Wahrheiten sind Wahrheiten

Merkel in Harvard Eine eigentümliche rhetorische Figur erfreut sich größter Beliebtheit: die Tautologie. Ihre Inhaltslosigkeit ist Ausdruck unserer Zeit und wird politisch rege genutzt

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Wahrheiten sind Wahrheiten

Foto: Douglas Grundy/Three Lions/Getty Images

Sechs Banalitäten hatte Angela Merkel mitgebracht. Am Donnerstag hielt die Bundeskanzlerin die Eröffnungsansprache der Graduiertenfeier der Harvard-Universität. Sie sprach aber – weil mensch das heute so macht – von sechs „Gedanken“, die sie an die Universitätsabgänger*innen richten wolle.

Eine Banalität, nein, ein Gedanke ragte unter allen hervor. Er wurde in der Berichterstattung der vergangenen Stunden am stärksten aufgegriffen. Zwei Drittel ihrer Rede sind bereits vergangen als sie ihn ausspricht. Wahrhaftigkeit ist gerade Thema – Wahrhaftigkeit gegenüber anderen, gegenüber sich selbst. Die sei wichtig. Merkel schlägt die Brücke zum Wahrheitsmotto der Universität, das „Veritas“ lautet. Manche der älteren Graduierten, die im Bild hinter ihr mal grinsend, mal gelangweilt dreinschauen, wachen spätestens dann wieder auf, als sie ihn sagt, jenen später vielzitierten Satz:

„Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.“

Alle waren wieder wach, aber nicht nur das. Die Masse rastet aus, als hätte Merkel gerade ein Gegenmittel für Krebs vorgestellt. Euphorie als Antwort auf im besten Sinne: nichts. Wahrheiten sind Wahrheiten, Lügen sind Lügen. Und so solle man sie auch nennen. Eine Tautologie ist das. Geschäft ist Geschäft. Morgen wird morgen sein. Wenn es regnet, regnet es. Diese Sätze sind immer wahr und können niemals falsch sein. Es sagt viel über die diskursive Temperatur einer Gesellschaft, wenn einer der beliebtesten rhetorischen Figuren durch vollkommene Inhaltslosigkeit geprägt ist. Nur was genau sagt uns diese Tatsache denn?

Die Tautologien, wir finden sie überall. Die Politik setzt sie keineswegs beliebig ein, sondern äußerst gezielt. „Genug ist genug“ – auf diese Formel brachte es kürzlich Sebastian Kurz, der nun Ex-Bundeskanzler Österreichs, und rechtfertigte damit seinen Vertrauensverlust gegenüber der rechtsextremen FPÖ im Zuge der Strache-Affäre und die Ausrufung von Neuwahlen. Als Merkel im Jahr 2016 nach großen AfD-Erfolgen bei den Landtagswahlen sich zunehmender Kritik ausgesetzt sah, beschwor sie die Wähler*innenschaft mit der Behauptung „Deutschland wird Deutschland bleiben“. Damit hatte sie der rechtsradikalen Lesart ala „Deutschland muss Deutschland bleiben“ lediglich vorsichtig die Vorzeichen umgedreht. Theresa May, die noch-Premierministerin des Vereinigten Königreichs, machte im gleichen Jahr mittels ihrer oft wiederholten Wortformel „Brexit means Brexit“ die wohl eindrucksvollste Tautologie des laufenden Jahrhunderts zur Überschrift ihres politischen Treibens.

Die Antwort auf die Frage, weshalb Tautologien trotz ihrer manifesten Inhaltslosigkeit ihre kommunikative Wirkung entfalten, besteht im sogenannten Kooperationsprinzip, wie es in der Linguistik und Philosophie vielfach analysiert wurde. Gesprächspartner*innen konzeptualisieren ihren Redebeitrag so, dass er dem Zweck oder der Richtung des Gesprächs dient, und unterstellen sich dieses Motiv auch wechselseitig, so die Annahme. Oder im Falle Merkels: dem Zweck oder der Richtung ihrer Rede. Wird ein offensichtlich uninformativer Redebeitrag geleistet mit dem Gehalt von „Wahrheiten sind Wahrheiten“ antizipieren wir Hörenden: Aha, da muss mehr dahinter stecken! Merkel will mehr sagen, als sie eigentlich sagt.

Was ist das Ergebnis dieses Prozesses? Es ist die Deutung der Merkel-Rede als Anti-Trump-Manifest, wie sie vielfach stattfand. Fair enough: Merkel agiert hier nicht ganz tautologisch. Sie formuliert die reine Tautologie, die eben in der Aussage, Wahrheiten sind Wahrheiten bzw. Lügen sind Lügen, bestünde, etwas verklausulierter. Auf den reinen Typus läuft es mitunter hinaus.

Die Tautologien – sie grassieren wohl besonders gut in unserer Welt, weil sie trotz ihrer Banalität großen kommunikativen Wert entfalten; und genau das eben in einer Welt, in der vieles „aus den Fugen gerät“, in der nichts mehr sicher oder klar erscheint. Genug ist genug, Deutschland wird Deutschland bleiben, Brexit means Brexit. Wahrheiten sollen wir Wahrheiten nennen. Diese Sätze sind uneindeutig eindeutig, sie können wahrlich diffus interpretiert werden. Sie rammen aber bedeutungsschwangere Pfeiler in das Fundament einer zerrütteten Welt, ohne aber konkrete Absender oder Schuldige zu nennen. Die gute Tautologie bietet Projektions- und Irritationsfläche: Was ist genug? Was ist Deutschland? Was heißt denn Brexit? Was sind Wahrheiten?

Die Attraktivität der Tautologie besteht damit auch in der wechselseitigen Unterstellung von Intellektualität. Merkel beginnt ihre Rede nicht mit: Dies ist ein Manifest gegen Ihren Präsidenten! Sie möchte, dass jeder dies implizit versteht; und wir schätzen sie dafür, dass sie uns das zutraut.

Die Harvard-Universität schrieb anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Merkel, dass ihre vier Amtszeiten von „scharfsinniger Entschlossenheit und Pragmatismus“ geprägt waren – beispielhaft verkörpert in ihrem Slogan „Wir schaffen das“. Eine Rednerin lobt Merkel für die Einführung des Mindestlohns, die Schließung aller Atomkraftwerke nach Fukushima und für ihr Eintreten für die gleichgeschlechtliche Ehe. Es ist die Ironie der Geschichte, dass Merkels politische Projektlosigkeit einfach durch fremde, weitestgehend sozialdemokratische Errungenschaften aufgehübscht wird.

Was lernen wir daraus? Nunja: Merkel ist eben Merkel.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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