Die Unvergleichlichen

Jazz Zum Tode von Ornette Coleman und James Last eine vergleichende Annäherung an scheinbar unvergleichbare Musiker

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Von dunklem Sinn ist häufiger einmal die Rede, wenn Ausführungen von Ornette Coleman zu musiktheoretischen und philosophischen Themen angesprochen sind, dann aber auch wieder von deren erfrischender Klarheit (so die NYT in einem Nachruf).
So muss es auch seinem vorsokratischen Kollegen Heraklit gegangen sein, dem die Nachwelt denn auch den Künstlernamen Der Dunkle verlieh, obwohl der Prinz von Ephesos solch klare Gesetze entdeckte wie das von der Einheit der Gegensätze
.
An diesem Pol mag auch das allzu glatt Polierte und das Avantgardistische eine seltsame Wechselwirkung entfalten, und selbst der große Innovator nicht durchgängig die Heldenrolle spielen - und könnte also ein Weg sein, sich den beiden Musikern zu nähern.

Beide trennen, was den Tag der Geburt angeht, weniger als ein Jahr, wohl aber Welten, was den Ort betrifft.
Der in Norddeutschland geborene Hans James Last lernte musikalische Grundlagen ab 1943 mangels übrig gebliebener ziviler Ausbildungsstätten tatsächlich in einer fatalen Organisation, dort allerdings in der seit jeher eher mit Musikinstrumenten bewaffneten Abteilung, der Heeresmusikschule. Zusätzlich hatte er das Glück, von dort aus 1945 nicht mehr eingezogen zu werden, weil er ein paar Tage nach dem Stichtag geboren worden war.

Ornette Coleman dagegen, in Texas geboren, machte sich alsbald auf den Weg Richtung Westküste, nach Los Angeles, später dann an die Ostküste nach New York, und auf diesem Weg hinterließ er eine Spur, die gewiss eine Signatur hatte: Eigenheit.
So wurde immer wieder spekuliert, wie weit seine Kenntnisse der Harmonielehre eigentlich reichen, und kolportiert, dass er sich lange nicht bewusst war, dass sein Saxophon als transponierendes Instrument anders notiert wird als etwa das klingende Piano, dass er oft von Mitmusikern nicht akzeptiert wurde und sogar dafür bezahlt wurde, nicht mitzuspielen. Andererseits soll er, als Liftboy in LA, den kaum benutzten Fahrstuhl oft im 10. Stock angehalten und darin musiktheoretische Bücher studiert haben.
Aber natürlich war er nicht aufzuhalten. Ende der Fünfzigerjahre erschienen erste Alben von ihm mit programmatischen Titeln und Ausrufezeichen, die an politische Flugblätter erinnern, zunächst noch mit Piano, aber früh verzichtete er dann auf harmoniengeleitete Architekturen zugunsten eines sich von Songstrukturen, wie noch im Bebop, wegbewegenden Konzeptes, was natürlich die Spekulationen nicht verstummen ließ: Hat er´s drauf? Könnte er mit dem arbeiten, was er verwirft?

James Last wiederum muss sich in einer aus bekannten Gründen im Nachkriegsdeutschland verkarsteten Kulturlandschaft orientieren und erntet als Jazzmusiker schnell Anerkennung, spielt als Bassist beim ersten Jazzfestival 1953 in einer amtlichen Allstar-Band und wird als Jazzbassist wiederholt ausgezeichnet. Dazu kann er in der Schlagerszene, wie wohl viele Jazzmusiker in der Zeit und auch später, Geld und Erfahrungen als Arrangeur sammeln.

Währenddessen spielt Coleman, Anfang der Sechzigerjahre, ein Album mit dem programmatischen Titel "Free Jazz" ein. Er hat nun Musiker um sich versammelt wie Don Cherry, Charlie Haden und Billy Higgins, und klar ist, wo Schlagzeuger Higgins seinen Teppich legt, Bassist Haden seinen Anker auswirft und Trompeter Cherry sein Pingpongspiel anbietet, wird es schwierig, schlechte Musik zu machen. Trotzdem wird das Album nicht nur willkommen geheißen. Es arbeitet mit zwei Quartets, und die Phonotechnik kommt auch ins Spiel: Das Doppelquartett wird stereophonisch getrennt auf den linken und den rechten Kanal gelegt.
Aber die Aufbruchstimmung ist allgemein spürbar und wird auch durch das Albumcover signalisiert, einer Reproduktion von Jackson Pollocks "The White Light
".
Don Cherry hat später erzählt, dass anlässlich ihrer legendären Auftritte als Quartet im Five Spot Café in Manhattan nicht nur dieser Maler, sondern auch seine Kollegen de Kooning und Larry Rivers und andere Künstler wie LeRoi Jones und Allen Ginsberg saßen; daneben fanden sich Musikerkollegen ein wie Thelonious Monk, Miles Davis, Charles Mingus, Max Roach und Lionel Hampton, und manche stiegen in die Sessions ein. Cherry resümierte: "Something was really happening". Dem kann nur schwerlich widersprochen werden.

James Last spielte im gleichen Jahrzehnt mit einer Band unter anderem Beatles-Songs, und er stellte fest, dass der gesetztere Teil des Publikums die Songs mochte, wenn die Combo sie rein instrumental spielte. Die Beobachtung dieses Phänomens setzte ein Konzept in Gang, das der deutschen Schallplattenindustrie einen enormen Schub geben sollte.
Ausgangspunkt war auf jeden Fall ein Song mit Melodie und der entsprechenden harmonischen Begleitung, wie es die Popmusik, die Operette, eben das verfügbare und tendenziell bekannte Material hergab. Hier kommt also ein in gewisser Weise zum Vorgehen von Coleman gegensätzliches Verfahren zum Einsatz: Während Coleman das Songmaterial abgestreift hat und das damit einhergehende Harmoniekorsett, sammelt Last es, um mit dem gängigen Katalog seinen "Happy Sound" zu basteln - nebenbei gesagt natürlich nichts Neues, gang und gäbe zum Beispiel noch im Bebop, von dem sich Coleman ja auch dadurch absetzen konnte.
Aber damit nicht genug: Nun schickt er mittels Arrangement die Lieder erst durch die Waschanlage (Vollwaschgang), dann wird ordentlich alles abgeschmirgelt, dann poliert, und zum Schluss werden vorsorglich all diese Vorgänge wiederholt, damit der Happy Sound niemanden durch einen aus Versehen noch verbliebenen winzigen Grat verletzt.
Und Eltern, die massenhaft die Aufnahmen auf den Erwachsenenfesten ihrem Gebrauchszweck zuführen und dabei eingeebnete Songs vermeintlich wüster Bands hören, können ihre Kinder schocken: "Du, dieses eine Lied deiner Lieblingsgruppe ist eigentlich gar nicht so übel, echt nett..." Zusätzlich werden die Cover der Schallpatten, parallel zum Vorgehen im Buchbereich in Sachen Simmel-Bestsellern, durch einheitliche graphische Gestaltung mit einer Art Werkstück-CI versehen, was der Verkaufsförderung dieser Vervielfältigungsstücke (vgl. § 17 Urheberrechtsgesetz) offensichtlich dienlich ist.

Das sieht nach astronomisch weit auseinanderliegenden Polen aus, was den amerikanischen und den deutschen Musiker angeht.
Aber so schwarzweiß bleibt das Bild nicht bei näherem Hinsehen.
Schon Colemans melodische und lineare Modifikationen schufen zwar neue Räume und Spannungsbögen, aber die Abkehr von herkömmlichen Taktstrukturen und Bebop-Songstandards bedeutete nicht unbedingt eine dramatische Wende, denn die Harmoniebegleitung im Bebop mit ihren großzügigen Akkorderweiterungen, die schon teils in Richtung Cluster gingen, gab den Solisten viel Spielraum. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was der Trompeter Red Rodney im Gespräch mit Ben Sidran (Talking Jazz, San Francisco 1992) über seinen Mitspieler Charlie Parker sagte: "I always had my suspicions that Bird had very little knowledge of chord changes ... But what´s the difference? He never played wrong. He always played beautifully." Es kommt eben nur auf eines an - was wäre ein Text über Jazz ohne ein Bibel- oder gleich ein Miles Davis-Zitat: "I buy Ferraris, yeah, but music is alway there. Right here."

Es lohnt sich auch, einen Blick auf das Last zuzuordnende Phänomen des Easy Listening zu werfen, das ja, je nach ökonomischer und sonstiger Stimmungslage, immer mal Konjunktur hat. Und es ist bemerkenswert, dass Tobi Müller in seinem einfühlsamen Coleman-Nachruf (auf SPON) dieses Phänomen anspricht im Zusammenhang mit John Lewis vom Modern Jazz Quartet, der Coleman Erteguns Label Atlantic Records anempfohlen hatte: "Easy Listening kann trügerisch sein, musikalische Eleganz verrät auch Gespür, Stil, Hipness, diese schwer zu definierenden Haltungen der Popkultur." So ist es. Auf der anderen Seite muss hier zulasten der kulturellen Speerspitze eine Erscheinung erwähnt werden, die als Flucht in die Avantgarde bezeichnet werden könnte, denn Künstler beichten schon mal in schwacher Stunde, dass sie eigentlich etwas Grundierteres machen wollten, mangels dazu erforderlicher Technik jedoch in Formexperimente ausweichen mussten (das gilt natürlich nicht für hier erwähnte Personen).

Schließlich muss man sich vor Augen halten, dass James Last, ein äußerst versierter Arrangeur, eine internationale Schar genauso versierter Musiker aus den verschiedensten Ländern um sich gescharrt hatte. Nimmt man hinzu, dass sein Ensemble allein in London, einer der Welthauptstädte der Musik, und dort die Royal Albert Hall neunzig Mal füllte, so dürfte er mit seinem Orchester einiges von dieser musikalischen Eleganz und Leichtigkeit verbreitet haben.

Und letztlich bildet das Formvollendete, routiniert Versierte, soweit es konventionell daherkommt, jeweils den archimedischen Punkt, von dem aus die Innovatoren ihren Hebel ansetzen.

Die beiden Musiker sind in diesem Monat binnen zweier Tage gestorben, beide in den USA, und nicht nur für den fulminanten Erneuerer Ornette Coleman, sondern auch für den Happy Sound-Architekten James Last findet sich ein musikalischer Platz innerhalb des kosmischen Feuers des Heraklit, das immer in Bewegung bleibt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rüdiger Grothues

Musiker, Jurist, Autor

Rüdiger Grothues

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