„Du musst richtig, richtig arm sein“

Interview Für Studierendenvertreterin Carlotta Kühnemann ist eine „echte BAföG-Reform“ überfällig

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Studierende in einem Hörsaal während einer Vorlesung.
Studierende in einem Hörsaal während einer Vorlesung.

Foto: CHARLY TRIBALLEAU/AFP via Getty Images

Pünktlich zur Bundestagswahl verspricht Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, sie wolle „an das BAföG rangehen“. Die Förderhochstdauer solle flexibilisiert und die Altersgrenzen künftig erhöht werden, so Karliczek in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Das BAföG müsse ihr zufolge die neuen Bildungsbiografien besser abbilden.

Carlotta Kühnemann vom „freien zusammenschluss der student*innenschaften“ (fzs) vertritt knapp 900.000 Studierende in Deutschland. Karliczeks Reformideen sind ihr deutlich zu wenig, eine „echte BAföG-Reform“ sei überfällig. „Wenn die CDU das BMBF behält“, äußert sich Kühnemann im Interview jedoch pessimistisch, „dann wird sich vermutlich nichts ändern, weil sich auch die letzten Jahre nichts geändert hat.“

Steven Hartig: Das Statistische Bundesamt hat vor Kurzem die neusten BAföG-Zahlen veröffentlicht. Studierende haben im letzten Jahr im Schnitt 60 Euro mehr pro Monat bekommen. Ist das nicht eine richtig gute Nachricht?

Carlotta Kühnemann: Ja, eigentlich schon. Aber wenn man hinter die Zahlen guckt, dann fällt auf: Es liegt daran, dass immer mehr Studierende eine Vollförderung bekommen. Das heißt, dass die Teilförderungen sinken und dass die, die BAföG bekommen, richtig, richtig arm sein müssen dafür. Das zeigt schon das Problem: Das BAföG greift nicht mehr in die untere Mittelschicht rein und somit werden nur noch sehr wenige Studierende gefördert.

Die Bundesbildungsministerin sagt, BAföG sollen künftig auch Studierende beziehen dürfen, die über 30 bzw. 35 Jahre alt sind. Auch die Förderhöchstdauer – Stichwort Regelstudienzeit – möchte sie erhöhen. Das wollt ihr doch auch.

Genau. Wir sind auch froh über diesen ersten Schritt. Dazu muss man aber sagen, dass das jetzt kurz vor der Bundestagswahl passiert, alle anderen Parteien – auch Stimmen aus der CDU – das schon lange fordern und die Bundesbildungsministerin die letzte Person ist, die jetzt plötzlich auch auf diese fantastische Idee gekommen ist.

Ihr fordert unter anderem ein BAföG, das familienunabhängig ausgezahlt wird. Nehmen wir an, ich hätte reiche Eltern. Sollte das nicht beeinflussen, ob ich BAföG bekomme und wie viel BAföG?

Im ersten Moment – vom Gerechtigkeitssinn – hat man schon das Gefühl: Oh, dann finanziere ich als arme Putzkraft den reichen Bänkersohn mit. Das stimmt natürlich, wenn man nicht dahinter denkt. Weil, wir wollen das nicht einfach so ändern, sondern da gehört ein grundsätzliches Konzept zu. Hinter dem BAföG steht ja die Familie – also die Verpflichtung, dass die erste Ausbildung durch die Familie mitfinanziert wird. Das ist aber schon das Grundproblem, weil dieses konservative Familienbild existiert überhaupt nicht mehr in der Realität. Es gibt viele Patchwork-Familien, es gibt viele Alleinerziehende.

Dein fzs-Kollege Jonathan Dreusch schreibt, die CDU betreibe „ideologische Politik auf den Rücken von Millionen Studierenden“.

Genau, das ist ja dieses auch christliche Familienbild. Dieses Festhalten an etwas, das überhaupt nicht mehr existiert in der Realität, ist ja schon auch ein bisschen Ideologie. Deswegen wollen sie es auch nicht ändern, weil es die Grundwerte der CDU sind, dieses Familienbild – ihrer Meinung nach ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft – weiter so zu vertreten. Wir aber finden, dass es eine gesamtgesellschaftliche Solidarität braucht und somit auch eine Umstrukturierung des Steuersystems und des ganzen Sozialsystems. Sodass eben nicht mehr geguckt wird, wie viel Einkommen hat meine Familie und dementsprechend werde ich gefördert – oder eben nicht gefördert. Das gilt auch für Hartz IV.

Ihr fordert außerdem, das BAföG soll ein „Vollzuschuss“ werden. Das heißt, ich müsste dann nicht mehr 50 Prozent meines BAföGs später im Leben an den Staat zurückzahlen. Ist das denn gerecht? Mit meinem Hochschulabschluss habe ich schließlich später auch ein deutlich höheres Einkommen als eine Person, die eben nicht studiert hat.

Es ist so: Die Leute, die BAföG beziehen, haben oft tatsächlich sehr wenig Geld. Und sie überschneiden sich mit der Gruppe von Personen, deren Eltern keinen akademischen Abschluss haben. Und da ist eben diese große Angst da: Was passiert, wenn ich nach dem Studium keinen Job finde? Oder kein Geld verdiene? Natürlich ist das irrational. Aus unserer Sicht werden die Leute natürlich einen Job finden. Aber die Angst vor dieser Verschuldung ist enorm groß. Diese Angst schreckt ab, BaföG zu beziehen oder überhaupt zu studieren. Deshalb nochmal: Wenn es eine grundsätzliche Finanzierung aller Ausbildungen gäbe – wir reden hier auch nicht nur vom Studium –, die gesamtgesellschaftlich finanziert wird durch ein gerechteres Steuersystem, dann wäre das durchaus auch gerecht. So wie das Steuersystem jetzt funktioniert, wäre zum Beispiel ein familienunabhängiges BAföG natürlich nicht gerecht. Das wäre eine Verteilung von unten nach oben, das wollen wir nicht.

Zum Bild gehört aber auch, dass BAföG-Schulden besondere Schulden sind: Es komme kein Gerichtsvollzieher, wenn man nicht zurückzahlen kann, hat Gottfried Krebs vom Thüringer Studierendenwerk mal im Deutschlandfunk gesagt. Aber unabhängig von dieser Verschuldungsangst, die im Einzelnen nachvollziehbar ist: Wie optimistisch bist du denn mit Blick auf die Bundestagswahlen, dass sich die BAföG-Situation für Studierende verbessert in den kommenden vier Jahren?

Nicht besonders. Alle Parteien wollen etwas ändern und haben auch schon Konzepte vorgelegt – jetzt auch die CDU. Allerdings, wenn die CDU das Bundesministerium für Bildung und Forschung behält, dann wird sich vermutlich nichts ändern, weil *lacht* da hat sich auch die letzten Jahre nichts geändert und da war das ja auch schon so.

Das vorliegende Interview wurde am 6. August 2021 für das Bielefelder Campusradio Hertz 87.9 geführt. Es wurde bei der Verschriftlichung im Interesse einer besseren Lesbarkeit leicht überarbeitet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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