Katastrophe, aber bitte stabil!

Große Koalition Die Rede von politischer Stabilität ist zu einer gefährlichen Floskel verkommen, die Nichtstun rechtfertigt und Notstände zementiert. Schluss damit, liebe Konservative

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Immer schön stabil bleiben
Immer schön stabil bleiben

Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images

Der politische Wind – stark angefacht durch klimawütige junge Menschen – treibt einige grünlich-rote Hoffnungen durch die Straßen dieser Republik. Die radikalen Veränderungen – positiv wie negativ –, sie scheinen greifbar nah. Die Klimakrise als Ausgangspunkt einer progressiven politischen Zeitenwende begriffen. Oder: Den Wetterextremen des 21. Jahrhunderts auf Leid und Tod ausgesetzt. Während für viele Menschen unklar ist, wo die gesellschaftliche Reise – um nicht zu sagen: Flugreise! – hingeht, ja, wie sich all dieser Mist entwickeln wird, betonen Konservative in all dieser Ungewissheit einen bestimmten politischen Wert besonders gerne. Oder vielmehr: einen apolitischen Wert. Und zwar die Stabilität, nichts als Stabilität. Aber was bedeutet Stabilität denn? Was soll hier eigentlich stabil sein?

Als Andrea Nahles am vorletzten Sonntag von ihren SPD-Chefposten zurücktrat, da wurde es reichlich instabil. Instabilität im Sinne koalitionärer Unwägbarkeiten, ja, allgemeinen Erwartungsunsicherheiten. Wer, ja, was folgt nun? Unsicherheit bedeutete dies jedoch in erster Linie für die engste Bundespolitik selbst; eher nicht für das so oft bemühte „Land“. Was juckt der Nahles-Rücktritt eine Oma Erna im thüringischen Suhl? Ihre Alltagsorientierung hängt keineswegs unmittelbar vom aktuellen SPD-Vorsitz ab; maximal die Inhalte ihrer abendlichen Nachrichtensendung tun dies.

Der hessische Ministerpräsident Bouffier hingegen äußerte augenblicklich den Wunsch, die SPD möge sich doch bitte stabilisieren und „berechenbar“ bleiben. Die Handlungsfähigkeit der Koalition dürfe nicht beeinträchtigt werden, mahnte die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer; die Christdemokraten würden weiterhin ihren Beitrag zu einer stabilen und funktionierenden Regierungsarbeit leisten. Stabilisierungsgelüste äußerten auch Markus Söder („Keine institutionellen Krisen der Demokratie heraufbeschwören!“), Armin Laschet („Vom Gemeinwohl her ist es jetzt wichtig, dass die Regierung ihre Arbeit macht“) und Julia Klöckner („Es wird erwartet, dass wir unsere Aufgaben erfüllen und den Vertrag einhalten“). Stabilität also – im Sinne personeller und inhaltlicher Persistenz – interessiert zwar das politische Berlin, aber eben auch nur Berlin.

Eine äußerst entlarvende Anmerkung leistete sich der CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus. Der Kompromiss sei in diesen Zeiten, schmunzelte er die Presse im Konrad-Adenauer-Haus an, scheinbar nicht mehr ganz so viel wert. In der Demokratie aber sei der Kompromiss unglaublich wichtig, so der CDU-Fraktionschef. Brinkhaus wollte nicht bemerken, dass es seine Fraktion ist, seine Partei, die just in diesen Fridays-For-Future-Zeiten die Einhaltung des wichtigsten politischen Kompromisses der letzten Jahre, das Pariser Klimaabkommen, ignoriert, verhindert, ja, mit Füßen tritt. Der Kompromiss ist nichts mehr wert, richtig, aber die CDU selbst ist es, die ihn nicht mehr wertschätzt.

Politische Stabilität – der US-amerikanische Soziologe Seymour Lipset hat zur Beurteilung dieser einmal die Differenzierung in Effektivität und Legitimität eines politischen Systems geprägt. Politische Effektivität meint das Vermeiden von Skandalen und Korruption sowie eine gute Performanz der Regierenden. Für ökonomisch effektiv befänden Menschen ein politisches System, dass ihnen eine gute und funktionierende Wirtschaft hervorbringt. Die Legitimität zuletzt meint – im Gegensatz zur Effektivität – keine konkreten Leistungen der Regierenden, sondern die allgemeine Fähigkeit des Systems, die Bevölkerung sich gegenüber wohlgesonnen und loyal zu halten: als äußerst legitim gilt ein System dann, wenn es nicht bei der ersten Krise in Frage gestellt wird.

Nehmen wir diesen Stabilitätsbegriff, der konkretes Regierungshandeln und allgemeine Systemzufriedenheit zusammendenkt. Christ- und Sozialdemokraten brächten diesem Land dann nur wirkliche Stabilität, wenn sie der Neuwahl und damit der vermeintlich unsicheren Instabilität frönen. Denn Stabilität, wie sie die CDU (und leider auch die SPD) heraufbeschwört, ist für große Teile der Bevölkerung kein Heilsversprechen, sondern eine Drohung, die Pistole auf der Brust.

In Zeiten existenzieller Gefahren im Großen wie im Kleinen bedarf es keiner Regierungsstabilität, sondern radikaler Veränderung. Der Planet brennt und kaum etwas wird dagegen getan. Täglich werden Mieter*innen in Deutschland aus ihren Wohnungen geschmissen. Die Hälfte der Rentner*innen bekommt vom Staat weniger als 800 Euro. Hunderttausenden Haushalten wird jährlich der Strom abgedreht. Anderthalb Millionen sehen sich gezwungen, Angebote der Tafel in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig kapselt sich eine immer reicher werdende Parallelgesellschaft der Erben von jeglicher Verantwortung ab. Die Menschen, vor allem die Alten und Armen, ersticken in ihren Großstädten. Andere ertrinken, und das wirklich, im Mittelmeer – täglich. Und die Zufriedenheit mit der Demokratie und den Parteien? Sie wackelt immer stärker. Effektivität und Legitimität des politischen Systems, also die Stabilität, ist gefährdet. Kramp-Karrenbauer und Co. haben ja Recht. Nur sind sie Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Robert Habeck, nun grüne Stimme der unter Sechzigjährigen, betont in Interviews diese „Erosion des Vertrauens in die politische Handlungsfähigkeit“. Meint damit aber nicht, ob es morgen noch eine Große Koalition gibt und das Kanzleramt noch steht, sondern ob – welch utopische Vorstellung! – politisch Wirksames geschieht, ob der „Hunger nach demokratischem Aufbruch“ gestillt werden kann. Das können die Grünen wahrlich nicht alleine, wie Tom Strohschneider für den Freitag notierte. Selten wohl standen Umfragewerte so im Kontrast zu der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments – die kleinste Oppositionsfraktion könnte plötzlich die Kanzlerin stellen. Die Menschen – sie haben endgültig mit der GroKo abgeschlossen, wünschen sich Neuwahlen und am liebsten Grün-Rot-Rot.

Die Christdemokraten und weite Teile der SPD ähneln hingegen in ihrem Stabilitätswahn, in ihrer zwanghaften Verehrung der „süßen Droge Arbeit“ in der Koalition (Nils Minkmar), ja, ihrem so naiven Willen, verdammt nochmal. Weiter. Zu. Machen. Mit. Was. Auch. Immer! In all dem ähneln die Großkoalitionäre einem senilen Rentner, der in einiger Kühnheit behauptet, den Toilettengang und Wochenendeinkauf noch alleine erledigen zu können, obwohl ihm dank Diabetes und Übergewicht vor einiger Zeit bereits beide Beine amputiert wurden.

Nur radikale Veränderung kann in Zeiten existenzieller Bedrohungen langfristige Stabilität – im Sinne guter Lebensbedingungen – bedeuten. Begreift die Bundesregierung das nicht schnell, wird es nur eine einzig sichere Stabilität geben: die stabil nach unten rasenden Umfragewerte der ehemaligen Volksparteien.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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