Eine vergessene Praxis

Tagebuchschreiben Seit 18 Monaten endet jeder meiner Tage gleich: ich verfasse einen Tagebucheintrag. Hier erkläre ich, was ich dabei gelernt habe. Und warum wir alle ein Tagebuch brauchen

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Eine vergessene Praxis

Screenshot: der Freitag

„Was habe ich eigentlich am 06.10.2017 gemacht?“ ist wohl eine Frage, die du dir zu Recht niemals stellen würdest. Stell sie dir trotzdem einmal. Hast du irgendeine Ahnung, was dich an diesem Tag beschäftigte? Was dich ärgerte und freute? Mit wem du Gespräche führtest? Ja, schlichtweg: was du so gemacht hast? Ich wage wohl nicht viel, wenn ich sage: vermutlich nicht. Es war übrigens ein Freitag. Und mein Geburtstag – was allerdings nur deshalb von Relevanz ist, weil es jener Tag sein sollte, an dem ich eine waghalsige Idee endlich in die Tat umsetzte. Eine beispiellose Zumutung an meine Selbstdisziplin, deren Ergebnis heute über 200.000 Wörter umfasst. Als Hausarbeit formatiert sind das über 570 Seiten. Die obigen Fragen zum 06.10.2017? Die kann ich alle beantworten. Aber - was nützt mir das eigentlich? Nichts scheint einfacher, erträglicher, verständlicher oder schöner zu werden, nur weil ich mein komplettes letztes Lebensjahr nun Tag für Tag nachlesen kann. Oder?

Mein Tagebuchschreiben startete als ein Akt des narzisstischen Selbstzwecks. Zunächst schrieb ich, um geschrieben zu haben. Inspiriert vom Tagebuchschreiber Martin Schulz – danke, SPD! – trieb mich die beeindruckende Vorstellung an, das eigene Leben als Niederschrift in der digitalen Schublade zu haben. Was ich noch nicht ahnte: mit jedem Eintrag sollte aus dem recht naiven Vorhaben ein zentraler und immer komplexerer Bestandteil meines Alltags werden, den ich gleichzeitig in seinen Schwächen und Stärken, Eigenarten und Mustern immer besser verstand – oder zumindest meinte zu verstehen.

Tagebuchschreibende kämpfen mit einem grundsätzlichen Problem: so ein Tag ist verdammt komplex. Diese Komplexität muss reduziert werden. 14 bis 18 Stunden Wachzustand – je nach Länge des Schlafes – wollen geschrumpft werden auf einen Text, der sich in etwa fünf bis 15 Minuten schreiben lässt. Länger möchte mensch ja kaum an einem Eintrag sitzen.

Doch warum machte ich das überhaupt, ein Tagebuch führen? Mein eigenes Schreiben entflammte genau darüber immer wieder aufs Neue viele Fragen. Schon im ersten Eintrag schrieb ich etwas peinlich-pathetisch vom Tagebuch als „treuen Begleiter selbstreferentieller Phasen“, ohne wohl selbst so recht zu wissen, was ich damit meinte. Mit jedem Abend wuchsen die Fragen. Was schreibe ich, ja, was schreiben wir da eigentlich auf, wenn wir behaupten, Tagebuch zu schreiben. Und was nicht? Und sowie: was bringt das alles? Wer „schon immer mal“ ein Tagebuch führen wollte, findet in diesem Text hoffentlich eine realistische Orientierung und reichlich inspirierende Motivation.

In meinen Überlegungen kristallisierten sich über die Zeit genau vier zentrale Funktionen des Tagebuchschreibens heraus: Selbstreflexion, tägliche Schreibpraxis, Tagesstrukturierung und Retrospektive.

Good ol‘ Selbstreflexion

… so en vogue das Konzept und vage seine Verwendung, meint im Hinblick aufs Tagebuchschreiben, sich impliziten Problematiken und Fragen einmal explizit zu stellen. Was lief heute gut bis perfekt, was schlecht bis fürchterlich? Wie habe ich mich heute gefühlt? Und warum? Habe ich Geplantes erledigt? Was würde ich anders machen, könnte ich diesen Tag nochmal erleben? Eine Flut an Vorteilen und Konsequenzen, die hier nicht erörtert werden können, ereilt die Tagebuchschreibenden, so sie sich diesen Fragen stellen. Doch eins faszinierte mich im Besonderen: in der Beurteilung eines Tages ziehen wir fast nie eine gesunde Bilanz aus Gutem und Schlechtem. Auf „Wie war dein Tag?“ antworten wir meistens, indem wir auf das referieren, was uns am stärksten positiv oder negativ tangierte. Ein aufregender, produktiver, geselliger oder reibungslos verlaufender Tag kann sich durch ein blödes Gespräch oder kleinste, meist irrelevante Fehler anfühlen wie ein schrecklicher Tag, dem nichts Gutes abzugewinnen ist. Beim Tagebuchschreiben üben wir uns in einer kritischen Distanz, in einer Weitung der Grenzen unseres subjektiven Blicks. Die Tage, an denen ein Eintrag den Blick auf meinen Tag änderte, zähle ich schon länger nicht mehr: „Naja, so schlimm war dein Tag doch eigentlich gar nicht, Steven.“ Oder der umgekehrte Fall, in dem sich eine positive Grundstimmung in eine realistisch-kritische Einschätzung wandelt: „Ok, der Tag war vielleicht spaßig und ich habe die spannende Sache X erlebt und eine gute Freundin Y getroffen. Aber eigentlich wollte ich dies und jenes tun und sowieso mein Zimmer aufräumen, was ich alles nicht gemacht habe.“ Ehrlichkeit ist insofern eine zentrale Qualität fruchtbaren Tagebuchschreibens. Wer nur ins Tagebuch schreibt, was er ohnehin schon der Mitbewohnerin erzählt hat, der kratzt lediglich an der Oberfläche des eigenen Seins. Interessant, spannend und wertvoll wird es dann, wenn wir uns auch dem Unangenehmen stellen. Fragen, die wir als illegitim empört zurückwiesen, kämen sie von Kommiliton*innen oder Mitbewohner*innen. Fragen, die uns auch mal ratlos, wütend oder weinend zurücklassen.

Übung macht die Schreibenden

Schreiben, das ist nichts, was man einfach beherrscht. Man erlernt es – wie das meiste im Leben –, indem man es übt. Nun ist es nicht nötig, an jedem Satz oder Wort eines Eintrages rumzudoktern, bis er oder es perfekt erscheint – wenn auch ich solche Tage durchaus erlebe. Tagebuchschreiben ist schließlich zuallererst regelloses Schreiben. Manchmal macht mich eine schlaftrunken produzierte schräge Syntax oder Orthografie wütend. Manchmal ignoriere ich sie. Manchmal bemerke ich sie gar nicht. Darin spiegelt sich schließlich bereits eine Stimmung und Haltung, mit der ich den Eintrag verfasse, ja dem Tag gegenüberstehe. Die Suche nach adäquatem Wortmaterial für die Darstellung der sozialen Komplexität des Tages ist dabei ein Kernstück des Tagebuchschreibens. Nicht selten erleben wir wohl tagelange Phasen, in denen die einzigen von uns produzierten Schriften relativ anspruchs- und belanglose Whatsapp-Textchen darstellen. Das Tagebuch hingegen zwingt uns zu täglichem, nicht gänzlich anspruchslosem Schreiben. Nein, es beglückt uns damit. Bereits nach wenigen Wochen merkte ich, wie mir das Verfassen soziologischer Texte zunehmend leichter von der Hand ging. Es schien, als könne ich plötzlich wesentlich mehr der begrenzten Hirnkapazität dem soziologischen Denkvermögen widmen, da der Schreibakt, die Wortfindung und das halbwegs eloquente Formulieren mir wesentlich stärker zuflog als noch in jener tagebuchlosen Zeit.

Tage(sstruktur)buch

Ich liebe Routinen. Sie geben mir ein Gefühl von Sicherheit, Struktur und Orientierung in einem Studium, das Unsicherheiten und Orientierungslosigkeit produziert. Mit der Selbstverständlichkeit des morgendlichen Herrichtens des Bettes verfasse ich abends meinen Tagebucheintrag. Ohne einen Eintrag kann der Tag kein Ende nehmen. Die mentale Verknüpfung des Tagebuchschreibens mit dem alsbald darauf erfolgenden Schlaf ist für mich mittlerweile so stark, dass ich einerseits, solange noch kein Eintrag verfasst ist, eine leichte innere Unruhe, so eine produktive Restlust verspüre, andererseits nach Beenden des Eintrags schlagartig noch müder werde und nur noch äußerst selten mit Schlafstörungen zu kämpfen habe. Tagesstrukturierung meint aber auch das Schreiben als Nivellierung des Tages: ob voller Ereignisse oder Langeweile, voller Freude oder Trauer – der Tagesabschluss bleibt das immer gleiche ruhig-bedächtige Schreiben. Wir mit dem Text und der Text mit uns.

Das Tagebuch als besseres Fotoalbum – Oder: einzigartige Retrospektive

Staubige Bilder aus dem Fotoalbum der Eltern, unscharfe Schnappschüsse vom ersten klotzigen Handy: mit äußerst hoher Zuverlässigkeit, uns zu amüsieren oder zu irritieren, begegnen sie uns manchmal. Wir entdecken auf ihnen Persönlichkeitsmerkmale, Äußerlichkeiten, Leidenschaften oder andere Menschen, die sich eventuell allesamt stark verändert haben oder aus unserem Leben verschwunden sind. Ein Sprichwort meint, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Ich schrieb über das Jahr viele Einträge, die wesentlich länger als 1000 Worte sind, aber diese in einem Bild abzubilden, wäre unmöglich. In mancher Hinsicht ist das Tagebuch wohl das bessere Fotoalbum. Die einzigartige Funktion des Tagebuchs besteht also zuletzt darin, Gegenwarten in ganz eigener Weise zu konservieren. Gegenwarten, die unser Gedächtnis in normalen Selektionsprozessen äußerst schnell wieder vergisst, die uns aber – wenn konserviert – eine äußerst spannende Retrospektive auf das eigene Leben eröffnen. Stell dir einmal vor, du könntest weder lesen noch schreiben. Dieser Text wäre eine wilde Ansammlung von kryptischen Strichen und Punkten – unvorstellbar, nicht? Das Tagebuch ermöglicht uns dieses „Unvorstellbare“, wenn auch in anderer Hinsicht. In ihm können wir von Tagen lesen, an denen unsere heutigen besten Freund*innen noch fremde Kommiliton*innen oder Arbeitskolleg*innen waren. Von Tagen, an denen gebrochene noch heile Herzen waren. Manchmal sogar von Tagen, an denen verstorbene Menschen noch quicklebendig an unserer Seite weilten.

Am Ende jedes Eintrages und auch am Ende dieses Textes steht die Einsicht, dass zwar nicht alles, aber hoffentlich doch das Wichtigste notiert wurde. Nichts scheint einfacher, erträglicher, verständlicher oder schöner zu werden, nur weil ich ein Tagebuch führe, behauptete ich am Anfang. Ganz so simpel – das konnte ich hoffentlich zeigen – gestaltet sich der Blick auf das Tagebuch dann doch nicht. Vielleicht sollte mensch das Tagebuchschreiben wie eine (sehr barrierearme) Sportart betrachten. Am Ball – bzw. an Tastatur und Füllfederhalter – bleiben und kräftezehrende Durststrecken überstehen, ja, das muss mensch. Der Weg zum*r routinierten Tagebuchschreiber*in ist nicht nur steinig, sondern von allerlei Unwettern geplagt. Aber wenn ich eins gelernt habe, dann, dass es sich lohnt, ihn anzutreten. In der Hoffnung, dass ich deinen Blick auf das oft verklärte und mystifizierte Tagebuch weiten konnte, frage ich also abschließend: Was wirst du heute Abend in dein Tagebuch schreiben?

Dieser Beitrag erschien zuerst in einer längeren Version, die um einen theoretisch-analytischen Blick auf das Tagebuchschreiben ergänzt ist, in der aktuellen Ausgabe der sozusagen, dem Studierendenmagazin an der Soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld. Unter dem Titel: Ein Jahr Tagebuchschreiben. Über Funktionen, Eigenarten und Paradoxien einer vergessen Praxis. Der Redaktion der sozusagen gilt für den sehr professionellen und wertvollen Lektoratsprozess mein allergrößter Dank.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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