Und Gijón spielt keine Rolle mehr

Der Sportteil Wenn die heimatliche Boulevardpresse gegen ein bewährtes Muster arbeitet, um einem anderen Muster Rechnung zu tragen

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Vor dem letzten Gruppenspiel der deutschen Mannschaft wurde diese elende Partie zwischen Deutschland und Österreich bei der WM 1982 in Spanien in Erinnerung gerufen (etwa hier), weil wegen einer durchaus vergleichbaren, heiklen Ausgangsposition Parallelen gezogen werden konnten.
Nun rückt die Erinnerung an das Skandalspiel, der "Schande von Gijón" noch ein wenig näher, denn die Ergebnisse der Gruppenspiele in Verbindung mit dem Turnierplan bescheren der DFB-Elf die Mannschaft Algeriens als Gegner im Achtelfinale, und umgekehrt.

Diese WM-Paarung nun bietet, wenn man die direkten Begegnungen betrachtet, schon eine erstaunliche historische Statistik, denn Algerien hat gegen den vermeintlichen alemannischen Goliath eine makellose Bilanz vorzuweisen: Zwei Spiele, zwei Siege.
Der erste Sieg fällt wohl etwas aus dem Rahmen, was professionelle Rahmenbedingungen angeht, ihn errangen die Algerier exakt zum Jahresbeginn 1964, am 1. Januar vor knapp fünfzig Jahren auf einem Aschenplatz vor 17.000 Zuschauern. Nach dreißig Minuten war die fußballerische Messe gelesen, die Nordafrikaner führten da 2:0, dies war auch das Endergebnis, und Sepp Herberger, der Trainer des Wunders von Bern, lobte den Gegner ob seines sowohl kämpferischen wie auch spielerischen Potenzials.

Der zweite Sieg der Algerier, knapp zwei Jahrzehnte später in der Vorrunde der WM 1982, ging dem erbärmlichen Spiel in Gijón voraus, stand ihm aber an Peinlichkeit nichts nach, was das Verhalten der deutschen Equipe anging.
Sollte sie verlieren, führe er mit dem Zug nachhause, erklärte der damalige Trainer Jupp Derwall, und Torhüter Toni Schumacher prognostizierte, sie schössen zwischen vier und acht Toren - um in Schwung zu kommen, müssten die nun mal weggeputzt werden. Da er seinem algerischen Torwartkollegen auch noch einen Satz Handschuhe und eine Torwartkappe zukommen ließ, muss insgesamt betrachtet von einem gewissen Hochmut ausgegangen werden, der aber bestraft wurde: Die Algerier gewannen bekanntlich mit 2:1, in ihrem allerersten WM-Spiel. Und 2:0 lautet die Gesamtbilanz bis heute.
Eine weltbekannte deutsche Fußballzeitung ließ es sich seinerzeit nicht nehmen, für Trainer Derwall eine günstige Zugverbindung Richtung Frankfurt a. M., dem DFB-Sitz, zu ermitteln, mit schmerzhaften vier Umstiegen.

Nun stellt natürlich die Sportberichterstattung immer historische Bezüge her, vernünftigerweise auch politische, sie sind der Cayennepfeffer in der Kohlsuppe, denn die Schilderung rein sportlicher Abläufe dient höchstens einer Vergewisserung, die Zitate der Beteiligten genießen demgegenüber immerhin schon höheren Stellenwert.

So war zentraler Anknüpfungspunkt, die ewig wiederholte Historie anlässlich der aktuellen zweiten WM in Brasilien natürlich das Drama der ersten Heim-WM 1950, als die Seleção im entscheidenden Finalrundenspiel gegen Uruguay, die sich für 2014 ja auch qualifiziert haben, mit 1:2 verlor. Ein Unentschieden hätte Brasilien damals gereicht, das kommt einem bekannt vor. Das Drama fand vor etwa 200.000 Zuschauern im legendären alten Maracanã-Stadion statt, drei von ihnen starben an einem Herzinfarkt, ein vierter Todesfall wurde durch einen suizidalen Verzweiflungssturz von der Tribüne verursacht. „Der Schock von Maracanã“ ist unter dem Begriff "Maracanaço" Teil der Landesgeschichte geworden.
Spielergebnisse und Turnierplan wollten auch, dass das erste Achtelfinalspiel der WM 2014 zwischen dem Gastgeber und Chile ausgetragen wurde, und angesichts dieser Begegnung wurde eine weitere alte, nie vergessene Geschichte um ein sehr wichtiges WM-Qualifikationsspiel wieder wach, Schauplatz: wieder das Maracanã. Dort lag 1989 der chilenische Torhüter blutend am Boden, vermeintlich von einer Leuchtrakete getroffen. Die Chilenen wollten, sie lagen mit einem Tor zurück, einen Spielabbruch und eine für sie günstige Entscheidung am grünen Tisch. Die gab es auch, aber zugunsten der Heimmannschaft. Es hatte sich herausgestellt, dass der Keeper gar nicht von einem Feuerwerkskörper getroffen worden war, sich vielmehr die blutende Wunde mittels einer im Handschuh eingeschmuggelten Rasierklinge selber zugefügt hatte. Chile wurde zusätzlich zu der damals aktuellen für die kommende Weltmeisterschaft 1994 von der Qualifikation ausgeschlossen.


Und die bezugreiche Aufbereitung hat selbstverständlich an Umfang zugenommen: Mag man früher ins Archiv gestiegen sein, um die "Narrative" herzustellen -die uns natürlich, da immer wieder erzählt, irgendwann recht vertraut erscheinen-, so kommt nun im Zuge der Digitalisierung ein unaufhörlich wachsender Datenbestand hinzu, der unter anderem aus der Vermessung der Sportler resultiert (der Express, auf die Vorrunde bezogen: "38019 Meter lief der US-Boy Michael Bradley in den drei Vorrundenspielen der Klinsmann-Truppe und war damit fleißiger als alle anderen WM-Akteure"; "8195 Meter lief Lionel Messi durchschnittlich bei seinen zwei Einsätzen über 90 Minuten - also gut 4,5 Kilometer weniger als Bradley (12673)"). Auch der Datensalat will in die Berichterstattung eingearbeitet sein, er steht ja schließlich zur Verfügung.

Soweit die Sportberichterstattung im Allgemeinen.
Im Bereich der Boulevardpresse, in dem das Feld der professionell betriebenen Leibesertüchtigung einen wesentlichen Kern darstellt, spitzt sich die Sache natürlich zu - und damit wären wir wieder beim Achtelfinalspiel gegen Algerien.
Bedient wird die sensationsorientierte Blattaufmachung bekanntlich durch Skandalisierung und Emotionalisierung, und letztere wiederum durch Idolisierung, nicht zuletzt von Sportlern, gerne durch einprägsame Titulierungen. Gegenwärtig gibt es im Angebot, neben dem bewährten Prinz Poldi, den "echten" Stürmer Klose Tortale, auch Salto-Joker genannt, Schweini als Reinsteiger, die "wilde Dreizehn" (Mehmet Scholl) Thomas Müller als Fuß Gottes (weil er die "Hand Gottes" Diego Maradona um ein geschossenes WM-Tor überflügelt hat), aber auch als Blut-Müller, Super-Mario (Kopf-Knie-Torschütze Götze), natürlich international Der Beißer -Luis Suárez- (obwohl es nur einen geben kann, den in James Bond-Filmen) - es ließe sich fortsetzen.

Da das Spektakuläre sowie der Skandal die quasi natürlichen Aufhängungspunkte der Boulevardberichterstattung sind, stellt die "Schande von Gijón" eigentlich einen natürlichen Ansatz dar. So war es auch immer - und Wiederholungen nerven nicht, sie verstärken ja nur das "Narrativ". Wie sich diese Geschichte verankert hat, zeigt sich bei Eingabe des Namens der asturischen Stadt in eine weltweit reichlich benutzte Suchmaschine: An zweiter Stelle wird automatisch die Jahreszahl 1982 ergänzt, vor Flughafen und Wetter - Klagen zwecklos.

Es gibt da nur einen Haken, und der war jetzt schön zu beobachten im Sportteil einer großen rheinischen Nicht-Springer-Boulevard-Zeitung. Denn zu bedenken ist, dass die "Schande" ja negativ besetzt ist und jetzt in erster Linie "unsere Jungs" gepusht werden müssen.
Also wird dort Joachim Löw mit seiner Dijón-Deeskalations-Kampagne ins Spiel gebracht und nur seine Aussagen vor dem brisanten Spiel transportiert: "Die meisten meiner Spieler waren damals noch gar nicht auf der Welt. Nein das ist kein Thema". Es spielt jetzt einfach keine Rolle mehr, basta.
Und sein Chef, DFB-Präsident Wolfgang Niersbach, sekundiert: "Begriffe wie Rache oder Revanche sind so viele Jahre danach nicht angebracht." So zitiert der Express die beiden DFB-Leute und bekräftigt: "Thema abgehakt."
Auf diese Weise kann Boulevard selbstverständlich immer auch Anti-Skandalisierung, also Deeskalation bewerkstelligen - aber nur im wohlverstandenen Interesse.

Ob das hilft? Sollte es helfen?
Der Fußballfreund sagt zu beiden Mannschaften: "Nun siegt mal schön!" (Theodor Heuss).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rüdiger Grothues

Musiker, Jurist, Autor

Rüdiger Grothues

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