Der Nestbeschmutzer

Büchner-Preis Von Walser lernte er, dass ein Buch keinen Nutzen haben muss, von Dürrenmatt und Frisch, dass ein Dichter ein public intellectual ist. Ein Glückwunsch an Lukas Bärfuss
„Ich muss das Land aushalten und das Land muss mich aushalten“
„Ich muss das Land aushalten und das Land muss mich aushalten“

Foto: imago images / STAR-MEDIA

Die Schweiz hat es nicht leicht mit ihren Schriftstellern. „Zuhause bin ich, wo ich meinen Ärger habe“, sagt Peter Bichsel. Paul Nizon wurde berühmt mit seinem Diskurs in der Enge, Dürrenmatt hielt kurz vor seinem Tod die Rede Die Schweiz – ein Gefängnis, und von Max Frisch gibt es einen Aufsatz mit dem Titel So wie jetzt, geht es nicht.


Der vierte Schweizer Büchnerpreisträger steht in dieser Tradition. Mit dem Essay Eine Schande setzte sich Lukas Bärfuss 2012 gegen die Verschärfung des Asylgesetzes in der Schweiz zur Wehr, und in seinem Essay Die Schweiz ist des Wahnsinns, der 2015 in der FAZ pünktlich zu den Schweizer Parlamentswahlen erschien, liest man Sätze wie: „Ein Volk von Zwergen will man hierzulande sein und bleiben. Darauf besteht man durch alle sieben Böden und bis ins hinterste Tal.“ Dieser Essay entfachte einen jener Entrüstungsstürme, mit denen Schriftsteller in der tendenziell intellektuellenfeindlichen Schweiz rechnen müssen, wenn sie sich einmischen. Die NZZ druckte gleich drei Repliken, von einer „blindwütigen Polemik“ war dort die Rede, Bärfuss habe „alle Vernunft fahren lassen“ und einen „sprachlich wie gedanklich schwachen“ Text produziert, während der Tages Anzeiger fand, der Autor „wickelt sich selbstgenügsam in Paranoia ein“. Ein Jahr später sagte Bärfuss dazu in einem Interview: „Ich muss das Land aushalten und das Land muss mich aushalten.“

Man wirft sein Herz über den Zaun und springt hinterher


Die Büchnerpreis-Jury hat also einen Nestbeschmutzer ausgezeichnet, ein Begriff nicht für denjenigen, der das Nest beschmutzt, sondern für den, der den Schmutz an die Öffentlichkeit bringt, so eine Feststellung von Max Frisch. Dass Lukas Bärfuss in dessen Fußstapfen treten wolle, gehört zu den Klischees aller Bärfuss-Debatten, war doch die Stelle des public intellectual in der Schweizer Öffentlichkeit nach dem Tod von Frisch und Dürrenmatt jahrelang vakant. Bärfuss ist unstreitig der streitbarste Schweizer Schriftsteller seiner Generation. Er provoziert, manchmal tut er es mit grobem Geschütz, und manchmal schießt er auch über das Ziel hinaus, so etwa als er vor zwei Jahren zur Abschaffung des Schweizer Buchpreises aufrief, dessen Jury angeblich von Verlagsseite her unter Druck gesetzt werde. Beim Schreiben werfe man das Herz über den Zaun und springe dann hinterher, sagt Bärfuss über seinen Schreibprozess.


Schweizer Schriftsteller haben oft in Deutschland mehr Erfolg als in ihrem Heimatland, das gilt auch für Bärfuss. Seine Stücke werden auf deutschen Bühnen öfter gespielt als in der Schweiz, und seit seinem ersten Roman ist sein Werk in einem deutschen Verlag beheimatet: bei Wallstein in Göttingen. Politik und Literatur können kein Gegensatz sein für einen, der über das schreibt, „was ich fürchte und liebe“. In Bärfuß‘ erstem Roman Hundert Tage (2008) geht es um die Verwicklungen der Schweizer Entwicklungspolitik in den Völkermord in Ruanda. In Koala (2014) nimmt er den Selbstmord seines Bruders zum Anlass, anhand der eigenen Schuldgefühle ein Psychogramm der Schweiz zu erstellen. Sein jüngster Roman Hagard (2017) erkundet anhand einer surrealen Verfolgungsjagd die conditio humana der Wohlstandsgesellschaften des 21. Jahrhunderts.


Aus seinen Essays, die in den zwei gewichtig betitelten Bänden Stil und Moral (2015) und Krieg und Liebe (2018) erschienen sind, lässt sich unter anderem ein Porträt des Künstlers als junger Mann herausdestillieren. Nach einer schwierigen Kindheit im Berner Provinznest Thun, machte sich der Schulabbrecher Bärfuss als Autodidakt selbst zum Schriftsteller. In einem Essay über Robert Walser offenbart er seine Lese-Biografie. Nachdem er als Kind durch einen Zufall in den Besitz eines 20-bändigen Jugendlexikons gekommen war, liest er alles, was ihm in die Finger kommt, und so stößt er eines Tages auf Robert Walser. Er habe „ein besonnenes Buch“ geschrieben, „aus dem absolut nichts gelernt werden kann“ – diese Zeile aus Walsers Die Räuber trifft Bärfuss wie ein Blitz. Er erkennt, dass er bis dahin Bücher immer auf einen bestimmten Zweck hin gelesen hatte: um aus ihnen zu lernen. „Als (...) ich mich nicht mehr um den Zweck kümmerte, hörte ich auf zu lernen und begann zu erleben.“ Die Welt der Sprache tat sich ihm auf: „Ich hörte sie atmen, schnaufen, sah, wie sie trabte, galoppierte, tänzelte, fühlte sie schmeicheln und kratzen, sich zieren und winden.“


Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Lukas Bärfuss‘ Schreiben. Auf der einen Seite der furchtlose, engagierte Polemiker, aus dessen Texten wir bitte etwas lernen sollen, und auf der anderen Seite der Dichter, der die Position seines Standes in der Gesellschaft so beschreibt: „Man scheint sie zu brauchen, aber man weiß nicht wozu.“

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