Mehr Spaltung wagen

Sozialdemokratie Ein Harmoniebedürfnis ist kein guter Ratgeber für das neue SPD-Duo. Denn Parteikonservative, die nun Einigkeit und Zusammenhalt fordern, meinen damit meist Unterwerfung

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Zu taktvoll und demütig darf das neue Spitzenduo nicht in die „Neue Zeit“ aufbrechen
Zu taktvoll und demütig darf das neue Spitzenduo nicht in die „Neue Zeit“ aufbrechen

Foto: Odd Andersen/AFP via Getty Image

Das Willy-Brandt-Haus am letzten Novemberabend. Mittendrin eine beispielhafte Text-Bild-Schere, die für mehr stehen sollte als die Verkörperung eines Schocks des sozialdemokratischen Partei-Establishments: Ein versteinert drein guckender Olaf Scholz verspricht dem neuen designierten SPD-Duo seine volle Unterstützung. Nun heiße es: Versammeln hinter der neuen Parteiführung und die SPD gemeinsam wieder stark machen. Der Hashtag #unsereSPD schmückte bereits die letzten Wochen des gesamten basisdemokratischen Parteiabenteuers. Am Tag der Ergebnisverkündung lädt die Parteizentrale zusätzlich ein Video auf YouTube hoch. Der Titel: „Gemeinsam und geschlossen“. Darin zu sehen: viele Parteigrößen wie Klingbeil, Kühnert, Mützenich, Giffey und Dreyer, die allesamt betonen, man habe ja ein gemeinsames Ziel, eine starke SPD.

Dieser Samstagabend im Willy-Brandt-Haus, so geschichtsträchtig er auch anmutete, war neben diesen Einigkeitsfantasien paradoxerweise im Kern von politischen Inhalten befreit. Nicht einmal das siegreiche Duo vermochte es, ihren Erfolg in irgendeiner Weise inhaltlich zu stabilisieren. Von der politischen Eskalation, die die Jusos zumindest in die Wortschöpfung der #Eskabolation eingestanzt hatten, verblieben überwiegend wolkige Worte des Zusammenhalts. Es handele sich nicht um „eine Frage von Sieg oder Niederlage“, verkündete selbst der demütige Walter-Borjans in einem Moment, der doch wie kein anderer innerparteilicher, demokratischer Prozesses endlich mal klare Sieger und Verlierer benannt hatte.

Lediglich als Walter-Borjans das Credo seines Weggefährten Johannes Rau zitiert, lässt sich ansatzweise erahnen, dass hier gerade keine kühle Management-Entscheidung eines mittelständischen Unternehmens verkündet wurde, sondern eine europaweit womöglich richtungsentscheidende Wahl. Die SPD, so Johannes Rau einst, sei die Partei für jene, die Solidarität brauchen. Punkt. Worte, die im Munde einer frisch gewählten Parteiführung natürlich bedeuten: Diese Partei der Solidaritätsbedürftigen war die SPD bisher nicht.

Man mag sie ja verstehen, all die Dankesworte und verbalen Blumensträuße, die an solchen Abenden herumgereicht werden. Taktvolles Verhalten disqualifiziert schließlich kein politisches Personal – es ist eine notwendige Voraussetzung (vielleicht nicht mal das), aber keine hinreichende, eine Partei „in die neue Zeit“ zu führen, wie es das Motto des Dezember-Parteitags nun verkündete. Denn: Takt ersetzt keine Politik. Und in dem Übermaß seiner Anwendung verkennt das taktvolle Verhalten manch Resignation und Wut jener Parteimitglieder, die die nun so demütig und vorsichtig agierenden Walter-Borjans und Esken überhaupt erst an die Parteispitze gehievt haben. Sie vollziehen damit eine auf vielen Ebenen zu beobachtende sozialdemokratische, aber konservativ verzerrte Einigkeitsdynamik, die weder der Partei noch ihrer neuen Führung gute Dienste erwiesen hat und erweisen wird.

Denn: Wer innerparteiliche Kämpfe nicht klar benennen möchte oder gar leugnet, will die eigenen Positionen als hegemonial verstanden wissen. Wer Einigkeit fordert, meint meist Unterwerfung. Wer Geschlossenheit behauptet, genauso. Darin liegt die subtile Stärke von Sätzen wie: „Wir haben immer gesagt, wir müssen ja nicht gegeneinander antreten, wenn es nicht auch unterschiedliche Sichtweisen gäbe.“ Sie erkennen an: Wir sind anders und das ist gut so. Gleichzeitig verirrt sich auch Walter-Borjans, von dem der Satz stammt, in Plattitüden wie: "Nur Einigkeit macht stark", als wäre eine Partei, die einem Vorsitzenden wie Olaf Scholz bedingungslos huldigt automatisch erfolgreich.

Wenn SPD-Bundestagsabgeordnete nach der Wahl von Esken und Walter-Borjans nun angeblich schon „auf gepackten Koffern“ sitzen, zeigt das doch nur: Sie wollten nie sozialdemokratischen Zusammenhalt, sondern einseitige Solidarität. Solidarität zwar sich gegenüber, wo sie sich hilflos innerparteilicher, inhaltlicher Kritik ausgesetzt sehen. Wenig Solidarität hingegen da, wo Jungsozialist*innen wie Kevin Kühnert wegen manch legitimer politischer Fantasie (Kollektivierung von BMW) wochenlang durch den Dreck gezogen werden.

Und auch in der wiederkehrenden Kritik an einer vermeintlichen „Selbstbeschäftigung“ der Partei steckt im Kern die Forderung nach innerparteilicher Hörigkeit. Politische Binnenpluralität wird dann umgedeutet als politische Beliebigkeit: Wer die hegemonialen SPD-Linien durch widersprechende Standpunkte herausfordert, werden dann niedere Motive wie Karrierismus, Rachegelüste oder Opportunismus unterstellt. Der Antrieb wird nie als inhaltlich motiviert betrachtet – Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Bürger*innenversicherung –, schließlich gelten die hegemonialen Positionen als unantastbar. Selbst die vielfach zu lesende Deutung, das Mitgliedervotum sei ein Aufstand gegen das Parteiestablishment, unterminiert die Legitimität des Basisvotums, indem sie es mehr als Ergebnis lediglich strukturell bedingter Antipathie der Basis gegenüber der Parteiführung deutet, jedoch weniger als inhaltlich fundierte, weil policy-orientierte Botschaft.

Der rechte Parteiflügel hat qua Mitgliedschaft in der SPD und unzähliger Bundestagswahlen zwar genug Erfahrung mit Wahlniederlagen, aber die innerparteiliche Niederlage gegen die linken Parteikolleg*innen – die war eben doch eher die Ausnahme in den letzten Jahren. Die SPD-Konservativen erleben insofern vielleicht gerade – wie Sascha Lobo es in seinem neuen Buch für bestimmte Aspekte westlicher Industrienationen beschreibt – ihren ganz persönlichen Realitätsschock, der da lautet: Unsere Partei ist ja ganz anders als gedacht! Und obwohl diese Realitätsgeschockten wesentliche Parteistrukturen und beängstigend große Teile der Bundestagsfraktion dominieren, müssen sie nun akzeptieren, dass der von ihnen lange vereitelte Punktsieg der Parteilinken ausgerechnet beim Griff nach dem Parteivorsitz nicht mehr zu verhindern ist. Der größte anzunehmende Demokratieunfall für den Seeheimer Kreis.

Der Journalist Frank Lübberding kritisierte in der FAZ zuletzt den Auftritt des neuen SPD-Duos in der Talksendung Anne Will mit dem Hinweis, es sei

„in keiner Sekunde davon die Rede, was die Wähler denken könnten. Für Frau Esken und Walter-Borjans ging es ausschließlich um die sozialdemokratische Binnenperspektive. Der politische Gegner war in der eigenen Partei zu finden.“

Nun muss man die Katja Kippings, Annalena Baerbocks und Paul Ziemiaks dieser Welt wahrlich nicht sympathisch finden; dass aber andere Parteien der SPD wesentlich mehr geschadet haben als ein Olaf Scholz, Sigmar Gabriel oder Gerhard Schröder ist mindestens eine mutige Behauptung. Und die Idee, ein neoliberaler Parteisoldat des SPD-Establishments könne mit der gewohnten, jahrelang verabreichten Polit-Medizin die Partei auf magische Weise wieder heilen und zu alter Stärke zurückführen, lässt sich guten Gewissens als realitätsferner und feindlicher innerparteilicher Akt verstehen. Mit Olaf Scholz bewarb sich ein Totengräber der Sozialdemokratie, die letzte Ruhestätte der Partei noch etwas tiefer buddeln zu dürfen. Lübberding, der zwar die „sozialdemokratische Binnenperspektive“ von Esken und Walter-Borjans einerseits als parteischädigend wertet, andererseits in ihrem Ausmaß überschätzt, trifft mit seiner Analyse insofern doch einen Kern, ohne diesen treffen zu wollen: Der politische Gegner der SPD ist natürlich auch und in diesen Zeiten zuvorderst in ihr selbst zu finden.

Niemand kann wissen, ob das unverhofft siegreiche SPD-Duo den Dynamiken des Berliner Machtapparats gewachsen ist oder es wirklich vermag, wieder mehr Herzen in dieser Bundesrepublik sozialdemokratisch schlagen zu lassen. Selbstverständlich, welch Binse, kann eine Partei wegen radikaler Ideen an Zustimmung verlieren, ja, sogar gänzlich untergehen. Wann aber, das lässt sich mit Blick auf die letzten Jahrzehnte fragen, hat die SPD denn je wirklich mal versucht, solch radikale Positionen authentisch zu vertreten und durchzusetzen? Eben. Folglich erscheint der umgekehrte Schluss für die nächsten Monate der SPD wesentlich lehrreicher: Eine Partei kann sich auch totkuscheln.

Mehr Spaltung zu wagen, heißt also, wieder mutig und auch mal ohne Rücksicht auf manch publizistische und konservative Befindlichkeit Politik zu machen. Vollbringen Esken und Walter-Borjans so das Wunder, die SPD auch mittels manch legitimen, linken Populismus auf 30% zu schleudern, werden sich auch die Seeheimer alsbald zähneknirschend einreihen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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