Abstieg braucht Verachtung

Christian Baron Ein guter Marxismus mit allen Schikanen kostet 25 000 Reichsmark, heisst es bei Bertolt Brecht. So viel Geld hatten die Barons nie.

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Deshalb hatte Christian Baron enorme Schwierigkeiten Schule und Universität zu besuchen. Darüber schreibt er in seinem Buch „Proleten Pöbel Parasiten“. Es geht um die Willkür sozialer Verdikte.

Auf der Universität begegnert er nun einer Spezies Mensch, die ich als Schmock bezeichnen möchte. Sein Kennzeichen ist es, über alle Gegensätze der Welt stundenlang zu plaudern, ausser über den zwischen arm und reich. Als hervorragendes Beispiel führt Baron im Trier Biohaus eine Stipendatin der Heinrich-Böll-Stiftung an. Dieser Verein bekam, ich wiederhole gerne, von der Freien-Arbeiter-Union (FAU) einen auf den Deckel, weil er einen Leiharbeiter rechtswidrig beschäftigte. Und jetzt wieder zur Studentin. Sie ist nicht begeistert, dass Baron Fertigpizza mit Salami isst und bittet ihn, sein Konto bei der anthroposophischen GLS-Bank zu führen. Die Studentin verweist weder auf den Geschmack noch auf den Geldbeutel, sondern moralisiert. Warum? Der von Baron oft zitierte Leo Fischer weiss es : „Wie in Viktorianismus oder Biedermeier ist es Kennzeichen dieses abgehängten Bürgertums, daß alles, Ernährung, Kunst, Politik, Unterhaltung, Mode und Komik immer nur als moralische Äußerung oder überhaupt nicht gelten darf.“ Die Studentin ahnt, dass sie nur einen Bandscheibenvorfall oder ein paar Jährchen von Hartz-IV getrennt ist. Also muss sie sich in der Zeit, die ihr bleibt, von ihrer eigenen Zukunft distanzieren. „Schlimm ist es, wenn man nicht weiss, was die Pyramiden sind, noch schlimmer ist es, wenn man nicht weiss, wie ein gutes Rumpsteak schmeckt.“ Brecht hätte bei Barons Kommillitonin keine Chance gehabt.

Jetzt mitten im Absturz ein komplexes System entwickeln, in welchem man die Tritte, die man empfängt, besser nach unten geben kann. Ein Gang durch den Supermarkt genügt. Billigbier, Fernsehbier, Craftbeer, nach Ständen geordnet wie zu den besten Zeiten des Mittelalters. Die Plörre, die preiswerte, wird verschämt verdeckt in der Hand gehalten, denn du bist arm und ungebildet und stolz und herausfordernd das Markenprodukt, denn das hast du dir als hart arbeitender Geniesser verdient, offen getragen. Die Frage des Kasten Biers ist eine Frage der Kaste. Der Klassenkampf von oben, die Barbarei der Ökonomie nistetet in den kleinsten Nervenzellen der Gesellschaft. Merkwürdigerweise wird er von denen, die darunter leiden, begeistert begrüsst.

Baron betreibt Schnöselkunde. Er begegnet zitatenreichen Menschen mit hinreissendem Abkürzungsfimmel. Die Grenzen zwischen experimenteller Lyrik und Bürokratenslang sind dabei fliessend. Spannend wird es, vergleicht man das Kauderwelsch von Barons Umgebung mit dem Ausdrucksvermögen seiner Hausgötter Oscar Wilde und Wolfgang Herrndorf. Letzterer bringt es auf den Punkt. Kultur beruht erstmal auf Müssiggang statt auf authentischer Selbstoptimierung: „Grosse Lektüre von großem Mist zu scheiden, ist ein zeitraubendes Unterfangen, wenn man aus kulturfernen Schichten kommt und niemand kennt, der sich sonst noch dafür interessiert.“

Wenn jemand so angestrengt beobachtet, wenn Pommes Frites die Madeleines des armen Mannes sind, dann kippt zuweilen die Aufmerksamkeit um. An zwei Stellen scheint mir Baron die Gefahr zu unterschätzen. Zum einem was er „Demokratisierung des Journalismus“ nennt. Die Möglichkeit, ungehemmt die Welt durch Onlinekommentare zu verblöden, nützt vor allem das verrohte Bürgertum. Woher nehmen die Foristen die Zeit, über die faulen Arbeitslose und Griechen zu schimpfen? Viele Übel liessen sich verhindern, nähme man den Leuten die Tastaturen weg.

Zum anderen Fussball. Darüber schreibt Adorno: „Für zwei Stunden [ gemeint ist eine Übertragung eines Fussballspiels im Radio ] schweißt der grosse Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fussballinteressierten zur Volksgemeinschaft zusammen. Der kaum verdeckte Nationalismus socher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärtk den Verdacht ihres destrukitven Wesens.“ Fussball und Hochkultur sind keine Gegensätze mehr wie Baron vermutet. Schon vor Jahrzehnten lange bevor es „Elf Freunde“ gab, schrieben Ror Wolf und Eckhart Henscheidt über Fussball. . Adorno hat gut Recht wenn er „Volksgemeinschaft“ und „Nationalismus“ kritisiert. Wie aktuell Adorno ist, belegt der Firmenlauf, der die Innenstadt verschandelt. Chef und Leiharbeiter schwitzen gemeinsam für die Gesundheit.

Hier gibt es keine Erlebnisscenelocations. Hier gibt es keine frisch gezapfte Geschmackskultur. Hier riechts nach zerbrochenen Flaschen. Baron trifft einen jungen Bekannten aus seinem Viertel vor dem Rathausplatz. Johnny hat kurz vor der Abschlussprüfung seine Lehre geschmissen. Niemand hat Johnny je erzählt, was Solidarität ist und niemand hat ihm beigebracht, die Freizeit mal nicht mit Konsum gleichzusetzen. Johnny machte nie in einem Verein oder einem autonomen Jugendzentrum mit. Seine Freundin Jenny sagt: „Manchmal guck ich die `Tagesschau`, aber da versteh ich nur die Hälfte.“ Das macht, die Linke spricht die Sprache der Regierenden, nicht die der Regierten. Jenny stimmte bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz für die Partei, die ihr noch den letzten Groschen wegnehmen wird, die AFD. Diese ist die grosse Sammlerin des Irrationalen, des alltäglichen Frusts und bestens gegen Argumente gewappnet. AFD ist das Ressentiment, dass sich als Akt der Rebellion gegen „die da oben“ verkleidet. „Bewegungs- und Parteilinke haben nach 1989 ernsthaft geglaubt, dass es keine sozialen Klassen mehr gebe.“ Was Johnny und Jenny fehlt, ist nun jene verbissene Aufstiegswut, die das Erfolgsgeheimnis der „Unterschicht“ war: Meine Kinder sollen es mal besser haben. Barons Opa erkannte sofort, dass sein Enkel zwei linke Hände hatte und wahrscheinlich eine Bürotätigkeit übernehmen würde. Barons Mutter schrieb Gedichte und las ihrem Sohn Märchen vor. Barons Tante gab ihr bisschen Geld dafür aus, dass der junge Christian „Spiegel“ und „Focus“ lesen konnte. Zur Belohnung wird der Theaterbesuch als Fest zelebriert. Solcher Erfolgszwang scheint inzwischen zur abstiegsbedrohten Mittelschicht abgewandert zu sein.

Gross und stark wird Baron, wenn er seine Kindheit beschreibt.

„Die Süßigkeit barg jenes Versprechen in sich, es dereinst vielleicht doch einmal so gut zu haben wie die Kinder aus der Grundschule, die man immer aus der Ferne beneidet und bewundert hat, wenn sie jedesmal nach den Sommerferien von ihren traumhaften Reisen ans Mittelmeer und dem täglichen genussvollen Eisschlecken erzählten.“ Das ist es, was den Roten auszeichnet. Her mit dem schönen Leben, Zuckererbsen für jedermann . Baron will Beute machen. Damit es die Böll-Stiftung in Trier versteht: Majakowski avant la lettre.

Sozialdemokraten und Grüne zertrümmerten den Sozialstaat. Die AFD fährt die Ernte ein. Was tun? Baron rät zu Oscar Wildes Liebe zum Denken, Beutemachen, Laizismus und der Schönheit der Lakonie. Barons bester Satz: „Der Clou der kapitalistischen Klassengesellschaft besteht seit einigen Jahrzehnten gerade in der Behauptung, keine Klassengesellschaft mehr zu sein.“

Christian Baron

Proleten, Pöbel, Parasiten

Das Neue Berlin, Berlin 2016, 12,99 Euro; 288 Seiten. ISBN: 978-3-360-01311-8

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