Der zärtliche Hammerschlag des Klangschmieds

Jazz Erinnerungen an den verstorbenen Pianisten McCoy Tyner, einem „Giganten seines Instruments“ (Joe Zawinul), und an ein epochales Album

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McCoy Tyner (2009)
McCoy Tyner (2009)

Foto: Valery Hache/AFP via Getty Images

Wer sich vor ein paar Wochen aus gegebenem Anlass auf der Plattform, die nach Ansicht mancher die ganze Welt bedeutet, den weit zurückliegenden Auftritt von McCoy Tyner und seinem Ensemble beim Molde Jazz Festival in Norwegen 1975 anhörte, stieß möglicherweise auf einen ungewöhnlichen, namentlich gezeichneten Kommentar. In diesem kondolierte der Verfasser dem soeben verstorbenen Pianisten, erinnerte aber gleichzeitig an dessen Bruder Jarvis Tyner. Der ist Mitglied der us-amerikanischen kommunistischen Partei (CPUSA). Dies dürfte dort so selten sein wie den meisten die Vorstellung, dass Duke "It don´t mean..." Ellington von durchquantisierter Musik angetan gewesen wäre.

Der Kommentator erinnert sich, dass er 1976 den viermaligen Präsidentschaftskandidaten Gus Hall und den damals als Vizepräsident nominierten Bruder McCoys im Wahlkampf unterstützt hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass Jarvis Tyner tatsächlich Vizepräsident geworden wäre, dürfte aber in etwa so hoch anzusiedeln gewesen sein wie die, dass der amtierende US-Präsident Mitglied seiner Partei würde. Immerhin zeigt der Bruder, der bis heute Mitglied der CPUSA geblieben ist, eine auch McCoy zuzuschreibende Eigenschaft: Beharrlichkeit. Aber das reicht natürlich nicht, um einer der ganz außergewöhnlichen Jazzpianisten zu werden.
Und hier kommen die Mütter ins Spiel.

Das Schlagzeug unter der Trockenhaube

Herbie Hancock erzählt in seiner Autobiografie, dass seine Mutter dem Vater unmissverständlich klarmachte: „Wir müssen dem Jungen ein Klavier kaufen“, als der junge Herbie neun Jahre alt war; das war in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre. Und so erhielt dies kostbare Instrument in der Wohnung auf der South Side von Chicago Einzug, und Herbie übte viel, auch viel Klassik, und seine Klavierlehrerin meldete ihn schließlich beim jährlich stattfindenden Wettbewerb des Chicago Symphony Orchestra an, das er gewann, mit dem Vortrag von Mozarts 18. Klavierkonzert in B-Dur (KV 456).

Etwa 660 Meilen entfernt Richtung Ostküste in Philadelphia ist es einige Zeit später die Mutter von McCoy Tyner, die dem Dreizehnjährigen ermöglicht, an einem eigenen Klavier zu sitzen und zu spielen. Es wird in ihrem Schönheitssalon
aufgestellt, dem größten Raum im schicken Reihenhaus in West-Philly.
Der Pianist erinnert sich später, dass die Ladies mit Lockenwicklern in den Haaren in ihren Sesseln gesessen hätten, während er im Salon spielte („sie haben sich nicht beschwert“). Auch Jamsessions fanden dort statt, und es wird von unter der Trockenhaube aufgebauten Schlagzeugsets berichtet. Es muss ein großer Spaß gewesen sein, der unter anderem auch Großpianist Bud Powell, der um die Ecke wohnte, in die Beautybude lockte.
Das Erscheinen von Bud Powell kann auch als Zeichen gesehen werden, wohin die Reise geht, nämlich in die oberste Etage des Jazz, und das mit enormer Geschwindigkeit.

McCoy Tyner im Gespräch mit Ben Sidran

Der Musiker, Labelowner, Produzent und Autor Ben Sidran traf McCoy Tyner Mitte der Achtzigerjahre zu einem Gespräch für seine Radiosendung „Sidran on Record“. Später sollte eine Auswahl dieser Gespräche mit so gut wie allen lebenden Jazzgrößen der Zeit in einem Buch erscheinen (Talking Jazz. An Illustrated Oral History).

Im einleitenden Text erinnert sich Ben an seine aufschlussreiche erste Begegnung mit Tyner im Jahre 1966. Damals war das bahnbrechende Album A Love Supreme des John Coltrane Quartet ja schon im Umlauf, und Ben kannte es genau. Im Sommer des vorausgegangenen Jahres hatte er sich eines Tages etwas Obst und Getränke und seine Lieblingsplatten zurechtgelegt und dann nacheinander Mescalin und LSD genommen. Nach einem durchaus intensiven Trip machte sich am nächsten Morgen eine große Ruhe breit, und Ben legte A Love Supreme auf, und er vermeinte Coltrane sprechen zu hören, oder vielmehr hörte er die Stimme seiner Mutter, die durch Coltranes Horn zu ihm sprach: „She was calling me from inside the music. How could this be?“.

Bei der angesprochenen ersten Begegnung mit Tyner ein Jahr später brachte Ben Sidran also seine Verehrung zum Ausdruck („Mr. Tyner, it´s an honor“), und der Pianist entgegnete :„Oh Mann, tu mir das nicht an...“. Kein Piedestal, nirgends. Es mag zwar da und dort von Jazzgrößen die Rede sein, aber Icons hängen nur an der Computerbildschirmoberfläche.

Im Gespräch mit Ben betont Tyner, wie wichtig Bud Powell, der Besucher des Frisiersalons, als Mentor für seine weitere Entwicklung gewesen und er Bud und auch dessen Bruder Richie überall hin gefolgt sei, um von ihnen zu lernen, bis Bud schließlich nach Paris ging.
Ben seinerseits spricht Tyner als erstes auf die ungewöhnlichen Intervalle an, die dieser spielt, und Tyner nennt Einflüsse von Debussy, Ravel und Strawinsky, die seine harmonischen Vorstellungen ganz früh in spezielle Bahnen lenkten. Und dann natürlich die Quarten, die früh Eingang in sein Spiel fanden und so weit ein Markenzeichen wurden, dass der Begriff Quartvorhalt sogar Eingang in den Vorspann des Nachrufs von Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung fand. Allerdings verwendete der Musiker diesen nicht wie traditionell der Sus4-Akkord gehandhabt wird, dessen Spannung im nachfolgenden Dreiklang wieder aufgelöst wird, sondern als durchgängige Färbung mittels Ersetzung der Terz.

„The sound is within you“

Der kraftvolle, dynamische, perkussive Stil, die „Kraftaufbrüche“ (Kreye), das berühmte Zitat von Kritiker und Coltrane-Biograph Bill Cole, dass McCoy Tyner spiele „wie ein brüllender Löwe“, „mit dem Hammerschlag eines Schmiedes“ (Down Beat), dieses immer wieder betonte Kennzeichen seines Spiels spielt in dem Interview keine Rolle, vielmehr aber ein fast gegenläufiges Element, die so wichtige Kunst des Weglassens. Tyners Ausführungen („the spaces between the intervals are just as important -or more important sometimes- than filling the chords up“) zeigen auch, dass er dem Cluster-Spiel, verstanden als dem freien Erzeugen von Tonblöcken, bei aller Wucht in der Regel subtile (jazz)harmonische Schichtungen vorzog.

Aber Tyner war ja nicht nur Interpret, sondern auch Komponist, zumal auf seinen „eigenen“ Platten, und als Autor arbeitet er nach eigenem Bekenntnis mit recht schlichten Melodien, während er der harmonischen Bewegung sein Hauptaugenmerk widmet.
Ein schönes Beispiel findet sich in Frank Sikoras Jazzharmonielehre dort, wo die Kirchentonarten erläutert werden und als Beispiel für die „extreme Verwendung von bVIImaj7“ Tyners „Three Flowers“ vom Album Today & Tomorrow (1964) mit seinem DbΔ9 (Tonart Eb-Dur) dient.

Zum Schluss landet das Gespräch zwischen Ben Sidran und McCoy Tyner dann doch bei seiner Zeit mit dem John Coltrane Quartet, und Tyner stellt fest, dass man erst im Rückblick feststelle: Wow, dass war wirklich unglaublich. Darauf Ben: Und du stellst fest, dass der Rest der Welt sich nicht ganz mit derselben Geschwindigkeit dreht...

Womit wir beim Album A Love Supreme gelandet wären.

„Wow, this was really amazing“ - A Love Supreme

Am 9. Dezember 1964 trafen sich im Studio des Tontechnikers Rudy van Gelder in Englewood Cliffs (New Jersey) neben Saxophonist John Coltrane und Pianist McCoy Tyner der Bassist Jimmy Garrison und Schlagzeuger Elvin Jones, um dort eine von Coltrane skizzierte Suite aufzunehmen.
Es sollte das erste Album werden, auf dem Trane nur auf dem Tenorsaxophon zu vernehmen war. Und Elvin Jones war neben seiner Batterie mit Gong und Pauke bewaffnet. Die Suite enthielt vier Teile, 1. Acknowledgement, 2. Resolution, 3. Pursuance und 4. Psalm. Der von Coltrane verfasste Begleittext zum Album (Brief & Gedicht/Gebet) wird weithin als integraler 5. Teil des Gesamtunternehmens gesehen. Und Tyner spielt im 3. Teil (Pursuance) ein phänomenales Solo, das zunächst der Phrase des Pursuance-Themas antwortet, um dann davonzustürmen mit einem Part, der „die Form des ganzen Stücks umreisst und erweitert“ (Ashley Kahn).
In knapp vier Stunden war, Proben inbegriffen und noch vor Mitternacht, die Aufnahme in van Gelders Studio im Kasten.

Unbedingt hervorzuheben ist dabei die Arbeit des wirklich legendären Tontechnikers.
Dieser arbeitet tagsüber als Augenoptiker und nimmt nebenbei im Wohnzimmer der Eltern in Hackensack Musik auf („Den einen Tag machte ich Augenuntersuchungen, und am nächsten nahm ich dann Miles Davis auf!“).

Ende der Fünfzigerjahre zieht er schließlich innerhalb New Jerseys nach Englewood Cliffs um, wo er in einem hohen Holzraum, das an einen Schiffsrumpf erinnert, sein Tonstudio aufbaut.

A Love Supreme nimmt er in Stereo auf; mit einer Laufgeschwindigkeit von 15 ips (Zoll pro Sekunde) zeichnet ein Tonbandgerät das Masterband auf. Es sind Zwei-Spur-Aufzeichnungen; es gibt die Möglichkeit, Takes nachträglich zusammenzuschneiden, nicht aber, eine nachträgliche Abmischung vorzunehmen.
Um die Instrumente aufnahmetechnisch zu isolieren und Übersprechen zu vermeiden, entscheidet sich van Gelder dazu, Saxophon und Schlagzeug möglichst scharf zu trennen. Im Ergebnis erscheint im Stereobild das Saxophon ganz nach links gepant, nur ein nachträglich aufgenommener Saxophon-Overdub-Part für das Ende der Suite ist ganz nach rechts geschoben auf der Stereo-Bühne, und das Schlagzeug erklingt hart rechts. Tyners Piano und Garrisons Bass liegen dazwischen, mittig und halbrechts, am besten mit Nahfeldmonitoren zu hören und zu lokalisieren. Und selten kann Tyners Kunst so plastisch angehört werden wie auf diesem Mitschnitt.
Wenn man sich vorstellt, wie heute 50 Spuren mittels Pan-Regler und Computermaus auf der Stereobühne hin- und hergeschoben werden...

McCoy Tyner hat das letzte Wort zum Tonstudio-Komplex: „Wenn du bei Rudy warst, wusstest du, dass du zuhause bist.“

Feuer und Erregung im Gotteshaus

Wie konnte diese phantastische Musik am 9. Dezember entstehen, die für so viele auch eine spirituelle Dimension in sich birgt? Elvin Jones meinte dazu, dass alle Mitglieder des Quartetts aus frommen Arbeiterfamilien der Black Community stammten, und er erinnerte an die Sonntagsschule und die Kirchengemeinschaft und den Gospelchor und die -lieder. Das alles fand er in A Love Supreme wieder. Oder wie James Baldwin es ausdrückte: „Ich habe nie etwas gesehen, das dem Feuer und der Erregung gleichkäme, die manchmal, ohne Vorwarnung, eine Kirche erfüllen und sie, wie Leadbelly und viele andere bezeugt haben, dazu bringen kann, zu ´rocken´.“

Eingangs war vom Bruder Jarvis die Rede gewesen und von McCoy Tyners Auftritt beim Molde Jazz Festival in Norwegen, und dort wurde er auch gefragt, was er zur seinerzeitigen politischen Stimmung sagen könne, und Tyner meinte, dass Politik ein launisches und instabiles Ding sei, er halte es vorrangig mit der Musik („but I think that music is a higher concept“).
Im Alter von 17 Jahren immerhin war er zum Islam übergetreten (mit dem Namen Sulaimon Saud), in der Black Community durchaus auch ein politischer Akt, wie schon das prominenteste Beispiel Muhammed Ali zeigt.
Insgesamt kann wohl, ohne jede religiös eingefärbte Einschränkung, der Schluss gezogen werden: Alles in Buddha.

McCoy Tyner verstarb im für Jazzmusiker seiner Generation gesegneten Alter von 81 Jahren am 6. März in New Jersey.

Ben Sidran, Talking Jazz. An Illustrated Oral History, San Francisco 1992

Ders., Black Talk. How the Music of Black America Created a Radical Alternative to the Values of Western Literary Tradition, Edinburgh 1995 (Foreword by Archie Shepp)

Ashley Kahn, A Love Supreme, Berlin 2004 (mit einem Vorwort von Elvin Jones)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rüdiger Grothues

Musiker, Jurist, Autor

Rüdiger Grothues

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