„Und was ist mit den Kindern....?“

Fall Edathy Die vorwurfsvoll alarmistische Frage nach den Opfern, wann immer der Blick sich auf Täter richtet ist angebracht und perfide zugleich.

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Der Fall ist schockierend. Vor allem, weil hauptsächlich über den Täter gesprochen, aber kaum an die Jungen auf den Fotos, die Edathy legal gekauft haben will, gedacht wird.“ So nimmt der Traumaberater Thomas Schlingmann in einem Interview der taz einen Alarmruf auf, der immer noch eher am Rande ertönt, wenn es um schwerste Verbrechen geht, aber immer & und zunehmend immer schriller, wenn es um Sachverhalte um das Unwort „Kinderschändung“ geht.

Damit geht einher eine Inflationierung des Missbrauchsbegriffs bis zu dem Grad, dass Menschen mittlerweile schon in einem Fall von vermutlich derzeit noch legalen Nacktphotos als „Kinderficker“ [Links hierzu spare ich mir] tituliert werden, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit staatsanwaltlichen Vorgehens äußern, die sich auf ein breites Spektrum von Experten und unmissverständliche Urteile des Bundesverfassungsgerichtes stützen. (1)

Eine exzellente Analyse des staatsanwaltschaftlichen Vorgehens unter eher sprachtaktischen Gesichtspunkten versucht aktuell die Bürgerrechtlerin & Autorin Bettina Hammer bei telepolis:

Wer sich mit der Thematik befasst, der stößt auch bei der sogenannten Kategorie 2 auf den Aspekt, dass hier nicht mehr das tatsächlich abgebildete Geschehen bewertet wird, sondern die ggf. vorhandene [besser: spekulativ angenommene -sg]Wirkung auf den Betrachter: "Aufnahmen von Kindern, die keine sexuellen Handlungen zeigen – aber auf Pädophile stimulierend wirken können. …..

Tatsächlich ist dieses "Kategorie 1 und 2"-Gerede, das legale Inhalte in die direkte Nähe zu illegalen rückt, eine perfide Strategie um den Gedanken, dass es letztendlich egal ist, ob das Material illegal ist oder nicht, in den Köpfen zu verankern, als sei es insofern auch egal, ob jemand rechtlich gesehen unschuldig ist oder nicht, wenn nur Staatsanwaltschaft bzw. Ermittler der Meinung sind, es sei fragwürdig genug, was getan worden war.

Auf diese Weise wird ….immer wieder aufs Neue der Delinquent in die Nähe der Kinderpornographie in rechtlicher Hinsicht gerückt.“ [Hervorhebungen von mir] (2)

Ebenfalls bei telepolis macht Arno Klönne deutlich, dass man speziell im Fall E. jenes beklagte notorische Übersehen der Opfer auch durchaus nicht auf die Gegenpole Täter – Opfer beschränken kann:

Bei der Straftat, auf die hin bei Edathy ermittelt wird, geht es um den rechtlichen Schutz für Kinder, nicht um Abwägungen, wie denn in Sachen Parteienpolitik "Schaden" vermieden, begrenzt oder auch herbeigeführt werden kann. Aus dieser Sicht heraus wären Fragwürdigkeiten dieses Falles zu erforschen, dazu besteht wenig Neigung.“

Ein Alarmruf also, der bei einem Traumaberater geradezu zwingend ist, kann im breiten öffentlichen Diskurs mannigfachen Zwecken dienen, die mit den Opfern selbst nicht das geringste zu tun haben: Ablenkung von Mißständen, Diskreditierung von Andersdenkenden, Legitimierung eigener „niederer“ Instinkte wie Lynch- und Mordlust.

Was also als moralisierender, hoch emotionaler Ruf nach Gerechtigkeit für die (Missbrauchs)Opfer daherkommt, kann durchaus schmirerig-schäbiger Missbrauch realen Leids von Opfern zur eigenen Befriedigung oder zu eigenen verwerflichen Zwecken sein. Der „gelbe Stern“ sucht verzweifelt nach neuen, „legitimen“ Opfern (das waren die „Juden“ übrigens damals nach herrschender Meinung auch). Und nach dem Wegfall von „Kommunisten“, „Vaterlandsverrätern“, „Zigeunern“ und Homosexuellen ist der Kreis der Kandidaten für allgemein akzeptierte „Sonderbehandlung“ zunehmend auf den Kreis der „Kinderschänder“ geschrumpft.

Nichts wäre für das „gesunde Volksempfinden“ schlimmer, als wenn man aus diesem Täterkreis jetzt auch noch Nacktphotobesitzer, die direkt womöglich nur den Photos „etwas antun“ oder gar Pädophile herausdividieren würde, die vermutlich nur eine Minderheit von ca. 10 der Täter ausmachen. Am schlimmsten wäre dies natürlich für jene ca. 90 Prozent der nicht-pädophilen Täter, die dann selbst ausschließlich ins Blickfeld gerieten. Wäre es sehr weit hergeholt, wenn man annehmen würde, dass genau diese Gruppe Anlass hätte, am lautesten zu schreien: „Haltet den Dieb!“?

https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_von_Kindern (Tätertypologie)

Nichts genaues allerdings weiß man nicht. Und auch sonst muss man es nicht bei dieser polemischen Rabulistik belassen. Man kann den Alarmruf auch von anderer Seite in Frage stellen. Insbesondere dann, wenn, wie im aktuellen Fall, der Besitz von vermutlich noch legalen Nacktphotos in einen Topf mit dem Betatschen von Kindern, und das mit dem „vollendeten“ sexuellen Missbrauch, und jener wiederum mit dem brutalst möglichen Missbrauch, und dieser schließlich mit dem Sexualmord gleichgesetzt und alles auf den Nenner „Kinderschänder“ oder „Kinderficker“ gebracht wird.

Für die am schlimmsten misshandelten Opfer inflationiert man nicht nur den Begriff, sondern auch die zugrunde liegende Tat. Für die eher harmloser Geschädigten („natürliche“ Nacktphotos) *) bläst man den Sachverhalt ins Monströse auf – und fügt dem wankenden Selbstbild der Betroffenen so erst recht Schaden zu.

Ist das vielleicht im Interessen der Kinder? Oder ist das eher im Interesse der narzistischen Befriedigung eigener „niederer“ Instinkte? Ist das vielleicht gar selbst „Kinderschädung“? Werden hier vielleicht Kinder auf dem Altar von „Moral“ & Staatsräson geopfert und man verkauft es sich selbst und anderen als „Kinderschutz“?

Und: zeigt nicht gerade die Tatsache, dass wir Kinderschutz hier, wie so oft, nur aus der Sicht des Strafrechtes ableiten & definieren, dass es uns um alles mögliche dabei geht, nur nicht um die Kinder? Ergibt sich die Unrechtmäßigkeit des öffentlich Machens von Kinder(nackt)photos nicht bereits aus den Grund- und Menschenrechten? Wer gibt eigentlich irgendjemandem das Recht, Photos von Kindern öffentlich zu machen oder gar kommerziell zu verwerten?

Mit der letzten Frage kommen wir nun aber schon in einen Bereich des Kindesmissbrauchs, der auf keinen Fall ins Blickfeld geraten darf. Denn es könnten „Arbeitsplätze gefährdet“ sein!!!!! Schließlich geht es um die Werbebranche, den Markt für „Kinderprodukte“, das „Kinderfernsehen“ und Kino und Fernsehen überhaupt. Und weil diese Interessen allemal über den Rechten der Kinder stehen, hat man sich die Frage der Kinderphotos nie auf dieser Basis gestellt, sondern läuft mit immer engeren strafrechtlichen Verengungsversuchen mit einem gewollten Schweizer Käse-Gesetz erfolglos einer Pornoindustrie und ihrem Kometenschweif hinterher.

Das Geschrei jetzt ist also wohlfeil, verlogen und am Ende wohl auch folgenlos. Und es wird so lange folgenlos sein, solange wir nicht versuchen, die Stimme der Kinder zu sein, anstatt die Kinder als Transportmedium für unsere ganz eigenen, mehr oder weniger schrägen, Ideologien, Voreingenommenheiten & Interessen zu missbrauchen.

Womit der eingangs zitierte Traumaberater ausdrückllich nicht gemeint sein soll. Aber jenseits davon ist daran zu erinnern, dass wir – offiziell - ein säkularer Rechtsstaat und kein „Gottesstaat“ sind. Und die Inquisition, bzw. deren faschistisches/ stalinistisches Äquivalent des „Volksgerichtshofes“ sind noch nicht wieder eingeführt.

*) Update:

Solche Aufnahmen spielen eine ganz große Rolle. Betroffene müssen als Erstes lernen: Ausleben der Sexualität mit Kindern fällt aus. Für immer. Das müssen die Patienten akzeptieren. Wer seine Sexualität nicht ausleben kann, sucht nach Ersatz – etwa in Form von Bildern oder Videos.

......

Erlaubt wären demnach "Bilder aus Wäschekatalogen, Fotos aus dem Schwimmbad oder Urlaubsvideos vom FKK-Strand, die ohne sexuelle Motivation aufgenommen wurden, und deren Besitz und Verbreitung nicht strafbar ist.

....

Die meisten Pädophilen stellen sich zärtlichen Kontakt zu Kindern vor, etwa Streicheln, erotisches Küssen, Umarmen. Viele finden es erschütternd und abstoßend, wenn Vergewaltigungen von Kindern gezeigt werden. ....Aber es tritt bei manchen auch ein fataler Effekt ein. Sie denken: Wenn es da draußen so etwas gibt, wenn so etwas Krasses wirklich gemacht wird, dann kann das, was ich mir wünsche, doch nicht so schlimm sein.

.......

Meist werden von denselben Kindern ganze Strecken fotografiert, die nach unserem Ampelsystem bei Grün anfangen, über Gelb weitergehen und bei Rot aufhören. Und für letztere werden de facto Kinder sexuell missbraucht.“

ZO-Interview mit Christoph J. Ahlers, Klinischer Sexualpsychologe und Leiter der Praxis für Paarberatung und Sexualtherapie am Institut für Sexualpsychologie in Berlin, Mitbegründer des Präventionsprojekts Dunkelfeld und Klinischer Leiter am Leipziger Standort von Kein Täter werden, wo Pädophile behandelt werden.

http://www.zeit.de/wissen/2014-02/paedophilie-kinderpornografie-interview-ahlers/komplettansicht?print=true

Zur Vertiefung siehe auch:

(1)

http://www.deutschlandfunk.de/ermittlungen-gegen-edathy-bilder-von-nackten-jungs-darf.694.de.html?dram:article_id=277382

http://www.sueddeutsche.de/politik/fall-edathy-strafrecht-ist-kein-moralrecht-1.1890180

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kinderpornografie-verlorene-unschuld.f17a9518-2446-4ba4-b1b9-a3495f3ab52e.html

http://www.heise.de/tp/blogs/8/150454

http://www.kanzleikompa.de/2014/02/13/die-gummiparagrafen-die-er-rief/

http://www.heise.de/tp/artikel/41/41002/

http://blogs.faz.net/deus/2014/02/16/paederastie-und-totalueberwachung-fuer-den-gebildeten-mittelstand-1939/

(2)

https://www.lawblog.de/index.php/archives/2014/02/17/fuenf-saetze-haetten-genuegt/

http://www.kanzleikompa.de/

http://www.kanzleikompa.de/2014/02/11/die-harke-macht-sich-ein-falsches-bild/

http://www.kanzleikompa.de/2014/02/12/anmerkungen-zur-berichterstattung-ueber-edathy/

http://www.kanzleikompa.de/2014/02/08/schuldig-bei-verdacht/

http://www.sz-online.de/sachsen/ex-npd-abgeordneter-muss-1000-euro-zahlen-2144115.html

http://www.heise.de/newsticker/meldung/Kinderporno-Wie-erfolgreich-war-die-Operation-Himmel-177176.html

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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