Ein Bündel Akten mit rotem Band

Auschwitz-Prozess Zwei Zufälle trugen entscheidend dazu bei, das Mammutverfahren in Gang zu bringen

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Vor zweieinhalb Monaten beging die Bundesrepublik ein besonderes fünfzigjähriges Jubiläum: Am 20. Dezember 1963 war der Auschwitz-Prozess eröffnet worden - ein guter Anlass, an zwei sehr entscheidende Begebenheiten zu erinnern, die das Gerichtsverfahren in Frankfurt auf den Weg brachten.
Für diese beiden so wichtigen Zufälle lässt sich mit Kluggeist Schopenhauer sagen, vielleicht wusste er, was auf dem Spiel stand: Auch das Zufälligste ist nur ein auf entfernterem Wege herangekommenes Notwendiges.

Am 1. März 1958 schreibt A.R., der zu der Zeit in Bruchsal eine Haftstrafe verbüßt, einen Brief an die Staatsanwaltschaft in Stuttgart. Das Nähere schildert der Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees in Wien, Hermann Langbein, in seiner Dokumentation von 1965 über den Auschwitz-Prozess. A.R. war unter der Lagernummer 14.465 im KZ Auschwitz I interniert, Langbein selbst auch KZ-Insasse gewesen.
In dem dokumentierten Brief zeigt A.R. an, dass der ehemalige SS-Oberscharführer Wilhelm Boger, der sich schwerster Verbrechen im KZ Auschwitz schuldig gemacht habe, jetzt in einem kleinen Dorf wohne und bei der Firma Heinkel in Zuffenhausen arbeite. Die Darstellung im Brief beflügelt die Vorstellung, wie ein in der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers tätiger Mensch im Nachkriegsdeutschland an der Produktion von putzigen Kabinenrollern beteiligt war.
Erwartungsgemäß, wir befinden uns noch in den Fünfzigerjahren, kommen die Ermittlungen kaum in Gang. Der Anzeigende war aber so umsichtig gewesen, seine Anzeige auch nach Wien an das Internationale Auschwitz-Komitee zu senden. Dessen Generalsekretär erkannte, dass schleppende Korrespondenz und darauf folgend fehlende konkrete Schritte das Kennzeichen der mit der Sache befassten deutschen Justiz zu der Zeit war. Nach kürzeren Stellungnahmen fasste Langbein unter dem Datum des 21. September 1958 also gegenüber dem vorgesetzten Oberstaatsanwalt der ermittelnden Stuttgarter Behörde zusammen, was "geschah und nicht geschah". Am dringlichsten ging es darum, endlich Haftbefehl gegen Boger zu erlassen, der nach dem Krieg bereits seine Geschicklichkeit unter Beweis gestellt hatte, sich seiner Verantwortung zu entziehen.

Dieses Schreiben änderte alles. Es wurde nun nicht mehr nur korrespondiert, sondern gehandelt.
Am 8. Oktober wanderte der Beschuldigte Boger in Untersuchungshaft. Allerdings brauchte es auch hier wieder sechs Tage ab Erlass des Haftbefehls bis zur Verhaftung. Am ersten Verhandlungstag des Prozesses hat Boger dazu angemerkt, er sei ein paar Tage vor der Verhaftung von der Kripo angerufen worden mit der Frage, ob er der Boger von der Politischen Abteilung in Auschwitz sei, und er gab, bemerkenswert auch in anderer Richtung, zu Protokoll: "Ich hätte leicht fliehen können, wenn ich mich schuldig gefühlt hätte." Im Prozess wird sich Boger als sogenannter Exzesstäter erweisen, den die Häftlinge "Teufel von Auschwitz" nannten.
In einem weiteren Schreiben an den Oberstaatsanwalt führte Langbein mittels der Komitee-Unterlagen eine Liste von 18 weiteren Angehörigen der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers auf.
Eine anwachsende Informationslage und gleichfalls wachsendes Unbehagen an den bislang waltenden Unterlassungssünden veranlasste nunmehr die Landesjustizminister, eine zentrale Stelle zur Verfolgung der Naziverbrechen einzurichten. Der Leiter der Zentralstelle, Oberstaatsanwalt Schüle, bündelte die Erkenntnisse um Boger und weitere Beschuldigte, und 1959 kann bereits von einem von der Zentralstelle betriebenen Auschwitz-Verfahren die Rede sein.

Dass die Sache schließlich dem Landgericht in Frankfurt übertragen wird, ist dann einem weiteren Zufall zu verdanken.
An diesem Zufall hat der seit Februar 1957 in Diensten der Frankfurter Rundschau stehende junge Journalist Thomas Gnielka aber schon hart gearbeitet, bevor er in einem für den Auschwitz-Prozess bedeutsamen Treffen in Frankfurt auf brisante Unterlagen trifft.
Unter anderem schreibt der unermüdliche Kämpfer wider die gar nicht so lange zurückliegenden Untaten über die Verhältnisse im Wiesbadener Versorgungsamt. In der Wiedergutmachungsbehörde werden Entschädigungsanträge von Holocaustüberlebenden nur zögerlich bearbeitet, annähernd 50.000 Fälle sind auf Halde geschoben. Im Kontrast dazu werden Antragsteller rüde behandelt und in den Amtsräumen auch schon mal antisemitische Lieder angestimmt, wie Gnielka herausfindet.
Auf diese Berichterstattung hin meldet sich der Auschwitz-Überlebende Emil Wulkan bei dem jungen Journalisten. Im Mai 1945, während der Belagerung Breslaus, hatte ihm ein Freund Unterlagen mitgebracht, die er in der Lessing-Loge in der Agnesstraße an sich genommen hatte. Weiteres Material vernichtete wenig später ein Brand.
Wulkan möchte Gnielka um Hilfe bei seinem Wiedergutmachungsantrag bitten und regt deshalb ein Treffen bei sich an. Auf dem Büfett liegt ein Bündel Akten, mit einem roten Band zusammengehalten. Man mag sich auf der Oberfläche des Möbelstücks zu dieser Zeit, am 14. Januar 1959, ein Riesenglas mit Pfirsichbowle vorstellen oder einen Käseigel, aber stattdessen enthalten die Unterlagen acht Blätter mit dank der nationalsozialistisch-behördlich korrekten Pflichtauffassung konkreten Angaben: Es handelt sich um eine durchnummerierte Liste von Auschwitz-Häftlingen, die, hier sind Anführungsstriche äußerst wichtig, "auf der Flucht erschossen" worden waren, sowie den Namen der als Schützen erfolgreichen SS-Angehörigen, ausgefertigt von der "Kommandatur Konzentrationslager Auschwitz", unterschrieben vom Lagerkommandanten Rudolf Höß.

Ingeborg Euler, die Ehefrau des Journalisten, mit dem sie fünf Kinder hatte, erzählte der Journalistin Claudia Michels, die das Andenken an ihren FR-Kollegen verdienstvollerweise wachgehalten hat, dass ihr Mann mit den Erschießungslisten "ziemlich grün im Gesicht nach Hause gekommen" sei.
Ihren Angaben zufolge hat nach einem entsprechenden Anruf Generalstaatsanwalt Fritz Bauer einen Fahrer geschickt, nach anderen Schilderungen schickte der Journalist die brisanten Unterlagen am folgenden 15. Januar an die Staatsanwaltschaft.
Wie auch immer: Auf der Grundlage dieser Informationen wurde dann vom Bundesgerichtshof der gesamte "Auschwitz-Komplex" der Frankfurter Justiz überstellt.
Am 19. Juni sandte die Zentralstelle ihre Akten von Ludwigsburg in die Main-Metropole.

Der Leidensweg von Thomas Gnielka und seiner Familie hatte damit jedoch so richtig begonnen.
Gnielkas Frau, Ingeborg Euler, später erfolgreiche Fernsehjournalistin, die der Journalist 1948 als aufstrebende Kabarettistin und Autorin kennengelernt hatte, deren Texte er vertonte und mit der er als Klavierbegleiter im "Simpl" auftrat, gab an, dass es "immer mehr und zuviel" wurde. Dies unterstrich Sohn Bastian, der daran erinnerte, dass die Familie Gnielka, die in der Dillenberger Mühle in der Gemeinde Herold wohnte, schon vor dem Prozess Zeugen beherbergte, die dort wohnten, aßen und erzählten und deren Schilderungen von in Auschwitz begangenen Gräueln allen zusetzte.
Im Jahr des Prozessbeginns erkrankte Thomas Gnielka an Hautkrebs. Claudia Michels vermutet, dass die Naziverbrechen, die er in couragierter Arbeit mit aufzudecken half und zu deren strafrechtlicher Aufarbeitung er beitrug, ihm "scheinbar im Wortsinne unter die Haut gegangen" seien.

Der am 20. Dezember 1963 eröffnete Auschwitz-Prozess wurde von der deutschen Bevölkerung keinesfalls dankbar begrüßt, wie der FR-Kollege von Gnielka, Arno Widmann, zum 50. Jahrestag in der gemeinsamen Zeitung schrieb: Gemäß einer Umfrage des Divo-Instituts vom Juni 1964 verfolgten vierzig Prozent das Verfahren nicht, ganz im Gegensatz zum im viele Kilometer entfernten Jerusalem zwei Jahre zuvor stattfindenden Prozess gegen Adolf Eichmann mit damals sensationeller TV-"Quote". Aber das Verfahren in Frankfurt zeigte natürlich Wirkung, vor allem "wurden dennoch viele Vertreter der jungen Generation gerade durch diese Prozesse zum ersten Mal mit der vollen Wahrheit über diese Epoche, mit dem wahren Gesicht des Nationalsozialismus konfrontiert", schreibt Hermann Langbein in seiner Dokumentation drei Jahre vor 1968.
Welche Charakteristika prägen die geschilderten Begebenheiten? Es sind dies auf der einen Seite sehr zögerlich agierende deutsche Behörden und auf der anderen Seite drei ehemalige KZ-Häftlinge und ein junger Journalist, welche die Dinge in Gang setzen.

Thomas Gnielka kann das Ende des ersten Auschwitzprozesses nicht mehr miterleben: Im Jahr der Prozesseröffnung, 1963, ist seine Krankheit ausgebrochen, im Jahr der Urteilsverkündung, 1965, in dessen erstem Monat, erliegt der Journalist seinem Leiden. Heinrich Böll hält die Trauerrede.

Claudia Michels, Auf dem Büfett lagen die Erschießungslisten, FR v. 26. März 2004, hier online
(nochmals 2013 im FR-Print)

Arno Widmann, Weder Dämonen noch Abschaum, FR v. 20. Dezember 2013

Claudia Michels, "Schlagt ihn doch tot", FR vom gleichen Tag

"Vieles macht mir bis heute zu schaffen", Interview von Milan Jaeger mit Rechtsanwalt Christian Raabe, seinerzeit Vertreter der Nebenklage im Prozess, FR vom gleichen Tag

Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozeß Eine Dokumentation, Wien 1965 (Band 1)

Aus dieser Zeitung:
Georg Fülberth, 1963 Partisanen des Rechts, der Freitag v. 19. Dezember 2013 (Nr. 51), auch online

Grundlegend zum System der Lager:
Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993

Weiterhin:
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Geschrieben von

Rüdiger Grothues

Musiker, Jurist, Autor

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