende Oktober 2013 entsandte der IWF ein Expertenteam in die Ukraine, das präzise Bedingungen stellte......“ Und nur so scheint wohl nicht nur mir der Maidan erklär- und verstehbar.

Nun kenne ich natürlich das Problem des handlichen Zusammenkürzens und die Frage, ob man etwas weglassen darf, das von der eigenen Einschätzung wegführt oder ihr widerspricht. Aber zur Illustration dessen, was mit Informationen geschieht, wenn Entscheidendes weggelassen wird, scheint mir das Beispiel doch sehr geeignet.

Dies umso mehr, als für mich bei der Lektüre des Anreißers auch ein ganz anderer Gesamteindruck entstand als bei der anschließenden Lektüre des Gesamttextes – von dem ich nicht weiß, ob ihn jeder Leser des Anreißers auch liest. Hier scheint mir der zentrale Satz dieser zu sein:

Seit Ende der nuller Jahre zeichneten sich damit für die Ukraine zwei regionale Integrationsmodelle ab: Assoziation mit der Europäischen Union oder Zollunion mit Russland. Eine Entweder-oder-Wahl zwischen diesen beiden Optionen geht stets auf Kosten der ökonomischen und sozialen Integration der Ukraine, denn mindestens ein Drittel der Bevölkerung hat bei dieser binären Logik immer das Nachsehen.“[Hervorhebung von SG]

Das genau scheint mir der Punkt zu sein, der in den Lagerdebatten vollkommen untergeht, der aber der einzig entscheidende für jeden Bürger sein muss, der demokratisch denkt. Und auch die Rolle Russlands in der Entwicklung des Konfliktes stellt sich gänzlich anders dar als im Anreißer:

2013 erhöhte sich der Druck auf Kiew von allen Seiten. Russland verschärfte den Ton, und der Putin-Berater Sergei Glasjew bezeichnete die Ratifizierung des Abkommens mit der EU als „selbstmörderischen“ Akt und „tödlich für die ukrainische Handelsbilanz“.(3) Angesichts der „unvermeidlichen“ protektionistischen Reaktion der Dreier-Zollunion würden die ukrainischen Lebensmittel- und Investitionsgüterexporte nach Russland – und damit rund die Hälfte der Gesamtausfuhren – einbrechen, das EU-Abkommen deshalb „zu Verfall und Bankrott“ führen. Dagegen werde der Beitritt zur Zollunion „die notwendigen Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung der ukrainischen Volkswirtschaft schaffen und für bessere Strukturen sorgen“.(4)

Der argumentative Gehalt dieser Prophezeiung war zwar dürftig, aber in Russland war das Echo groß. Und der Kreml ließ seinen Worten bald Taten folgen: Die Schokoartikel von Roshen, dem Süßwarenkonzern des heutigen Präsidenten Poroschenko, und weitere ukrainische Waren wurden für gesundheitsgefährdend erklärt und ein für die ukrainischen Exporteure fataler Einfuhrstopp wurde verhängt.“ [Die längere Hervorhebung von SG]“

Wenn ich dann noch lese, wen das polnische Institut für internationale Angelegenheiten für das Jahr 2013 als die größten Nutznießer des Freihandels mit der EU ermittelt hat und wer eher nicht profitiert, fühle ich mich persönlich voll bestätigt in einem frühen Kommentar, den ich ohne jegliche tieferen Kenntnisse abgab und in dem ich – nach meiner Erinnerung – schrieb, dass sich eigentlich die Bürger auf allen Seiten gemeinsam gegen die herrschenden Oligarchen auf allen Seiten erheben müssten, anstatt deren Kriege gegeneinander zu führen: „ Es waren Poroschenko, Andrei Werewski, dessen Agrarkonzern Kernel in die EU exportiert, und der Hühnerbaron Juri Kosjuk mit seinem Unternehmen Mironivsky Hliboproduct.(7) Zu den Verlierern gehörten, wenig überraschend, die Janukowitsch nahestehenden Oligarchen. Zudem wurden bis dahin rund 40 Prozent der öffentlichen Aufträge an den Präsidentensohn Alexander Janukowitsch sowie an Rinat Achmetow und Dmitri Firtasch vergeben. Diese politische Rendite wäre durch das EU-Assoziierungsabkommen natürlich stark gefährdet worden.“[Hervorhebung von SG]

Weiter heißt es dann im Text:

Die fadenscheinigen Argumente beider Seiten kaschierten nur notdürftig, worum es in Wahrheit geht. …..

Mit der Ausdehnung ihres Einflussbereichs steigt die EU aktiv in einen Wettstreit ein, der im Zeitalter der Globalisierung von entscheidender Bedeutung ist: Wer kann die Regeln vorgeben und zu welchem Zweck? Was Russland betrifft, so hat es sein Regelsystem von der UdSSR geerbt. Und das bestimmt, so lückenhaft, veraltet und schwerfällig es auch sein mag, nach wie vor die wirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern der GUS. …..“

Womit der Kreis sich wieder schließt, der seinen Ausgangspunkt bei der Feststellung hatte, dass hier zwei Machtblöcke ihre Interessen rücksichtslos auf dem Rücken der Menschen in der Ukraine durchsetzen wollen. Und es in der hiesigen Debatte schaffen, dass sich Lager bilden, die genau entlang dieser Frontlinie argumentieren, ohne sich im geringsten um die Interessen aller Menschen in der Ukraine zu scheren

Und wer zahlt die Zeche für den blutigen Rosenkrieg der Oligarchen aller Lager?

Das politische Gezerre hat die Wirtschaftskrise in der Ukraine in letzter Zeit noch verschlimmert.“

Die Lektüre des ganzen Artikels wird auch nach diesen zahlreichen Auszügen selbstverständlich aus vollem Herzen empfohlen. Ein selten informatives Stück in der ganzen unsäglichen Propagandaschlacht mit teilweise unerträglich hysterischen Zügen. Und selbstverständlich Dank an die Nachdenkseiten für diesen wichtigen Tipp.

Aber wie sagt man In der Politik: „Kritik unter Freunden muss erlaubt sein“....;)

Und was war nun gleich nochmal der Zweck dieses Beitrages? Im Grunde nur die begründete Aufforderung, den ganzen Text zu lesen und sich nicht womöglich durch die bloße Lektüre des Auszugs bei den Nachdenkseiten in einer womöglich einseitigen Sicht bestätigen zu lassen. Was mir aufgrund meiner eigenen Reaktion auf den Auszug durchaus wahrscheinlich erscheint.

Weil diese persönliche Reaktion Auslöser für diesen Beitrag war, habe ich ihn auch entsprechend subjektiv verfasst.

Leicht verändert am 11.07.2014, 00:20 h.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

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