Man hat euch gewarnt

Kanzlerkandidatur Schulz statt Gabriel. Aus dieser Entscheidung machen viele ein Aufbruchssignal für die Sozialdemokratie. Tatsächlich zeigt es die fatale politische Mutlosigkeit der SPD

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Martin Schulz wird Kanzlerkandidat der SPD - oder um es ins US-Amerikanische zu übersetzen: In den Hinterzimmervorwahlen der SPD entschied man sich zwischen Hillary Clinton und Hillary Clinton für ... Na? Genau, Hillary Clinton. Gratulation! Ein Bernie Sanders stand nie zur Wahl bzw. zur Debatte. Also rein mental. Faktisch schon. Natürlich hätte man einen Marco Bülow oder einen Christopher Lauer einfach mal auf die politische Bühne werfen können. Ist ja nicht so, dass die SPD nicht wüsste, wie man politische Kampagnen führt und Personen gut inszeniert und bekannt macht. Aber mit solch einem Move hätte man sich ja tatsächlich mal was getraut, wirklich die Menschen und Medien überrascht und wäre ernsthaft mit der eigenen politischen Leistung der vergangenen Jahre ins Gericht gegangen.

Nun finden alle den Herrn Schulz ganz toll, wie er so spricht, dann seine Brille und der Bart und diese entzückende Story, dass er damals zwar keine Zulassung zum Abitur bekommen, es aber doch bis zum EU-Parlamentspräsidenten gebracht hat - eine deutsche vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte.

Man hat das Gefühl, die Journalisten in den großen redaktionellen Medien sind selbst ganz überrascht, dass mal was auch nur ansatzweise Ungewöhnliches in der politischen Landschaft passiert ist. Tina Hassel, Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, ist sichtlich erregt. Endlich gibt es mal nicht nur kleine Reibereien im politisch-personellen Pferderennenjournalismus zu berichten. Nein - das eine Pferd springt diesmal einfach aus der Bahn und macht Platz für ein Neues. Verrückte Welt! Aber man muss diese Menschen, also die Journalisten, verstehen: wer für die Frage nach der Kanzlerkandidatur schon ein eigenes Wort - die K-Frage - erfindet, der muss auch wahnsinnig aufgeregt sein, wenn es endlich die Antwort gibt. Inhaltliche Fragen werden da zum elenden Balast journalistischer Arbeit. Ein wenig wie kleine Kinder bei McDonalds - sie bestellen zwar das HappyMeal, beschäftigen sich dann aber eher halbherzig mit der Nahrungsaufnahme. Die Faszination gilt dem Spielzeug. Und so schafft es sowohl eine Tina Hassel als auch ein Roland Nelles vom SPIEGEL jeweils zwei Minuten zu reden ohne auch nur eine einzige politisch-inhaltliche Frage zu klären. Hassel findet sich unglaublich geil, weil sie irgendwelche top secret Hintergrundgespräche mit SPDlern führen durfte und Nelles verschwinden vor Revitalisierung fast die Augenringe, wenn er von Kanzler Gabriel im Jahre 2021 träumt. Journalismus 2017. Übrigens der gleiche Journalismus, der sich nach der Bundestagswahl wieder beschweren wird, dass die "wirklich wichtigen" Themen bei der Wahlentscheidung mal wieder keine Rolle gespielt haben. Ja, so ein Mist aber auch, Frau Hassel.

Für Ralf Stegner, Parteivize und sozialdemokratische Dauernervensäge aller Talkshows und Presseanfragen der SPD, zeigt die Entscheidung Gabriels, dass es in der Partei nicht langweilig zugeht. Für mich zeigt die Entscheidung Gabriels, dass es mut- und visionslos in der SPD zugeht. Hillary Clintons Wahlkampf, den Stegner übrigens an US-amerikanischen Haustüren unterstützte, war auch nicht zwingend langweilig. Er war halt grottig, schlecht - oder um es despektierlich zu sagen: scheiße.

Ein Prozent - mehr wird es nicht ausmachen, ob es nun Gabriel oder Schulz ist. Dann habt ihr halt 19 statt 18 Prozent am 24. September. Schon mal Glückwünsch im Voraus, ihr Sozialdemokraten.

Ihr könnt ja mal die US-Wähler fragen, wie verdammt enthusiasmiert sie nach den - im Übrigen nicht ganz fair abgelaufenen - Vorwahlen zwischen Bernie Sanders und Hillary Clinton waren. Schaut ins Weiße Haus. Da habt ihr eure Antwort.

Es geht hier nicht um Schuldzuweisungen oder Hass. Es ist pures Mitleid, liebe Sozialdemokraten. Aber auch ein wenig aufrichtiges Bedauern. Schließlich fahrt ihr gerade eine historische Bewegung an die Wand, der heutzutage - genauso wie den sozialistischen und ökologischen Gruppierungen - eine entscheidende Rolle im Zurückdrängen nationalistischer Parteien und Bewegungen zukommt. Es liegt auf der Hand, was ihr jetzt machen müsstet, um doch noch +25 Prozent zu erreichen. Es liegt aber auch auf der Hand, was ihr nicht tun werdet - eben jenes.

Zunächst: Mehr von Christopher Lauer, mehr von Marco Bülow. Ihr werdet euch wundern, wie gut die ankommen. Achja: und weniger Ralf Stegner! Und Martin Schulz muss einmal über die österreichische Grenze und dann über die Schulter von SPÖ-Kanzler Christian Kern schauen. Der machte Anfang des Jahres in einer beeindruckenden Demut vor, wie die Herstellung von Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie angegangen werden kann. In der durch brachiale SPÖ-Niederlagen gekennzeichneten 60.000-Einwohner-Stadt Wels sagte er Folgendes in den gruselig stillen aber doch prall gefüllten Saal:

"Ich möchte heute hier auch ganz bewusst eine Botschaft an jene senden, die sich von uns abgewendet haben. Jene, die nicht mehr an uns glauben. Jene, die von uns enttäuscht sind. Jene, die vielleicht sogar zornig sind: Ich höre eure Botschaft und ja, ich verstehe eure Enttäuschung. Nicht ihr habt unseren Weg verlassen. Wir haben unseren Weg verlassen. Es ist nicht eure Schuld, es ist unsere.

Und deshalb möchte ich mir hier an dieser Stelle, als Parteivorsitzender dieser stolzen Partei, verantwortlich für die Zukunft aber auch für die Vergangenheit, für die guten und die weniger guten Entwicklungen; deshalb möchte ich mir hier an dieser Stelle für diese Enttäuschungen entschuldigen."

Diese Sätze wird weder ein Sigmar Gabriel noch ein Martin Schulz je sagen. Und das ist ihr Recht - keine Frage. Aber ihr sollt wissen: Wenn ihr am Abend des 24. September, wenn ihr dann um 18 Uhr eure nach oben schnellenden Balken ungewöhnlich früh stoppen seht, denkt an eins: Man hat euch gewarnt.

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Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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