Bernie Sanders und wofür er steht

Porträt Fundierte Berichterstattung in deutschen Massenmedien über den US-Vorwahlkampf? Fehlanzeige! Gerade ein Kandidat kommt zu kurz: Bernie Sanders. Zeit, das zu ändern

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

New Hampshire: 21,6% Vorsprung vor der Verkörperung des Establishments. Während die deutsche Berichterstattung die Vorwahlen betreffend über extreme inhaltliche Trivialität und Oberflächlichkeit nicht hinaus ragt, scheint ein demokratischer Bewerber in den Vereinigten Staaten eine enorm enthusiasmierte Kampagne zu fahren. Bernie Sanders könnte für Hillary Clinton zu einem zweiten 2008 werden. Damals verlor sie gegen den Underdog Barack Obama. Doch was genau vertritt dieser, die "politische Revolution" proklamierende Kandidat eigentlich?
Der Versuch einer intensiven Darstellung, gepaart mit vielerlei Hintergründen und persönlichen Gedanken.

Einkommens- und Vermögensungleichheit

Als Herzensangelegenheit des selbsterklärten „demokratischen Sozialisten“ muss vermutlich das Streiten für mehr soziale Gerechtigkeit bezeichnet werden. Es laufe etwas tiefgründig falsch, wenn das oberste 1% einer Gesellschaft beinah genauso viel besitzt wie die unteren 90%. Ebenso sei es inakzeptabel, dass seit 2008 58% alles neu generierten Einkommens an das oberste Prozent flossen. Die reichste Familie der Vereinigten Staaten – die Walton-Familie - besitzt so viel Vermögen wie die finanziell unteren 130 Millionen Amerikaner. Sein Ausspruch „Millions of Americans are working longer hours for lower wages“ fasst ein grundlegendes Problem der amerikanischen Wirtschaft, welches es zu bekämpfen gelte. Sanders betont, dass man unter allen hochentwickelten Industriestaaten in den USA die höchste Kinderarmutsrate vorfinde.

Studiumskosten und Studentenverschuldung

Sanders vertritt als einziger aller Kandidaten, die Ansicht, dass das Studieren an öffentlichen Hochschulen und Universitäten grundlegend von allen Studiengebühren befreit werden sollte. Der hohen Verschuldung bereits Studierender oder jenen, die ihr Studium bereits abgeschlossen haben, möchte er mit einer starken Senkung der oft hohen Zinssätze (5-7%) für Studentenkredite abhelfen.

75 Milliarden im Jahr soll das Ganze kosten und über eine spezielle Steuer auf Spekulation an der Wallstreet finanziert werden. Die amerikanischen Bürger hätten schließlich der Wallstreet 2008 aus der Patsche geholfen, jetzt sei es an der Zeit das die Wallstreet der Masse der Bevölkerung helfe, so die Argumentation. Tatsächlich sprechen Ökonomen schon von einer immer größer werdenden sogenannten „Bildungsblase.“ Gemeint ist die mittlerweile über eine Billion Dollar betragende Schuldlast der amerikanischen Studenten, die sich immer schlechter zu refinanzieren scheint.

Kampagnenfinanzierungssystem

Sanders kritisiert immer wieder den immensen Einfluss von „special interests“ und Milliardären auf die Washingtoner Politik, aber vor allem auf den Wahlkampfprozess für das Präsidentenamt. Auf Grundlage der „Citizens United“ - Entscheidung des obersten Gerichtshof von 2010, wird es Gutbetuchten ermöglicht, über sogenannte Super PACS, unendliche Summen an Geldern in den politischen Prozess zu schleusen. So gaben beispielsweise die Koch-Gebrüder, die zweitvermögendste Familie der Vereinigten Staaten, bekannt, sie würden mindestens 750 Millionen Dollar während dieser Wahl in die Politik „investieren“.
Auswege sieht der Senator von Vermont in einem Kippen der „Citizens United“ - Entscheidung, einer Verfassungsänderung zur Festlegung von Regeln des finanziellen Einflusses auf den politischen Prozess, einem funktionierenden, öffentlichen und transparenten Kampagnenfinanzierungs-System und dem Eliminieren von Super PACS.

Mindestlohn und Jobprogramm

Sanders fordert eine Anhebung des aktuell 7,25 $ betragenden Mindestlohns auf 15 $ die Stunde. Den jetzigen bezeichnet er öffentlich als „Hungerlohn“. Auch Leiharbeit möchte er mit mindestens 10,10 $ bezahlt sehen. Gewerkschaftsbewegungen sollen gestärkt und nicht weiter zerschlagen werden. Die 0,79 $ der Frau im Gegensatz zum Dollar für den Mann bei gleicher Arbeit, sei inakzeptabel.
Sanders hat zudem ein großes Programm vorgestellt, welches durch massiven Wiederaufbau der „zerfallenden Infrastruktur“ 13 Millionen Jobs schaffen soll. Gemeint sind vor allem Brücken, Straßen, das Zugnetz, veraltete Technologie und Engpässe an Flug- und Seehäfen, Dämme aber auch die Trink- und Abwassersysteme sowie das Stromnetz in Kombination mit der Breitbandversorgung.

Einwanderungsreform

Seit einiger Zeit findet man auf seiner Facebook-Seite immer wieder Bilder und Texte mit und in spanischer Sprache. Die Latino-Community ist eine klar erwählte Zielgruppe Sanders. Er möchte mit seiner Einwanderungsreform für „11 Millionen neue Amerikaner“ sorgen. Das ist die ermittelte Zahl unregistriert lebender Menschen in den Vereinigten Staaten. Das von der Kampagne gewählte Attribut „comprehensive“ - also umfassend, ausführlich – ist auf jeden Fall passend gewählt. Man findet auf der Internetpräsenz Sanders’ äußerst viele Aspekte, Forderungen und Überzeugungen.
Deshalb hier nur die Wichtigsten: Auch er ist der Ansicht, dass die Grenze gesichert werden müsse, jedoch nicht durch Mauerbau, intensiveren Schusswaffengebrauch und weitere Militarisierung. Vielmehr betont er den Einsatz von Kameras, Wärmebildüberwachung und Bewegungssensoren und den schwammig formulierten „effizienten Ausbau der Zoll- und Grenzschutzbehörde“. Man müsse gegen unmenschliche Abschiebungsprogramme, private und profitorientierte Inhaftierungszentren sowie die generelle Kriminalisierung von Immigranten vorgehen. Er setzt die Frage der Einwanderung zudem in den Kontext von Handelsabkommen wie NAFTA. Seit dieses Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko in Kraft ist, ist die Anzahl der Mexikaner, die in Armut leben, um 14% gestiegen, weshalb sich Sanders für eine Neuschreibung oder Außerkraftsetzung dieser Abkommen einsetzt.

"Racial Justice"

Polizeigewalt gegen Minderheiten, vor allem gegen Afroamerikaner, ist zu einem beinah alltäglichen Phänomen geworden. „Wenn aktuelle Entwicklungen so weiterlaufen, kann einer von vier heute geborenen schwarzen Männern sich darauf einstellen, einen Teil seiner Lebenszeit im Gefängnis zu verbringen. Schwarze werden sechsmal häufiger inhaftiert als Weiße.“ Solche Sätze findet man auf der offiziellen Kampagnenseite Sanders’. Die, wenn ins Deutsche übersetzt, befremdlich wirkende Rassengerechtigkeit, ist dem demokratischen Kandidaten ein großes Anliegen.
Wieder umfassend ausformuliert, widmet er sich der laut ihm fünffachen Gewalt, der Minderheiten in den USA unterliegen: der physischen, ökonomischen, legalen, politischen und ökologischen Benachteiligung.


Physisch: Dabei geht es ihm um reale Gewalt und Terror gegen Minderheiten, aber auch um Polizeigewalt gegen Unbewaffnete. Dem möchte er mit einer Demilitarisierung der von ihm als „invading armies“ bezeichneten Polizei, einer näher mit der Bevölkerung zusammen wirkenden Polizeiarbeit sowie einer konsequenten Aufarbeitung von Polizeigewalt begegnen. Zudem soll unter seiner Präsidentschaft der Schusswaffengebrauch zur Ultima Ratio werden sowie deeskalierende Einsatzstrategien stärker gefördert werden.


Ökonomisch: Sanders betont die soziale Ungleichheit, welche grade zwischen Minderheiten und der Gesamtgesellschaft stark fortgeschritten sei. So ist beispielsweise die Arbeitslosenrate unter Schwarzen konstant doppelt so hoch im Vergleich zu der der weißen Bevölkerung. Nicht vorhandene soziale und ökonomische Mobilität treffe vor allem die afroamerikanischen und lateinamerikanischen Communities. Als Lösung hierfür präsentiert Sanders u.a. die bereits erwähnten Vorschläge des Mindestlohns, das 13 Millionen – Jobprogramm, die Lohngleichheit unter Frauen und Männern, ein spezielles Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, vor allem unter benachteiligten jungen Amerikanern, sowie ein gerechteres Steuersystem.

Legal: Hierbei geht es Bernie Sanders um Ungerechtigkeiten im Justiz- und Gefängnissystem. Ein großer Komplex, der tatsächlich (außer vom Republikaner Rand Paul und von Hillary Clinton) kaum beachtet wird. So kommt es beispielsweise zu Interessenskonflikten, wenn es sich immer häufiger um profitorientierte Gefängnisse handelt, lokale Regierungen und Verwaltungen auf ständige Gebühren und Geldstrafen angewiesen sind und dadurch regelrecht durchzusetzende Inhaftierungsquoten festlegen. In den 70ern und 80ern wurden zudem in fast allen Bundesstaaten sogenannte Mandatory Minimums für Drogendelikte festgelegt, die heute immer noch in vielen Staaten existieren. Dabei handelt es sich um verpflichtende Gefängnisstrafen, die mindestens bei einem bestimmten Delikt anzuwenden seien – unabhängig von den Umständen. Unter anderem diese Regelung führt heute zu knapp 2 Millionen Inhaftierten, wovon Afroamerikaner und Latinos 57% stellen, obwohl sie in der Gesamtgesellschaft nur etwa 25% repräsentieren. Sanders ist der Ansicht, dass der sogenannte „War on Drugs“ grundlegend überdacht werden müsse, Marijuanakonsum entkriminalisiert und Heroinsucht als Krankheit und nicht als Kriminaldelikt gelten müsse.


Politisch: Beklagt wird zudem die Entmündigung und Entrechtung von Minderheiten durch obskure Wahlgesetze und -vorschriften. So wird es den Menschen tendenziell erschwert ihre Stimme abzugeben. Beispielsweise müssen sie offizielle Foto-IDs zur Registrierung vorweisen, was Minderheiten unverhältnismäßig oft nicht können. Zudem gibt es Einschränkungen, was die Registrierung am Wahltag und die Möglichkeit der frühzeitigen Stimmabgabe angeht, welche allerdings die ganze Bevölkerung, vor allem Studenten und Arbeiter, in ihrer Stimmabgabe einschränkt. Auch werden Wahlberechtigte oft vorschnell aus den Wahllisten gestrichen, wenn sie lange Zeit nicht wählen waren oder ihren Wohnort gewechselt haben. Lösungen hierfür sieht Sanders natürlich in der Umgestaltung dieser Gesetze und Vorschriften, aber auch beispielsweise in dem Vorschlag den Wahltag überall zu einem bundesstaatlichen Feiertag zu machen.


Ökologisch/Umweltbedingt: Hierbei handelt es sich um ein quasi in der öffentlichen Debatte nicht existentes Problem. Es ist jedoch real und wird von Sanders, wenn auch nicht in den Medien, zumindest in seinem Programm aufgeführt. Er führt an, dass die Wahrscheinlichkeit ein Latino-Viertel in einem Gebiet mit hoher toxischer Schadstoffbelastung zu finden, 1 zu 3 betrage. Zudem arbeiten Minderheiten in tendenziell stärker gesundheitsschädlichen und risikoreichen Berufen, resultierend in einer für einen geringverdienenden Latino-Arbeiter 23% höheren Wahrscheinlichkeit bei seiner Arbeit zu sterben. Grob gesagt möchte Sanders in diesem Bereich vor allem eine strengere Gesetzeslage herstellen, was Umweltschutzauflagen und Arbeitsbedingungen angeht. Aber er räumt auch indirekt ein, dass man erst noch klare Strategien, Pläne und Endziele erarbeiten müsse.

Frauenrechte

Der 74 Jahre alte Sanders wird nicht müde sein die Frauenrechte betreffendes Wahlverhalten in den letzten Dekaden zu betonen. Er sieht sich als den progressivsten aller Kandidaten, auch was die Gleichstellung der Frau betrifft. Bernie und auch Hillary grenzen sich dabei auch bewusst von der republikanischen Partei ab, denen sie teils zurecht unterstellen, was die Frauenrechte angeht, wieder in weit zurückliegende, dunkle Zeiten zurück zu wollen. Im Diskurs steht vor allem das Recht auf Abtreibung sowie die Non-Profit-Organisation Planned Parenthood, welche Frauen in den USA in Fragen der Schwangerschaft und der Kontrazeption berät, vor allem aber als „Abtreibungsorganisation“ in Kritik steht. Sanders tritt wie Clinton für eine Ausweitung der Finanzmittel von PP ein. Jene Organisation hat aber Clinton öffentlich seine Unterstützung zugesprochen. In einem kleinen Kommentar in einer Fernsehshow hatte Sanders einmal PP dem Establishment zugeordnet, es später allerdings relativiert und korrigiert, dass er lediglich die oft vorhandene Diskrepanz zwischen den Ansichten von Mitgliedern so einer Organisation und der Führungsetage herausheben wollte.
Die bereits erwähnte Lohngleichheit bei Mann und Frau führt er auch als zu erreichendes essentielles Ziel an. Zudem gibt er an, als Präsident lediglich jene Richter für den Obersten Gerichtshof nominieren zu wollen, die die Rechte der Frau auf Selbstbestimmung über ihren Körpern akzeptieren. Zeitlich begrenzte, bezahlte Eltern-, Kranken- und Urlaubszeit stehen ebenso in seinem Forderungskatalog. Auch ein qualitativ hochwertiges, kosteneffizientes Kinderbetreuungsprogramm möchte er allen Amerikanern zur Verfügung stellen. Sanders schafft es in beinah jedes Thema die Problematik der sozialen Ungleichheit einzubauen. So führt er, leicht abschweifend, auf der auf seiner Internetpräsenz mit „Fighting for Women’s Rights“ betitelten Seite auch „Making healthcare a right“ und „Expand social security“ auf.

Gleichstellung der LGBT - Community

Die Gruppe der LGBT, stehend für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender, fasst je nach Auslegung, wer wann exakt dazu gehört, etwa 3-7% Prozent der amerikanischen Bevölkerung. Sanders will „Diskriminierung aller Art“ beenden. Gemeint ist z.B. die Tatsache, dass es in vielen Bundesstaaten immer noch legal ist, jemanden aufgrund seiner oder ihrer Homosexualität zu entlassen. Oder jemandem eine Wohnung zu verweigern, weil er oder sie sich als Transmann oder Transfrau outet.
Neben der sich daraus ergebenden Forderung, dass dies zu ändern sei, findet sich eine interessante Überzeugung in dieser folgenden Frage: Sanders gibt an, er wolle bei jeder Gesetzgebung, die auf Kosten anderer Rechte vorgibt, „religiöse Freiheit“ zu beschützen, von seinem Vetorecht Gebrauch machen. Diese Ansicht reiht sich in von ihm getätigte Aussagen ein, in denen er angab nichts von organisierter Religion zu halten, jedoch durchaus gläubig und spirituell geprägt zu sein. Er bezeichnet sich zudem als säkular lebender Jude.

Gesundheitswesen und Sozialhilfe

In etwa 90% der Amerikaner sind zum jetzigen Zeitpunkt krankenversichert. Der Affordable Care Act sorgte durch Zuschüsse, wenn sich Bürger privat versicherten, für eine Erhöhung des Anteils der Versicherten um über 6%. Unter anderem Bernie Sanders schrieb Obamacare. In seiner Präsidentschaftskandidatur jedoch proklamiert er: „Healthcare is a right, not a privilege“. So fordert er, allen anderen bedeutenden Industriestaaten der westlichen Welt zu folgen und ein staatliches „single payer system“ zu etablieren wie es in Frankreich und England der Fall ist. Es sei kosteneffizienter und würde für eine Rundum-Versorgung vor allem der Mittelschicht und der Schwächsten der Gesellschaft sorgen. Es sei einer wirtschaftlich so großen Nation unwürdig, wenn 29 Millionen Menschen keinerlei Gesundheitsversicherung haben, viele weitere Millionen unterversichert sind und/oder ihre anfallenden Beiträge und Gebühren dafür nicht bezahlen können. Tatsächlich geben die Vereinigten Staaten weit mehr pro Kopf für Gesundheitsausgaben aus als andere große Nationen, während sie gleichzeitig mehr Defizite in eben dieser Versorgung aufweisen.
Sanders’ Programm würde in der Theorie tatsächlich die meisten großen Probleme, die das Gesundheitssystem aktuell aufweist, lösen und für eine großflächige, intensive und kostengünstigere medizinische Versorgung aller Bevölkerungsteile sorgen.
Er möchte mit den großen Pharmakonzernen vor allem für verschreibungspflichtige Mittel faire Preise aushandeln. Diese können zur Zeit quasi unreguliert und beliebig erhöht werden.
Eng damit verknüpft ist sein Ruf nach einer Ausweitung der Sozialhilfe. Über die Erhöhung der Grenze des versteuerbaren Einkommens, würden zusätzliche Gelder in den Staatshaushalt fließen, die durchschnittlich 65 $ mehr pro Monat bedeuten würden, vor allem aber über weitere Erhöhungen Rentnerinnen und Rentnern ein Altern in Würde ermöglichte, so Sanders. Zur Zeit zahlt ein Milliardär genauso viel Geld ins Sozialsystem ein wie jemand, der 118.500 $ im Jahr verdient.

Veteranenfürsorge und Behindertenrechte

Sowohl seine umfassende Gesundheitsreform als auch die Aufstockung der Sozialhilfe kommen natürlich beiden Gruppen zugute. Für die Veteranen betont Sanders jedoch seinen Plan, das VA, also das Kriegsveteranenministerium, massiv und vor allem finanziell auszubauen. Wiedereingliederung, Förderung neuer Karrieren, umfassende Gesundheitsversorgung, im speziellen psychische, sollen gefördert werden. Trotz einiger Kritik an den Studien, die zu solcherlei Zahlen kommen, geht man davon aus, dass sich im Durchschnitt 22 Veteranen pro Tag das Leben nehmen.

Ebenso ein Thema das faktisch in der öffentlichen Debatte nicht existent ist, sind die Behindertenrechte. 80% aller erwachsenen Amerikaner mit psychischer oder physischer Behinderung sind arbeitslos. Sanders möchte Programme wie IDEA oder ADRCs, die Behinderte in ihrem täglichen Leben, beim Studium und bei der Integration in die Arbeitswelt helfen, stärker ausbauen und finanzieren. Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde bisher lediglich von den USA unterzeichnet – jedoch nie ratifiziert. Dies will Sanders als Präsident definitiv ändern.

Wallstreet, Steuersystem und Steueroasen

Der Schlüssel, wie Sanders seine oft als Utopien bezeichneten Ideen bezahlen möchte, liegt in der Umgestaltung des Steuersystems. Eine Spekulationssteuer an der Wallstreet soll das kostenlose College finanzieren. Durch effektive Bekämpfung der Steueroasen in den Cayman Islands etc. soll das 13 Millionen Job-Programm ermöglicht werden. Etwa 100 Milliarden gehen den USA aufgrund von Steueroasen und anderen Steuerschlupflöchern schätzungsweise jährlich verloren.
Sanders sieht es als gefährlich an, dass die 6 größten Finanzinstitute über Vermögenswerte verfügen, die 60% des nationalen BIPs entsprechen. Er ist der Meinung: „If a bank is too big to fail, it is too big to exist“, weshalb er die größten Banken zerstückeln will.

Riesige Konzerne und reiche Privatpersonen hätten unter einem Präsident Sanders ihren gerechten Anteil an Steuern zu zahlen. Heute, so kritisiert Sanders, hätten mehrere große Unternehmen bereits so viele Steuerschlupflöcher ausgenutzt, dass sie in den letzten Jahren keinen einzigen Dollar an Steuern zahlten. General Electric, Boeing und Verizon seien solche Unternehmen. Sanders scheut sich nicht, Namen zu nennen.
Als Plan besteht das Einführen einer progressiven, höheren Erbschaftssteuer, die laut Sanders vor allem die obersten 0,3% betreffen würde. Zudem möchte er einen zusätzlichen Steuerzuschlag von 10% für Milliardäre einführen. Davon gibt es in den USA lediglich 530. Parallel dazu, so betont er, sei es vor allem nötig, die Gesetzeslücken- und schlupflöcher zu schließen, welche es reichen Familien ermögliche, ihr Vermögen steuerfrei an ihre Kinder weiterzugeben.
Des Weiteren möchte er Steuererleichterungen bei Kapitalerträgen und Dividenden abschaffen und höhere Einkommenssteuern für die reichsten 2% der Amerikaner einführen und gesetzlich kompliziert festgelegte Steuerabzüge, die vor allem Reiche begünstigen, limitieren.

Nationale Sicherheit - Krieg und Frieden Terrorismus - Folter

Als die republikanischen Debatten überschattendes Thema muss die Frage nach Krieg und Frieden, nach Terrorismus und der Nationalen Sicherheit bezeichnet werden. Unter den Demokraten ist es eher ein Thema unter vielen. Von radikalen Militärs und Republikanern geschmäht, vertritt Sanders eine vernünftigere, von ihm als „smart“ bezeichnete, außenpolitische Einstellung – jedoch alles andere als eine pazifistische. Er votierte für den militärischen Einsatz im Kosovo sowie in Afghanistan. Lediglich dem Irakkrieg unter George W. Bush 2002 entsagte er sich. Letzteres wird er auch nicht müde zu erwähnen, wohl wissend, dass Konkurrentin Clinton für den, heute sich als Desaster entpuppenden Einsatz abstimmte.
Sanders orientiert sich bei seiner militärischen Ausrichtung am Völkerrecht, was bei der aktuellen amerikanischen Politik durchaus radikal wirken kann. Krieg als „letzter Ausweg.“ Lieber Diplomatie und Sanktionen. Wenn doch bedarf es klarer Ziele und somit einer Begrenzung des Einsatzes. Drohneneinsätze nur, wenn sichergestellt werden kann, dass keinerlei Zivilisten dabei zu Schaden kommen - also gar keine mehr? „Schwach!“, schreien die Republikaner. Gegen den IS soll es eine internationale, muslimische Truppen unterstützende Koalition tun. Er will Guantanamo schließen, die NSA in ihren Aktivitäten zügeln (Sanders stimmte gegen beinah alle Ausweitungen von Überwachungsprogrammen) und Folter abschaffen. Folter abschaffen! Begründung: Man müsse sich erinnern, was Amerika so außergewöhnlich mache - „our values“. Während Republikaner argumentieren: „Die halten sich ja auch nicht an unsere Werte, warum sollten wir das denn machen?“ Oder ungeachtet aller Rechtsstaatsprinzipien: „Waterboarding ist keine Folter! Alles erweiterte Verhörmethoden! Wir brauchen mehr Leute in Guantanamo Bay, nicht weniger! Nur so können wir Terrorattacken, (die unsere Werte bedrohen), verhindern!“. Total verquere Welt. Die einen nutzen Werte als Argument für etwas – die anderen nutzen die scheinbare Verteidigung derselben als Gegenargument.

Als Enumeration führt er dann noch an, man müsse den globalen Einfluss erhöhen, indem man fairen Handel fördert, humanitäre Hilfe leistet, den Klimawandel anspricht und wirtschaftliche Hilfe leistet. Sanders zieht oft Zusammenhänge, die in linken Ohren, eine wahre Genugtuung sind und ansonsten in der amerikanischen politischen Landschaft fast vollständig fehlen. Er verbindet Armut und Perspektivlosigkeit mit Radikalisierung – auch wenn er das nicht offen ausspricht.
Weiterhin unterstützt er den ausgehandelten Iran-Deal, nennt ihn aber auch „not perfect“. Jedoch sei es ein besserer Pfad als der vorher. Der Iran wäre auf dem Weg gewesen, eine Nuklearmacht zu werden, und die USA und Israel hätten vorgehabt militärisch zu intervenieren. 2015 geleakte Dokumente des Mossads, also des israelischen Auslandsgeheimdienstes, belegen jedoch, dass der Iran jenes nicht beabsichtige. Auch ein Bericht der 16 von 17 Geheimdiensten der USA kam 2012 zu dem Ergebnis, dass der Iran zwar entsprechende Untersuchungen anstelle, zur Zeit aber keinerlei Kenntnisse über einen tatsächlichen Bau oder ein Vorhaben über einen solchen Bau einer Atombombe vorlägen. Erkenntnisse, die allerdings nicht nur von Bernie Sanders, sondern auch global zu gerne ignoriert werden.
Im Nahostkonflikt unterstützt Sanders eine Zweistaatenlösung. Er verurteilt die Raketenangriffe der Hamas, aber auch die „unangemessenen“ und Zivilisten tötenden Angriffe der israelischen Armee.
Er war gegen eine Nato-Erweiterung, aufgrund der Annahme, es könne zu außenpolitischen oder militärischen Aggressionen Russlands führen. Zu der völkerrechtlich zumindest streitbaren Aktion auf der Krim blieb Sanders dann jedoch auf der Linie Obamas. Sanktionen ja. Krieg nein. Er fand damals die Worte: „The whole world has got to stand up to Putin.“

Klimawandel

„Das ist eine Erfindung der Chinesen, um unsere amerikanische Wirtschaft konkurrenzunfähig zu machen.“ Das denkt natürlich nicht Sanders, sondern Trump. In den letzten Tagen ist eine Debatte entbrannt, wie gleich beide Kandidaten doch eigentlich sind. Beide fischten den jeweils extremen rechten oder linken Rand der Parteien ab, so die Argumentation. Aber hier ähneln sie sich wie schwarz und weiß. Sanders, unterstützt von vielen Umweltorganisationen, unter anderem von Greenpeace, postuliert:“The debate is over. Climate Change is real“ Alle, die das nicht so sehen, seien gekauft von der Ölindustrie. Symbolisch dafür war sein Auftritt bei einer der ersten Debatten der demokratischen Kandidaten im November 2015: Auf die Frage nach der größten nationalen Bedrohung antwortete er, im Gegensatz zum Antwortentenor "Terrorismus", mit "Klimawandel!"
Seine Ausrichtung ist klar: Massive Senkung des nationalen CO2-Ausstoßes durch: Steuer auf jene, Aufhebung der Subventionen für fossile Brennstoffe, Investitionen in effiziente und saubere, regenerative Energien.
Neben all den sich daraus erschließenden, etlichen weiteren Forderungen, die ich jetzt nicht weiter ausführen möchte, ist noch eine interessante Sache dabei, die wiedermal Sanders’ Weitblick und Überblick zeigt: Er will eine internationale Koalition anführen, die sich der Sache annimmt. Diese sei notwendig, um internationalen, durch den Klimawandel angestachelten Konflikten vorzubeugen. Er nennt Ursachen für mögliche Konflikte: Änderungen in den Niederschlagsmengen, höhere Temperaturen, mehr Naturkatastrophen, wobei er vor allem die Risiken für Entwicklungsländer hervorhebt. Stichwort: Ressourcenverteilung, Klimaflüchtlinge.

Linke Sozialdemokratie als Revolution

Das Leitbild seiner Kampagne bedient das Bild einer politischen Revolution. Gegen das politische Establishment, gegen das wirtschaftliche Establishment. Inwieweit sein Programm revolutionären Ansprüchen genügt, muss jeder selbst entscheiden.

Mir, dem Autor dieser unter Recherche wild zusammengetragenen Gedanken, kommt grade das wirtschaftliche und soziale Programm wie nichts weiter als linke Sozialdemokratie vor. Das jene Ansichten Sanders in unseren öffentlich-rechtlichen Medien als „extreme Linke“ abgestempelt werden, ist den wirtschaftlichen und sozialen, extrem üblen historisch-politischen und real-aktuellen Umständen der Vereinigten Staaten zu schulden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden