„Nur zweierlei Traum war schamlos genug“

Literatur „Ein Boot in der Wüste“ ist eine klug ausgewählte Leistungsschau des Schaffens von Christian Geissler

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„Nur zweierlei Traum war schamlos genug“

Foto: imago images / imagebroker

Einer will raus und nach oben. Raus aus der muffigen Wohnung und weg vom ewigen Zittern um die Miete. Leo Kantfischs Altar ist das Bücherregal. „Er band sich oft Stunden noch nach aller Arbeit an seinen Stuhl zwischen Büchern und Elternbett.“ Dann wird der Vater arbeitslos und aus ist's mit dem Abi. Jetzt heißt's Laufbursche sein und Kegel aufstellen. Aufstieg soll die Polizei bringen. Die Schule fände dann Zeit in den Abendstunden. Zunächst fließt Kantfisch ungeheures Selbstvertrauen zu. Die Uniform, der neue Einsatzwagen, die Prüfung als Jahrgangsbester gepackt. Dazu mag sein Ausbilder Kantfisch. Der schärft ihm ein, die Polizei dürfe sich niemals gegen das Volk wenden. Kantfisch ist im Viertel angesehen und gilt trotz seiner Arbeit als einer der ihren. „Leo hat noch gut Pfeifen.“ Er gerät in Entscheidungszwang, als ein besetztes Haus geräumt wird. Die Mieter dulden es nicht länger, daß einer kassiert und das Gebäude verfällt. Kantfisch holt ein Kind aus der Schußlinie. „Denn da ist kein kluger freundlicher Platz zwischen Mündungsfeuer und Aufschlag“, wie Christian Geissler (1928 - 2008), der so sanft Sätze streichelt, schrieb.

Kantfischs Geschichte ist in der Sammlung „Ein Boot in der Wüste“ erschienen. In ihr hat der Verbrecher Verlag, der seit 2013 Geisslers Werke veröffentlicht, Auszüge aus Hörspielen und Romanen und Gedichte vereint. Kantfisch ist einer der Hauptfiguren des Romans „Wird Zeit, dass wir leben“. Dieser spielt überwiegend in Hamburg am Ende der Weimarer Republik. Kantfisch wird später die Barrikaden wechseln und versuchen, Schlosser, einen inhaftierten Kommunisten, zu befreien. Im Gegensatz zu vielen Romanen über diese Zeit schaut sich „Wird Zeit, dass wir leben“ auch das flache Land an. Schlosser erkundet im „Auftrag der Leitung“ die „Scheunen und Hütten“ in Richtung Mecklenburg. Die bürgerliche Demokratie endet einige Kilometer außerhalb Hamburgs. Dann herrscht der Feudalismus in seiner deutschen, in seiner borniertesten Form. Karo, das „Knechtemädchen“ träumt von den großen, spontanen Aufständen. „Die Schönheit einer so selbständigen Gewalt“ will das Schloss anzünden. Karo hörte von den Indianerkriegen drüben in Amerika und lernte daraus, daß man Verträgen nicht trauen dürfe und man im Krieg nie ohne Waffen sein solle. Schlosser hingegen, seit seiner Kindheit von Vergewisserungsängsten zermürbt, sieht in der Revolution eine Art Mathematik, etwas Planbares: Ausschau halten nach möglichen Bündnispartnern und keine kleinbürgerliche Abenteuer. Wenn die paar Seiten über Schlossers Charakter Aufschluss geben, dann, dass sein Geldbeutel keinesfalls zu seinem übertrainierten Nervensystem passt. Bei Geissler plagt zusätzlich ein pathologischer Bildungshunger die Revolutionäre. Proff, Protagonist und Kameramann im großen und mächtigen Roman „Kamalatta“ empfindet so etwas wie Respekt für seinen Feind, das „weiße Auge von Princeton“, einen US-amerikanischen Spezialisten für Aufstandsbekämpfung, weil dieser Gottfried Benn kennt.

Mitte der 1990er Jahre, als munter von postmaterialistischer Zivilgesellschaft und dem Ende der Geschichte geplaudert wurde, schrieb Geissler unberührt vom Zeitgeist, ja, im trotzigen Widerstand den Roman „Wildwechsel mit Gleisanschluss“. Europa ist eine feste Burg, wenn auch weniger Gottes denn des Kapitals, lässt niemanden mehr herein und Deutschland driftet nach rechts. Im Norden nah der holländischen Grenze, dort wo sich Geissler die letzten Jahre seines Lebens zurückgezogen hatte, spielt Wildwechsel. Im Ort dämmern die Rentner im „Sparkassenschatten“ vor sich hin. Einer von ihnen, „Opa Wlodawa“, jagt immer noch in Verklärungssucht Partisanen in Polen und deportiert Juden. Seine herrischen Befehlssätze, dieses hingeknallte Stakkato, wirken auf den Enkel Honken. Andererseits hat auch Viet etwas zu bieten. Der lockt mit Exotik: Bilder von Belfast und Portugal an der Wand, Stories aus Guatemala und Wunderdüfte fremder Speisen. Viet wohnt in einem verrotteten Bauernhaus. „Sieht aus wie ein fauler Mann, ist aber gefährlich.“ Viet hilft Flüchtlingskindern, von Hunger gejagt, über die Grenze. „Wildwechsel“ wurde bei Erscheinen als düstere Zukunft gesehen – heute ist es hinnehmbar gewordene Wirklichkeit. Europa vertreibt die Solidarität, errichtet „knallharte Pufferregionen“, und wer unten ist, sucht einen, den er treten kann: „Weiße Arme aus Osten helfen den Jägern beim Jagen der Armen aus Süden.“ Der Schriftsteller Jürgen Lodemann verglich da Geissler mit Hieronymus Bosch. Als würden aus den nebligen Mooren des Nordens die Fratzen der Bestien aufsteigen.

Bei Geissler liegen Grundbuch und Landschaft miteinander im Streit. Welche Überraschungen zaubert er aus der kartoffelstruppeligen Agrarsteppe. Ahlers und Nina, die beiden Liebenden, bauen sich Schlafsackidylle und Biberburg auf kleiner Insel. Ahlers blickt um sich: „Er hatte Fische gesehen, Enten mit Jungen, den Reiher, Rohrweihen am Horst – einen Graustorch für Ahlers und zwei rote Adler mit gelbem Kopf, „so musst du mal fliegen können, riesige Ottos, aber Gedicht, alles Kurven und Kreise und Sturzflug und Schwünge nach oben, alles ein Zirkus, für Schau, für die Alte wahrscheinlich, die bleibt immer schön am Nest und passt auf die Lütten.“ Jahre später wird Ahlers beim „Waldrandbaron“, genau dem, für den schon Karo schuften musste, arbeiten und mit „Maschinen wie Panzer“ den Wald roden und „Altbuchen schlagen, die Kameraden, wehren sich wie Elefanten, ich krieg euch, ihr uralten Tanten ...“

Die Herausgeber haben sich Texte ausgesucht, in denen große Ereignisse eine Rolle spielen. Ahlers hilft französischen Soldaten zur Zeit des Algerienkrieges zu desertieren, und er rettet während der Hamburger Sturmflut auf Hausdächer Geflohene vor dem Ertrinken.

Das Haus, in dem die Physiker Köhler und Steinhoff arbeiten, gehörte früher einer jüdischen Familie, die in die Vernichtungslagern verschleppt wurde. Vom Fenster des Instituts blickt man in einen Garten einer psychiatrischen Klinik. Dort wurden während der Nazizeit „Kranke“ getötet. Nichts erinnert mehr an die Verbrechen. Das geschichtsblinde Wirtschaftswunder, man schreibt das Jahr 1960, brauchte anscheinend das große Vergessen. Steinhoff verlor am Ende des Krieges ein Bein und ist von jedem Patriotismus geheilt. Er und Köhler wollen nun testen, ob die Wiederbewaffnung schon siegte oder noch Gedankenreste an die Vergangenheit in den Köpfen der Bevölkerung schlummern. Dafür holt sich Steinhoff einen Hund aus dem „Tierhort“. (Vielleicht ist das für meine Begriffe ungewöhnliche „Tierhort“ statt Tierheim schon ein kleiner Hinweis auf Geisslers spätere artifizielle Ausdrucksweise.) An einem sommerlichen Samstagnachmittag schlendern nun Köhler und Steinhoff und Hund durch die dichtgedrängte Innenstadt. Nacheinander betreten Köhler und Steinhoff ein „Geschäft für Uniformen, Orden und Ehrenzeichen.“ Köhler tritt als schlaffer Zivilist auf und wird hinausgewiesen. Anders Steinhoff. Sein zackiger Casinoton kriegt sofort das Eiserne Kreuz. Und nun geschieht etwas, was die Herausgeber als „respektlosen Schabernack“ bezeichnen. Und dieser Übermut kommt bei Geissler ganz selten vor. Steinhoff hängt dem Hund das Eiserne Kreuz um und lässt ihn laufen: „der Orden baumelte ihm am Hals wie eine Steuermarke, die schwarz-weiß-rote Schleife schmückte ihn wie einen Kinderhund auf einem Sommerfest.“ Im deutschen Gemüt ringen jetzt Tier- und Vaterlandsliebe miteinander. Ein „Lodenrock“ nähert sich mit einer Eisenstange dem Hund. Es gehe um „die Ehre eines Soldaten“. Steinhoff stellt sich dazwischen und entblößt seine Prothese: „Sehen Sie, das Originalbein liegt dort, wo Sie das Feld der Ehre vermuten, im Dreck“. In der Gewissheit, dass die Umstehenden noch auf seiner Seite sind, gibt Steinhoff dem Vaterlandsverteidiger eine Ohrfeige. Dann befreit er den Hund vom Blech und wirft dieses in den nächsten Gully. Die Geschichte stammt aus dem Roman „Anfrage“. Es war Geisslers erste größere Prosaarbeit. Sie erinnert, welche Faszination Sekundärtugenden auf die Bevölkerung ausüben: „Unter der Aufsicht von Buchhaltern bekommen Verbrechen den Stil, den wir lieben: Ordnung und Präzision.“

Geissler besuchte seine Mutter in einem kleinem Heim der Arbeiterwohlfahrt. Er war erschrocken über die sterile Reinlichkeit: „... zwischen Chrom und Kachel, zwischen Zierkürbis, Perlon und Resopal, gibt’s eine Art von Sauberkeit, die tatsächlich Vernichtung dünstet ...“ Die „moralische Absicht“ der Besucher kleidet sich in „Schwiegersohnsüßkramhäppchen“, „Supermarktabpacknelken“ und einer „wüsten Kleinkindbetreungssprache“. Am Ende des Lebens giert jeder danach, von einer anderen Hand berührt zu werden.

Was man in einem Lesebuch schlecht unterbringen kann: Geissler war auch Dokumentarfilmer und entdeckte Bilder des polnischen Schriftstellers Bruno Schulz. Als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus plädierte Geissler für eine uniformlose Gesellschaft, die den Terror des Eigentums nicht kennt. Die Dealer des Verbrecher-Verlags bieten als preisgünstige Einstiegsdroge ein Taschenbuch an. Ich warne ausdrücklich. Das geht vielleicht zwei, drei Jahre gut und dann werden Sie vor einem Regal voller gebundener Geissler-Bücher stehen.

Christian Geissler: Ein Boot in der Wüste
Verbrecher Verlag, Berlin 2020, Broschur 264 S., 16 €
ISBN: 9783957324498

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