„Unruhe ist die erste Aufgabe aller ....“

Widerstand 2013 Am 22. Juni 2013 fand im Stuttgarter Rathaus der 5. Große Ratschlag des Stuttgarter Widerstandes statt. Peter Grohmann hat eine große Rede gehalten.

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Die Anstifter, die Parkschützer und die Fraktionsgemeinschaft im Gemeinderat SÖS/Linke hatten vergangene Woche zum 5. Großen Ratschlag geladen, um das anstehende Forum über europäische und internationale Großprojekte in Stuttgart vorzubereiten, künftige Strategien zu beraten und nach Möglichkeiten der Nutzung des Bundestagswahlkampfes zu suchen.

Eines der Urgesteine im Stuttgarter Widerstand und dessen unermüdlicher Sauerteig, Peter Grohmann hat zur Eröffnung eine große Rede gehalten, die für mich sehr nach Vermächtnis klingt und gleich zu Beginn den Horizont global öffnete. Denn eines ist zumindest hier mittlerweile klar: es riecht global nach „Klassenkampf“ - auch wenn die bornierten medialen Spießer in Schland dies nicht wahrhaben wollen öder können und insbesondere die Proteste in der Türkei und Brasilien als willkommenen geilen Pausenfüller fürs Sommerloch nutzen, mit dem man auch gleich schön von den Mißständen hierzulande und dem Drogenpaket der Lügendealerin Merkel und ihrer schwarzgelben Drückerkolonne ablenken kann. Über dem Aufgeilen bleibt dann für die die Erwähnung der Opfer *) natürlich nur ausnahmsweise Platz. Würde ja die Stimmung vermiesen......

Eine Rede ist eine Rede und kein Straßenkampf. Diese Rede enthält aber Elemente, die die über die verbale Ebene hinaus sinnvolle Wirkung entfalten können.

Ich halte die Rede jedenfalls für verbreitenswert. Um dabei nicht womöglich mit irgendwelchen Urheberrechten zu kollidieren, habe ich nur Auszüge zusammengestellt, aber bei allen Lücken jeweils einen Link zur Quelle gesetzt, so dass man immer bequem dort weiterlesen kann.

Eröffnungsrede von Peter Grohmann beim 5. Großen Ratschlag

Publiziert am 26. Juni 2013 von Thomas

Auszüge:

.......

Unser erster Gruß geht heute in die Türkei, geht nach Brasilien, nach Athen,
dorthin, wo sich mutige Menschen dem Establishment entgegenstellen,
den Mächtigen ohne Moral:

Unser Gruß nach Athen gilt den aufsässigen Journalistinnen,
denen die Regierung die Medien unter dem Arsch wegzieht,
geht nach Rio de Janeiro,
wo Millionen gegen Millionäre demonstrierten:
geht nach Istanbul und Izmir, nach Dyabakir und Ankara,
wo 120 000 Tränengasgranten die Menschen nicht hindern,
immer neue Formen des Protestes zu erfinden
und oben zu bleiben - um stehen zu bleiben im Herzen der Städte:
Zu schweigen aus Protest gegen schreiendes Unrecht.
Rechtsanwälte werden zusammengeknüppelt.
Rührt sich hier die Rechtsanwaltkammer?
Journalistinnen werden in die Männerknäste gesteckt.
Wo bleibt da der flammende Protest der Presse?

Die Jugend der Länder pfeift auf die Prestigeprojekte,
so wie in Brasilien, wo die Massenproteste
den unnützen Großprojekten gelten, den maßlosen Fußballstadien,
gebaut für die internationale, korrupte Fifa-Schickeria, die Kaviar-Connexion,
die ihre Tickets verkauft und mit den Dollars abzieht ins nächste Land,
ins nächste Stadion.
Es sind Stadien, die den ersten Sturm nicht überstehen, die das Klima
nicht vertragen, mit heißer Nadel geplant, gestrickt, gebaut -
pompös, skandalös, aufgemotzt und 100 mal zu groß für den Alltag der Massen.

Er ist überall, dieser Aufschrei, der Aufschrei gegen Korruption, hohe Preise,
gegen die Verweigerung von Mitspracherechten.
Es ist der Ruf nach Gerechtigkeit und Demokratie.
Merke: Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Auch nicht hierzulande.

.......

Und wir sehen: Stuttgart21 ist ein Prinzip.

Das Prinzip heißt Zerstörung der Natur,
Ausplünderung der Ressourcen,
Profitmaximierung
Privatisierung
Verweigerung demokratischer Rechte.

Das Prinzip heißt: Polizei und Tränengas.

Viele andernorts setzen ihre Körper dagegen, ihre Träume und Hoffnungen.
Viele andernorts setzen Fantasie und Solidarität entgegen, riskieren Gesundheit,
riskieren Knast, riskieren Polizeiknüppel und Schläge.

Nicht nur das. Viele andernorts setzen Konzepte dagegen, Pläne und Ideen für eine andere Welt, die bunt ist, gewaltfrei, fröhlich und kämpferisch, voller Enthusiasmus,
eine Welt für die Kinder von morgen.

.......

Liebe Bürgerrinnen und Bürger,

dieses Mosaikbild gefiele mir auch für unseren Widerstand, für unsere Arbeit.

Es bedeutet, die anderen auszuhalten, es bedeutet, über den Mercedesstern auf dem Bahnhof hinauszublicken, Perspektiven jenseits von Merkel, Steinbrück und Co und jenseits manipulierter Volksentscheide oder Wahlen zu sehen - und dennoch die Interventionsmöglichkeiten solcher Abstimmungen zu nutzen.

Es bedeutet: Hart zu sein in unseren Analysen, bei der Betrachtung der Heimat und der Welt - fern von Dogmatismus - kritisch gegen uns selbst und doch locker und leicht im Alltag, damit wir nicht verbrennen an unserer Wut.

Es bedeutet, stark zu sein im Lauf durch Stuttgart 21, aber doch auch Pausen einzulegen, damit die Schwächeren unter uns Luft holen können. Es bedeutet: Zuhören lernen - und widersprechen zu lernen

.......

Aber auch jenseits von uns gibt es die kritische Stadtgesellschaft, Menschen,
denen die ganze Richtung nicht paßt, Leute jenseits der Geiz-Ist-Geil-Generation.

In den sozialen Medien nicht nur in der Türkei wird dazu aufgerufen, nicht bei den
US-Fastfood-Ketten Burger King und McDonalds zu essen, weil die ihre Türen versperrten, als tausende vor den Tränengas-Attacken der Polizei Schutz suchten.

Dem drittgrößten Firmenkomplex der Türkei, der Dogus-Holding, wirft man vor,
dass ihr Nachrichtensender NTV nicht über die Proteste berichtete,
daß er Desinformationen streut und Nachrichten manipuliert.

"Teilt und tauscht, geht zu Fuß, schaut kein Fernsehen,
kauft Fahrräder, spart Benzin, und wenn ihr nicht kochen könnt,
dann esst in den kleinen Kneipen eurer Nachbarschaft", so ein Protestaufruf.

Unser Gruß gilt den widerständigen Bürgerinnen und Bürgern überall - aber statt
der hier zu oft gehörten Klagelieder müssen wir die Hoffnung wecken
und die Träumer wachrütteln und beginnen,
Teile unserer Träume Realität werden zu lassen.

Wo kaufen wir denn ein?

.......

Was essen wir?

.......

Welche Medien unterstützen wir? Wir brauchen mehr Gegenöffentlichkeit,
mehr Abonnenten für die Taz, mehr Förderer von Kontext, von Freitag,
den Nachdenkseiten, von junge Welt und vielen vielen anderen ....

Wir brauchen Ort der Debatte, der Kultur,
des Wissens, Orte zum Nachdenken und Weiterdenken und Ausruhen -

.......

Wir sind es, die in unserer Stadt die Finger in die Wunden legen müssen,
wir sind es, die zeigen müssen, wo etwas schief läuft in einem Land,
dass sich weltweit als Moralapostel aufspielt, daß die Polizei weltweit auf- und ausrüstet, das Panzer in Krisengebiete verkauft.

Demokratie geht nicht ohne Menschen, die unnachgiebig sind, die eine Sache nicht loslassen, wenn sie die als richtig erkannt haben, die Nein sagen können, sich Autoritäten entgegenstemmen, die erkannt haben: Es liegt an uns, an mir!
Es liegt an Euch!

.......

Und noch eins: Wir Menschen sind eben einfach nicht so, dass wir unermüdlich mitwirken, unentwegt teilhaben, dauernd partizipieren, uns stets engagieren.
Wir brauchen auch verlässlich lange Zeiten der Ermüdung, der Pflege des Intimen
und Privaten, des Rückzugs, der Regeneration und Erholung.
Gestärkt sind wir, wenn wir uns das erlauben -
und krank werden wir, wenn wir Unermüdliches predigen.

Wegen der Pausen brauchen wir Euch, die Vielen, viel weiter vorn.
Und manchmal ist eine Pause besser als eine Arbeitsgruppe.
Deshalb brauchen wir heute auch die Pause, um mit den Brasilianern zu tanzen.

Unruhe ist die erste Aufgabe aller Radikalen, die die Verfassung der Freiheit lieben. Sie verlangt eine Allianz unabhängiger Geister. Vielfalt, Freude, Fantasie.
Deshalb sind wir heute hier.“

Quelle: BAA

*) Siehe auch:

https://www.freitag.de/autoren/felix-martens/rio-de-janeiro-die-polizei-dreht-durch

Boyun egme“ - „Beug dich nicht“, aber denk daran:

"Du, lass dich nicht verhärten

in dieser harten Zeit.

Die allzu hart sind brechen,

die allzu spitz sind stechen

und brechen ab sogleich.....“

Wolf Biermann, früher....

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

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