Die Liebe im Jahr des Baseballschlägers

Verhängnisvolle Liebe In Oliver Steinkes Roman „Brachvogelweg 92“ ist die amour fou bei den Hausbesetzern unterwegs.

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Allein schon wie er durch die Straßen schlurft und schlappt. Wo bleibt da die leistungsorientierte Selbstoptimierung? Und wie er wieder aussieht. Andererseits sollte man Hannes nicht unterschätzen. Er ist Kampfsportler, hat Arbeit und Wohnung und ist durchaus in der Lage, sich gegen Nazis zu wehren. Hannes lebt hoch oben im Norden nahe der dänischen Grenze zu Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Er ist in jenem glücklichen Alter, in dem einem die Banken noch keine Kredite andrehen wollen, also so um die zwanzig. Adrian tritt auf. Er ist der Ich-Erzähler und Hannes´ bester Freund. Beide machen bei den Hausbesetzer und der Antifa mit und sind Anarchisten. Der Polemiker Wolfgang Pohrt nannte die Hausbesetzer mal „Trümmerfrauen“ und Heinzelmännchen“. Bei Steinke agieren sie zusätzlich noch als unbezahlte Sozialarbeiter. Angie, eine Freundin eines Besetzers erläutert: „Eine von denen dealt mit Shore, die anderen hängen mit den Faschos ab. Wir schmeißen die Dealer raus, die ihr Zeug auch selber nehmen und sich das Hirn weggedrogt haben und ärgern uns dann mit denen rum. Aber so was steht nie in den Zeitungen. Die schreiben, wir sind die Dealer. Verstehst du, wie das läuft?“

Allerdings legen die Anarchisten auch wenig Wert darauf, daß ihr Ansehen sich in der Öffentlichkeit verbesserte. In einen Interview fand Oliver Steinke dafür das schöne altfränkische Wort „Dünkel“. Denn auch bei den Linken gelten die „feinen Unterschiede“. Es macht schon was her, wenn Erich Mühsam im Regal steht. Politischer Erfolg hätte bedeutet, daß sie ihren Status als auserwählte Schar der Belesenen verloren hätten.

Adrian beobachtet nun Hannes Ich-Verfall, seine angenehm müde Selbstaufgabe. Hannes hat sich obsessiv in Leyla verliebt, einer Libanesin aus guten Haus, die vorzüglich Cello spielt und mehrere Sprachen beherrscht. Leyla unterhält intensive Beziehungen zur alten Heimat. Ihre Schwester besucht sie und lässt inmitten der Anarchisten, den finanziellen Hintergrund der Familie aufleuchten. Sie will sich privat ihre Zähne behandeln lassen und schwankt, ob sie Deutschland oder Frankreich studieren soll. Die Schwester reist bald wieder ab, aber da bleibt Kenan. Wie Hannes später erfahren wird, war Kenan im Libanon mit Leyla verlobt und hat ihretwegen eine gut bezahlte Arbeit aufgegeben. Kenan soll glauben, Hannes sei ein brüderlicher Freund. Alle drei irren gewaltig im Dschungel der Hormone umher. Kommt Hannes mit der wirklichen Leyla immer schlechter zu recht, so erfindet er sich eine neue, die er mit Kenan nicht zu teilen braucht. Für diese tut er alles. So verfolgt er sie, während sie auf einer Tournee ist. Obwohl Leyla mit Religion wenig am Hut hat, will er ihr zuliebe zum Islam übertreten. Vage spielt hinein die Hoffnung, die ferne Familie Leylas könne dies als sympathisch erfinden. Die besonnene Moscheegemeinde fürchtet den Eifer des frisch Bekehrten und erkundigt sich erst mal, ob er seine Familie über die Konversion informiert habe, was Hannes verneint.

Hannes drängt immer mehr auf eine Entscheidung. Leyla soll sich klar zu ihm bekennen, in eine gemeinsame Wohnung ziehen und Kenan alles erklären. Das Schwanken, das Verheimlichen, das Versteckspiel zermürbt die Nerven der drei. Es folgt ein Drama, bei welchem sich Kenan erschießt und Hannes im Krankenhaus aufwacht.

Bei Steinke ist es also keineswegs ein „kultureller Konflikt“ , obgleich Zeitgeist und Auflage dies gerne gesehen hätten, der die Tragödie entfacht. Steinke schildert Hannes Liebeswahn von außen, dieses geschichtslose Dahin brüten in Eifersucht und Leylaverehrung.

Adrian hatte schon mehrere „Beziehungskisten“, wie es in den neunziger Jahren hieß, seines Freundes mitgekriegt. Sie verliefen alle nach dem selben Muster:

„Er verliebte sich oft, sehr schnell und unmittelbar, ein Lächeln und Augenzwinkernder Wimpernschlag genügte. Aber selbst, wenn sich auch die Frau verliebte, fuhr er es meist in wenigen Wochen oder Monaten gegen die Wand. Er wirkte einfach zu bedürftig, klammerte sich an die neue Liebe wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Wer will das schon?“

Und was macht so Adrians Herzkaspargeflatter? Dieses leichte Getöse im Brustkorb, vor dem einem kein Bakunin und kein Kneipenbier bewahrt? Adrian ist mit der Kurdin Samira zusammen. Sie ist der pragmatische Flügel des Brachvogels. Sie kifft nicht, sie trinkt nicht, sie geht zur Uni. Und für diese verfasste sie das Drehbuch „Deutschlandmärchen“. Adrian liest es durch und er schmeißt sich danach gleich noch eine Aspirin rein. Es treten u.a. auf eine norddeutsche Landschaft mit Kühen (ohne Halbtrauer!) , ein Kettcar, Michail Gorbatschow, mehrere Galaxien, Udo Lindenberg, Pink Floyd, einige Punks, die ihre E-Gitarren quälen, die Hausbesetzer als Selbstdarsteller und noch einige andere.....Dazu Zooms, Totale und Regieanweisungen. Jemand probiert seine neue Kamera aus. Adrian zweifelt stark. Steinke, der wohl das ästhetische Urteil seines Protagonisten teilt, hat eine Abneigung gegen verquaste Experimente, stilistische Mätzchen und glaubt nicht, man müsste das Rad neu erfinden. So wie Steinke schreibt, ist er einer, der im „alten Haus der Sprache“ wohnt.

Mit Bedacht hat der Verfasser das Jahr 1992 ausgewählt. In Rostock-Lichtenhagen steckten unsere „Skinheadbuben“ (M. Walser) ein Wohnheim, in dem sich über 100 Menschen aufhielten, in Brand. Die Zuschauer applaudierten. Die Polizei, die hochgerüstete, ließ gewähren. Aber ein paar Tage später als Hannes und Adrian und viele andere unter dem Motto „Stoppt die Pogrome“ friedlich in Rostock demonstrierten, waren plötzlich 3 000 Mann und Hubschrauber da. Rostock war vielleicht der endgültige Abschied von der kleinen Bundesrepublik, die noch was auf Sozialstaat und Asylrecht hielt. Von nun an schlug zusammen, was zusammen gehörte.

Steinkes unbeirrbarer Realismus zeichnet einen Bürgerkrieg im Kleinem. Treibjagden, Schlägereien, Molotowcocktails. Einmal schleicht sich der „Brachvogel“ in den Kopf eines Skinheads. Ihm hat ein älterer Mann einige dürftige ideologische Versatzstücke geliefert. Der Skin schiebt sie beiseite. Die „Zecken“ beleidigten anscheinend seine kleinen Bruder. Die Privatfehde kann er aufplustern, weil er spürt, dass auf sein Taten keine Konsequenz folgen werden. Irgendeiner wird ihn bescheinigen, daß er unschuldig ist. Bei einem Geplänkel mit den Rechten werden Fenster eingeworfen. Adrian macht eine wichtige Entdeckung: „Ein paar kaputte Scherben, viel zu wenig. Aber es ist die Angst, die zählt. Die Nazis werden zumindest heute nicht ruhig schlafen können.“ Und Angst brauchte die deutsche Rechte nie zu haben. Das Schlimmste, was ihr passieren kann, ist es, in einer Talkshow als besorgter Bürger aufzutreten.

Steinke hat inzwischen genügend Abstand und Selbstironie, um auch die komischen Seiten der Hausbesetzer einzufangen. So hatte die Szene extra einen indianischen Experten für Schwitzhütten einbestellt und war äußerst verblüfft, daß dieser nicht in Schamanengeraune verfiel, sondern sich ganz irdisch für Flaschenbier und Mädchen interessierte.

Wenn der Stil der Mensch ist, dann ist Steinke ein konservativer Romantiker. „Wir liebten uns wie die Wildkatzen“, heißt es nach einer Umarmung mit Samira. Adrian liest „Tötet die Schlange“ des türkischen Schriftstellers Yasar Kemal und urteilt: „Der Roman handelt von den Abgründen im Menschen, die in der Seele hausen wie Raupen im Paradiesapfel, immer dazu bereit, die ganze Ernte zu vernichten.“

Zum Schluss einer Besprechung wird der Besprochene oft mit einem anderen Schriftsteller verglichen. X vereint die subtile Ironie eines Y mit dem toxischen Humor des Z. So was klingt gut. . Ich folge der Gewohnheit und vermute, daß Steinke viel Fallada und Feuchtwanger gelesen hat.

Oliver Steinke: Brachvogelweg 92

Paperback, 340 Seiten, Kunst und Brot, Haßloch 2022. 15 Euro

ISBN:‎ 978-3949933004

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