Der politische Wind – stark angefacht durch klimawütige junge Menschen – treibt einige grünlich-rote Hoffnungen durch die Straßen dieser Republik. Die radikalen Veränderungen – positiv wie negativ –, sie scheinen greifbar nah. Die Klimakrise als Ausgangspunkt einer progressiven politischen Zeitenwende begriffen. Oder: Den Wetterextremen des 21. Jahrhunderts auf Leid und Tod ausgesetzt. Während für viele Menschen unklar ist, wo die gesellschaftliche Reise – um nicht zu sagen: Flugreise! – hingeht, ja, wie sich all dieser Mist entwickeln wird, betonen Konservative in all dieser Ungewissheit einen bestimmten politischen Wert besonders gerne. Oder vielmehr: einen apolitischen Wert. Und zwar die Stabilität, nichts als Stabilität. Aber was bedeutet Stabilität denn? Was soll hier eigentlich stabil sein?
Als Andrea Nahles am vorletzten Sonntag von ihren SPD-Chefposten zurücktrat, da wurde es reichlich instabil. Instabilität im Sinne koalitionärer Unwägbarkeiten, ja, allgemeinen Erwartungsunsicherheiten. Wer, ja, was folgt nun? Unsicherheit bedeutete dies jedoch in erster Linie für die engste Bundespolitik selbst; eher nicht für das so oft bemühte „Land“. Was juckt der Nahles-Rücktritt eine Oma Erna im thüringischen Suhl? Ihre Alltagsorientierung hängt keineswegs unmittelbar vom aktuellen SPD-Vorsitz ab; maximal die Inhalte ihrer abendlichen Nachrichtensendung tun dies.
Der hessische Ministerpräsident Bouffier hingegen äußerte augenblicklich den Wunsch, die SPD möge sich doch bitte stabilisieren und „berechenbar“ bleiben. Die Handlungsfähigkeit der Koalition dürfe nicht beeinträchtigt werden, mahnte die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer; die Christdemokraten würden weiterhin ihren Beitrag zu einer stabilen und funktionierenden Regierungsarbeit leisten. Stabilisierungsgelüste äußerten auch Markus Söder („Keine institutionellen Krisen der Demokratie heraufbeschwören!“), Armin Laschet („Vom Gemeinwohl her ist es jetzt wichtig, dass die Regierung ihre Arbeit macht“) und Julia Klöckner („Es wird erwartet, dass wir unsere Aufgaben erfüllen und den Vertrag einhalten“). Stabilität also – im Sinne personeller und inhaltlicher Persistenz – interessiert zwar das politische Berlin, aber eben auch nur Berlin.
Eine äußerst entlarvende Anmerkung leistete sich der CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus. Der Kompromiss sei in diesen Zeiten, schmunzelte er die Presse im Konrad-Adenauer-Haus an, scheinbar nicht mehr ganz so viel wert. In der Demokratie aber sei der Kompromiss unglaublich wichtig, so der CDU-Fraktionschef. Brinkhaus wollte nicht bemerken, dass es seine Fraktion ist, seine Partei, die just in diesen Fridays-For-Future-Zeiten die Einhaltung des wichtigsten politischen Kompromisses der letzten Jahre, das Pariser Klimaabkommen, ignoriert, verhindert, ja, mit Füßen tritt. Der Kompromiss ist nichts mehr wert, richtig, aber die CDU selbst ist es, die ihn nicht mehr wertschätzt.
Politische Stabilität – der US-amerikanische Soziologe Seymour Lipset hat zur Beurteilung dieser einmal die Differenzierung in Effektivität und Legitimität eines politischen Systems geprägt. Politische Effektivität meint das Vermeiden von Skandalen und Korruption sowie eine gute Performanz der Regierenden. Für ökonomisch effektiv befänden Menschen ein politisches System, dass ihnen eine gute und funktionierende Wirtschaft hervorbringt. Die Legitimität zuletzt meint – im Gegensatz zur Effektivität – keine konkreten Leistungen der Regierenden, sondern die allgemeine Fähigkeit des Systems, die Bevölkerung sich gegenüber wohlgesonnen und loyal zu halten: als äußerst legitim gilt ein System dann, wenn es nicht bei der ersten Krise in Frage gestellt wird.
Nehmen wir diesen Stabilitätsbegriff, der konkretes Regierungshandeln und allgemeine Systemzufriedenheit zusammendenkt. Christ- und Sozialdemokraten brächten diesem Land dann nur wirkliche Stabilität, wenn sie der Neuwahl und damit der vermeintlich unsicheren Instabilität frönen. Denn Stabilität, wie sie die CDU (und leider auch die SPD) heraufbeschwört, ist für große Teile der Bevölkerung kein Heilsversprechen, sondern eine Drohung, die Pistole auf der Brust.
In Zeiten existenzieller Gefahren im Großen wie im Kleinen bedarf es keiner Regierungsstabilität, sondern radikaler Veränderung. Der Planet brennt und kaum etwas wird dagegen getan. Täglich werden Mieter*innen in Deutschland aus ihren Wohnungen geschmissen. Die Hälfte der Rentner*innen bekommt vom Staat weniger als 800 Euro. Hunderttausenden Haushalten wird jährlich der Strom abgedreht. Anderthalb Millionen sehen sich gezwungen, Angebote der Tafel in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig kapselt sich eine immer reicher werdende Parallelgesellschaft der Erben von jeglicher Verantwortung ab. Die Menschen, vor allem die Alten und Armen, ersticken in ihren Großstädten. Andere ertrinken, und das wirklich, im Mittelmeer – täglich. Und die Zufriedenheit mit der Demokratie und den Parteien? Sie wackelt immer stärker. Effektivität und Legitimität des politischen Systems, also die Stabilität, ist gefährdet. Kramp-Karrenbauer und Co. haben ja Recht. Nur sind sie Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.
Robert Habeck, nun grüne Stimme der unter Sechzigjährigen, betont in Interviews diese „Erosion des Vertrauens in die politische Handlungsfähigkeit“. Meint damit aber nicht, ob es morgen noch eine Große Koalition gibt und das Kanzleramt noch steht, sondern ob – welch utopische Vorstellung! – politisch Wirksames geschieht, ob der „Hunger nach demokratischem Aufbruch“ gestillt werden kann. Das können die Grünen wahrlich nicht alleine, wie Tom Strohschneider für den Freitag notierte. Selten wohl standen Umfragewerte so im Kontrast zu der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments – die kleinste Oppositionsfraktion könnte plötzlich die Kanzlerin stellen. Die Menschen – sie haben endgültig mit der GroKo abgeschlossen, wünschen sich Neuwahlen und am liebsten Grün-Rot-Rot.
Die Christdemokraten und weite Teile der SPD ähneln hingegen in ihrem Stabilitätswahn, in ihrer zwanghaften Verehrung der „süßen Droge Arbeit“ in der Koalition (Nils Minkmar), ja, ihrem so naiven Willen, verdammt nochmal. Weiter. Zu. Machen. Mit. Was. Auch. Immer! In all dem ähneln die Großkoalitionäre einem senilen Rentner, der in einiger Kühnheit behauptet, den Toilettengang und Wochenendeinkauf noch alleine erledigen zu können, obwohl ihm dank Diabetes und Übergewicht vor einiger Zeit bereits beide Beine amputiert wurden.
Nur radikale Veränderung kann in Zeiten existenzieller Bedrohungen langfristige Stabilität – im Sinne guter Lebensbedingungen – bedeuten. Begreift die Bundesregierung das nicht schnell, wird es nur eine einzig sichere Stabilität geben: die stabil nach unten rasenden Umfragewerte der ehemaligen Volksparteien.
Kommentare 7
>>Mich amüsiert immer wieder, dass die Partei, die die heute 60jährigen seinerzeit wegen Umweltbelangen gegründet haben und die zwischendurch mal stramm staatragend mit Schröder war, heute als jungfräuliche Hoffnung gepriesen wird, ... <<
Erinnert ein bisserl an den Schulzhype.
<<Die Menschen – sie haben endgültig mit der GroKo abgeschlossen, wünschen sich Neuwahlen und am liebsten Grün-Rot-Rot.>>
Woher weiß der Herr Soziologiestudent, dass "die Menschen" das so wünschen? Hat er dazu eine empirische Studie durchgeführt?
Woher weiß er, dass über die Hälfte aller Rentner weniger als 800 Euro im Monat bekommen? Weiß er denn nicht, wie viele "Kleinrentner" noch andere Einnahmequellen haben, wie z.B. Einkommen oder Rente des besser verdienenden Lebenspartners, eigene Firmen- oder Privatrente, eigenes Vermögen, Erbschaften,...? Wenn es um die Masse der Rentner in Deutschland so schlecht bestellt wäre, wäre die Groko längst verjagt worden. Die Groko hat ja selbst nach den neuesten Umfragen bei den Rentnern noch eine Mehrheit.
<<Denn Stabilität, wie sie die CDU (und leider auch die SPD) heraufbeschwört, ist für große Teile der Bevölkerung kein Heilsversprechen, sondern eine Drohung, die Pistole auf der Brust.>>
Woher weiß er, dass das für große Teile der Bevölkerung gilt? Haben Sie eine empirische Studie dazu durchgeführt?
Woher weiß er, dass alle Grünen Wähler sich Grün-Rot-Rot wünschen? Man kann davon ausgehen, dass die Wähler, die von CDU, CSU und FDP zu den Grünen wandern würden, dies tun, weil sie die AfD für grundsätzlich nicht wählbar, die Union und die FDP für im Klimaschutz unbelehrbar und insgesamt für wenig vertrauenswürdig halten, aber nicht, um sich dann gleich wieder mit den Loosern von der SPD und den "Radikalinskis" von den Linken zusammenzutun. Für diese Menschen sind die Grünen vermutlich derzeit die "bessere CDU".
Wobei immer noch unklar ist, ob dabei überhaupt eine rechnerische Mehrheit zustande käme. Schließlich sind kurzfristige Umfragetrends keine Wahlergebnisse.
Woher weiß er, dass sich die meisten SPD Anhänger Grün-Rot-Rot wünschen? Die träumen doch zur einen Hälfte vom Fortbestand der Groko und zur anderen Hälfte von Rot-Grün-ganzRot.
Woher weiß er, dass sich die meisten Linken Grün-Rot-Rot wünschen? Die eine Hälfte der Linken würde gar nicht mitregieren wollen, wenn nicht das Linke Parteiprogramm eins zu eins übernommen wird. Die andere Hälfte träumt von ganzRot-Rot-Grün.
Also sei er bei seinen Verallgemeinerungen nicht so vollmundig und glaube nur seinen eigenen, nach den Kriterien seinerWissenschaft durchgeführten empirischen Studien!
Selbst wenn er Recht hätte, dass nur radikale Änderungen uns noch retten, so kann er nicht belegen, dass bereits eine Mehrheit der Deutschen sich nach diesen radikalen Änderungen sehnt und nur für eine Minderheit Stabilität noch ein lohnendes politisches Ziel ist.
Um es mit den Worten seiner eigenen Selbstbeschreibung auszudrücken: "Become a sociologist", nicht ein politischer Wahrsager!
Ich ignoriere mal den despektierlichen Ton und nehme ernst, was Sie schreiben.
Die Zahlen zu GroKo, Neuwahlen und Grün-Rot-Rot sind der hinterlegten Quelle zu entnehmen. Wozu verlinke ich das?
Die Schlussfolgerung, die Menschen hätten endgültig mit der Groko abgeschlossen, ist ein Kondensat aus den Wahlergebnissen CDU/CSU+SPD (44,7%) und der Tatsache, dass es zwar keine Mehrheit ist, die den Wunsch nach GR2 äußert, aber doch die größte Gruppe. Eine Zuspitzung, klar.
Zur Rente zitieren Sie mich falsch. Ich schrieb: "Die Hälfte der Rentner*innen bekommt vom Staat weniger als 800 Euro." Vom Staat! Natürlich gibt es da noch andere Einnahmen. Aber glauben Sie wirklich, dass die von Ihnen angepriesenen Geldquellen allen 8,6 Millionen betroffenen Rentner*innen zur Verfügung stehen?
Und: Klar gibt es jenseits der 60+ noch komfortable Wahlergebnisse für die GroKo, aber CDU/CSU und SPD verlieren auch bei den Rentner*innen in allen Altersgruppen.
Und zu Ihrer Aufschlüsselung der einzelnen Parteien - auch da werden Sie im WELT-Artikel fündig - Überraschung! So wollen 56% der SPD-Anhänger*innen ein Ende der GroKo, während nur jede*r Vierte dagegen ist.
Ich habe versucht, einen tagesaktuellen Trend nachzuzeichnen, der eine zunehmende Spaltung zwischen einer stoisch die Regierungsstabilität betonenden politischen Elite und einer immer stärker – teils diffus, teils konkret – nach Veränderung dürstenden Wähler*innenschaft umfasst.
Mein Text ist wahrlich keine Soziologie – wollte er nie sein. Ob in dem, was ich beschreibe, ein Stück – oder gar mehrere Stücken – Wahrheit drinsteckt, das müssen andere beurteilen.
"Die Legitimität zuletzt meint – im Gegensatz zur Effektivität – keine konkreten Leistungen der Regierenden, sondern die allgemeine Fähigkeit des Systems, die Bevölkerung sich gegenüber wohlgesonnen und loyal zu halten"
Das ist Regimelogik, die mit einer Republik, die keine Bevölkerung (ein Katastrophenschutzbegriff), sondern nur Staatsbürger kennt, nichts zu tun hat.
Einen solchen Legitimitätsbegriff finden Sie im Estado Novo, nicht bei der liberal-konservativ-parlamentarischen CDU.
Dass die Deutschen allerdings als Bürger verkleidete Untertanen sind, die eine Republik eher bewohnen denn souverän in ihr leben, steht auf einem anderen Blatt.
Ausgezeichnet geschrieben, herzlichen Dank!
Die "grünlich-rötlichen" Hoffnungen trügen, da sollen sich die FfF Aktivisten keinen Illusionen hingeben. Solange die Gesetzgebung in diesem Land und der EU bei der "Wirtschaft" liegt (Diktatur der Bourgeoisie) solange brauchen wir auf eine umweltgerechte und soziale Politik nicht warten.
Auf einem endlichen Planeten kann es kein unendliches Wirtschaftswachstum geben ! Das war den "Grünlichen" in den 1980er Jahren schon mal klar. Kipping will wie Habeck eine Wohlfühloase für ihr urbanes Hipstermillieu und die SPD ....... ?
Solange man den Herren der Welt (manche sind auch weiblich) nicht wehtuen will, solange ist eine soziale und (um)weltgerecht Transformation nicht möglich). R2G Spielereien mit Wahlarithmetik bringen da wenig, oder um es mit Tucholski zu sagen: Sie denken sie wären an der Macht, dabei sind sie nur an der Regierung.
Danke für den Beitrag......