In den ersten Tagen der türkischen Offensive in Syrien wurde ein Video in den sozialen Netzwerken bekannt. Zu sehen waren von der Türkei unterstützte Truppen, die den Körper einer kurdischen Kämpferin schändeten. „Allahu Akbar! Das ist eine deiner Huren, die du uns geschickt hast“, rief einer der Soldaten, der über dem Körper der Frau mit dem Kampfnamen Ama Renas stand. Berichten zufolge war das Kommando Teil eines Zusammenschlusses von Söldnern, die die Türkei für die Errichtung einer „Sicherheitszone“ entlang eines nordsyrischen Abschnitts anheuerte, nachdem US-Präsident Donald Trump entschied, seine Truppen von der Region abzuziehen. Diese Entscheidung hat dazu geführt, dass die kurdischen Kräfte auf sich allein gestellt und Kämpferinnen nun doppelt von sexueller Gewalt bedroht sind.
Ähnliche Fotos und Videos von Soldaten, die die erfolgreiche Gefangennahme von kurdischen Frauen proklamierten, wurden von Journalisten und Wissenschaftlern in Syrien auf Twitter geteilt. Zudem geriet die 35-jährige Politikerin Hevrin Khalaf im Oktober nahe Tal Abyad in einen Hinterhalt. Berichten zufolge wurde sie aus ihrem Auto gezogen, zusammengeschlagen, an den Haaren gezogen und erschossen. Bilder ihres verstümmelten Körpers tauchten online auf und sorgten für einen internationalen Aufschrei.
Verbündet. Verlassen
„Mit der Ermordung unserer Freundin Hevrin Khalaf (…) wurde eine Nachricht an alle Frauen gesandt“, sagt Saristan Efrin, eine 31-jährige kurdische Kämpferin, stationiert in Al-Darbasiyah an der türkisch-syrischen Grenze. Efrin gehört zu den Frauenverteidigungseinheiten. Diese weibliche Miliz, die auch als YPJ bekannt ist, half dabei, die de facto autonome Region Rojava zu sichern, welche die türkische Offensive im Visier hat. 2013 gegründet, besteht die Einheit hauptsächlich aus ethnischen Kurdinnen, welche zusammen mit den männlichen Verteidigungseinheiten YPG in den Demokratischen Kräften Syriens (DKS) gekämpft haben. Die DKS standen an der Speerspitze der US-geführten Offensive gegen den sogenannten Islamischen Staat im nordöstlichen Syrien.
Die kurdische Politikerin Îlham Ahmed, ehemalige Vizepräsidentin des Demokratischen Rats Syrien (der politische Arm der DKS), sagte Haaretz, dass es „eine spezifische Form der Kriegsführung gegen Frauen“ gebe. „Wir haben das beim Mord an Khalaf gesehen. Ihr Tod repräsentiert diese Kriegsführung: Sie war eine Frau, die für die Freiheit kämpfte – und dafür wurde sie angegriffen.“
Jetzt, da türkisch unterstützte Milizen, syrische und russische Truppen auf die kurdische Enklave vorrücken, befinden sich die Kämpferinnen von Rojava in der verletzlichsten Position überhaupt. Hana, eine kurdische Aktivistin aus Qamischli, deren Name geändert wurde, sagte Haaretz in einem Telefoninterview, eine Niederlage sei für die Kämpferinnen „schlimmer, als zu sterben“. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sagt, dass sich die kurdischen Milizen aus Teilen der Grenzzone zurückgezogen haben. Die Kämpferin Efrin sagte Haaretz, dass sie blieben. Das Video von Khalaf „war für die Kämpfer wirklich wichtig, um den Frauen zu zeigen: Schau, das werden wir mit deinem Körper machen wenn du gefangengenommen wirst“, fügt Hana hinzu.
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte teilte mit, dass sich die kurdischen Milizen von Teilen der Grenzregion zurückziehen. Die kurdische Kämpferin Efrin hingegen sagte Haaretz, dass sie bleiben. Am 9. Oktober startete die Türkei ihre grenzüberschreitende Militäroffensive in Syrien mit dem Ziel, die DKS von ihrer Grenze zu drängen. Durch eine am 23. Oktober erfolgte Einigung zwischen Moskau und Ankara wurde ein Teil des von den DKS gehaltenen Territoriums effektiv an die Türkei abgetreten. Kurdische Führer ließen aber verlauten, dass die türkische Offensive trotz der Einigung voranschreitet, auch in Gebieten außerhalb der ausgewiesenen 30 Kilometer langen Sicherheitszone.
Es gibt schätzungsweise 20.000 Kämpferinnen in der YPJ, die im Kampf gegen den IS zwischen 2013 und 2019 eine wichtige Rolle gespielt haben. Während die Vereinigten Staaten die Kurden im Kampf gegen den IS zu ihren Verbündeten zählten, betrachtet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sie als Terroristen, die mit der kurdischen Arbeiterpartei (bekannt als PKK, die sowohl die Türkei als auch die Vereinigten Staaten als terroristische Organisation betrachten) verbunden seien.
Als die Türkei der von den USA geführten Koalition zur Bekämpfung des IS beitrat, begann sie auch mit Verhaftungen und Razzien in kurdischen Bezirken innerhalb der Türkei, um die Aktivitäten der PKK im Rahmen eines größeren Konflikts zwischen dem Staat und der kurdischen Bevölkerung zu unterbinden. Die von der Türkei unterstützten Milizen im Nordosten Syriens „betrachten den Feind als Terroristen, aber die Frauen als Prostituierte. Sie betrachten sie auf ihre eigene, sehr patriarchale Art“, erklärt Dilar Dirik, kurdische Feministin und Forscherin am Zentrum für Flüchtlingsstudien der Universität Oxford. Die Milizionäre sind diejenigen, die die Videos als Teil ihrer Propagandastrategie filmen und veröffentlichen, sagt Dirik und fügt hinzu, dass „das die Botschaft ist, die sie der Welt – und insbesondere den Frauen – vermitteln wollen.“
Im Oktober 2017, als die DKS den Sieg über den Islamischen Staat in ar-Raqqa verkündete, veröffentlichten sie bewusst Fotos von Kämpferinnen, die die YPJ-Flagge schwenken. Dieser nicht-islamistische, weiblich geführte Sieg über männliche Jihadisten könnte den maßgeblichen Anstoß für die Reihe von gewalttätigen Angriffen auf Frauen gewesen sein. Adam Hoffmann, IS-Forscher am Moshe-Dayan-Zentrum für Nahost- und Afrikastudien der Universität Tel Aviv vermutet, dass es sich um „Rache entlang ethnischer, nationaler und geschlechtsspezifischer Grenzen“ auf Basis der arabischen Männerehre handelt. „Der brutale Rachefeldzug wird durch die Tatsache, dass es sich um Frauen und Kurden handelt, noch verschlimmert“, sagte er Haaretz. Es gebe zwar wenig Informationen über die genaue Zusammensetzung der von der Türkei unterstützten Milizen, aber „es besteht ein Grad an Gewissheit darüber, dass viele dieser Kämpfer zuvor in islamistischen, jihadistischen Milizen involviert waren“, meint er weiterhin.
Laut Marco Nilsson, außerordentlicher Professor für Politikwissenschaften an der Universität Jönköping in Schweden, haben kurdische Frauen aufgrund ihres Minderheitenstatus ein „doppeltes Handicap“. Sexuelle Gewalt gegen Frauen in Konfilktgebieten ist kein neues Phänomen und keine Bedrohung, die nur die Kurdinnen betrifft. Nilsson, der sowohl über kurdische Kämpferinnen als auch über Dschihadistinnen geschrieben hat, meint, dass derlei Gewalt generell „eine effiziente Strategie in vielen Konflikten darstellt, um speziell Frauen ins Visier zu nehmen: Eine Frau zu vergewaltigen hinterlässt einen deutlich nachhaltigeren Eindruck, als sie zu töten. Der Effekt wird länger anhalten, ist symbolischer und für den Gegner eine Schande.“
Sharstan Afree, eine 32-jährige kurdische Kämpferin aus der im Westen von Rojava gelegenen Region Afrin, erzählt Haaretz: „Wenn wir diese brutalen Taten sehen, wie sie die Körper unserer Zivilisten und Kämpfer behandeln, fühlen wir echten Schmerz. (…) Die wollen uns eine Botschaft vermitteln, die ausdrückt: Wenn du gegen unser maskulines System, unsere maskuline Mentalität kämpfst, erwartet dich das gleiche Schicksal wie Hevrin Khalaf.“
Es gibt noch keine Beweise dafür, dass Vergewaltigung in Nordsyrien als Kriegstaktik eingesetzt wurden. Aber die schaurigen Videos, die in den sozialen Medien geteilt werden, sind wahrscheinlich Teil einer psychologischen Kriegsführung, die den Kurdinnen die Furcht vor sexuellen Übergriffen lehren soll. „Diese Bilder, die von Erdoğans Milizen verbreitet werden, sollen uns und unsere Gesellschaft einschüchtern“, sagt Efrin. „Aber im Gegenteil: Sie steigern nur unseren Hass auf die Frauenfeinde (…) Diese Attacken sind unmoralisch und Teil eines besonders sexistischen Krieges.“ Die YPJ-Sprecherin Nesrin Abdullah stimmt dem zu und teilte Haaretz in einem Telefoninterview weiterhin mit: „Wenn sie eine Frau töten, töten sie die Hoffnungen einer ganzen Gesellschaft und Werte der Menschheit.“
Rettung für eine feministische Gesellschaft
Der Kampf gegen den IS überschattete in vielerlei Hinsicht die Errungenschaften der kurdischen Enklave, die Versuch sein sollte, aus dem Chaos etwas Einzigartiges hervorzubringen. Nach dem Abzug der syrischen Streitkräfte aus dem Gebiet im Jahr 2012 versuchten die Kurden, eine egalitäre, von unten nach oben gerichtete Regierung in Rojava zu schaffen. Sie zielte darauf ab, alle Gruppen – Kurden, Araber, Syrer, Armenier, Yazidis und Turkmenen – unter ein demokratisches System zu bringen.
Ahmed vom Demokratischen Rat Syriens sagt, dass die Kurden in Rojava „ein alternatives politisches Projekt entwickeln konnten“. Obwohl Kritiker meinen, die kurdische Führung hätte auch autoritäre Tendenzen, hatte für die Türkei oberste Priorität, den politischen Fortschritt Rojavas rückgängig zu machen. „Erdoğan ist gegen das System, das wir geschaffen haben, welches die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Religionsfreiheit fördert. Momentan ist es sehr gefährlich“, warnt sie. „Es gibt nirgendwo sonst auf der Welt ein System wie das unsere – eine Verwaltung, die die Geschlechtergleichstellung fördert und erreicht hat. Genau das wird angegriffen.“
Seit dem Beginn des Krieges gegen den IS und der Beteiligung kurdischer Kräfte vor Ort exisitiert auch eine gewisse westliche Faszination – Kritiker nennen sie auch „Fetischisierung“ – gegenüber den Kämpferinnen. Sie tauchen in Hollywood-Filmen und Hochglanzmagazinen wie der französischen Frauenzeitschrift Marie Claire auf. Kurische Kämpferinnen spielen sogar in der neuesten Version von „Call of Duty: Modern Warfare“, einem sehr populären Ego-Shooter-Videospiel, eine Rolle.
Eine diplomatische Delegation der Kurden unter der Leitung von Ahmed bereiste Ende vergangenen Jahres westliche Hauptstädte, um für Unterstützung zu werben. Die Mitglieder drängen auf ein Narrativ, das die türkischen Militäroperationen als Angriff auf die Geschlechtergleichstellung und Religionsfreiheit zeichnet und sie verantwortlich für das Wiederaufleben des IS macht. In diesem Sinne ist es womöglich kein Zufall, dass in den sozialen Medien kürzlich ein Foto veröffentlicht wurde, welches eine türkische Soldatin im Kampf gegen „kurdische Terroristen“ in Nordsyrien zeigte. In diesem Kampf scheint es gleichermaßen um Narrative und um Territorien zu gehen.
Die Schriften von PKK-Gründungsmitglied Abdullah Öcalan, der davon träumte, einen sozialistischen Staat für die Kurden zu gründen, hatten großen Einfluss auf die Verwirklichung von Rojava. „Als Öcalan (1979, Amn. d. Autorin) in die Region kam, haben sich Frauen das erste Mal organisiert“, sagt Dirik. „Er hat die Geschlechterverhältnisse in Rojava verändert.“ Nachdem Öcalan 1999 von den türkischen Behörden wegen der Unterstützung des bewaffneten Kampfes verhaftet worden war, veröffentlichte er im Gefängnis die „Jineologie“ seine Skizze eines kurdischen Feminismus. „Neben der Frauenbewegung selbst kann man ihm zugutehalten, dass der Feminismus ein so wichtiges Thema für die kurdische Frage ist“, sagt Dirik. Kurdische Frauen greifen seit 1995 zu den Waffen. Die YPJ wird gelobt, weil sie die Idee angreife, „dass Frauen Männer brauchen, um sich zu verteidigen“, sagt ihre Sprecherin Nesrin Abdullah.
„Nach 2013-14 beobachteten wir viele Frauen an der Spitze“, sagt Hana und erklärt, dass Frauen nicht nur an der Front gegen den IS kämpfen sondern auch ein ideologisches Konzept für die Gemeinschaft darstellen sollten. „Die Kurden haben eine Gesellschaft geschaffen, die in vielerlei Hinsicht egalitärer ist, und ich bin mir nicht sicher, ob sie das unter den Russen aufrechterhalten werden können“, sagt Nir Boms, Stipendiat am Moshe-Dayan-Zentrum der Universität Tel Aviv. Er spielt auf die russischen Milizen an, die derzeit in der Region patroullieren. Hana sorgt sich auch um den Verlust der nichthierarchischen Sozialstruktur: „Werden wir hier die Inklusion und Partizipation haben, wie als die Amerikaner hier waren?“, fragt sie.
Ob unter der Kontrolle türkisch unterstützter Milizen oder des Regimes von Präsident Baschar al-Assad und der Russen – es ist klar, dass in Rojava niemand die Frauenrechte ganz oben auf der Tagesordnung stehen haben wird. Dann besteht die sehr reale Gefahr, dass der IS ein Comeback erlebt. Wenn der Einfall nicht aufhöre, werden „die männliche Mentalität und die männlichen Systeme gewinnen“, meint Abdullah.
Doch während die hart erkämpfte feministische Revolution in Rojava anscheinend dunklen Zeiten entgegenblickt, bleibt eine kurdische Aktivistin aus München, Gulistan, optimistisch: „Nur weil die gesamte autonome Region bedroht ist, ist das noch lange nicht das Ende.“ So wie die YPJ im Kampf gegen den IS und für die Gründung Rojavas an vorderster Front stand, so entschlossen sind die Kämpferinnen weiterhin, die Bewegung zum Schutz ihres Heimatlandes vor dem, was sie als „türkische Besatzungstruppen“ bezeichen, anzuführen. „Wir Frauen und Mütter stehen immer an der Spitze dieser Revolution“, sagt Afreen. Und Efrin fügt hinzu: „Wir sind bereit, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um unsere Heimat zu verteidigen.“
Viele Kurden haben das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten ihnen den Rücken gekehrt haben. Die Frauen in Rojava und andere hoffen nun, dass die Welt keinem Versuch, die männliche Dominanz im Nordosten Syriens wiederherzustellen, nur zuschauen wird. „Es geht um alle politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Frauen“, sagt Forscherin Dirik. „Frauen in anderen Teilen der Welt müssen sie verteidigen – das ist Frauengeschichte, die gerade ausgelöscht wird.“
Info
Dieser Text erschien in der Freitag 51/2019 in einer gekürzten Version. Die zusätzlichen Abschnitte wurden am 21. Januar 2020 ergänzt.
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