Was machst'n damit später?

Reizüberflutung Neue Menschen, neue Stadt, neue Anforderungen, neuer Lebensabschnitt. Eindrücke eines 20-Jährigen, den es aus Meck-Pomm nach Bielefeld zog, um Soziologie zu studieren

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Was machst'n damit später?

Bild: Kalahari/Pixabay (CC0)

"Erstis sind Freunde, kein Futter.“ prangt da lieblos an einer Tür der Soziologie-Fachschaft der Universität Bielefeld. Ersti? Das bin ich! Und etwa 2900 andere Kommilitoninnen und Kommilitonen. 2900 junge Menschen – von den wenigen, die in Geschichtsseminaren als Zeitzeugen der Adenauer-Ära durchgehen, mal abgesehen – starten in ihren wohl spannendsten und bildungsreichsten Lebensabschnitt, das Studium. Die ersten drei Wochen habe ich nun hinter mir. Drei Wochen, in denen das Suchen eines Hörsaals oder Seminarraums eher einem heuristischen „Trial-And-Error“-Umherirren als einem gezielten Suchen der Lokalität glich. Verwirrte Erstis sind – insbesondere in den ersten Tagen und Wochen – für die erfahrenen Studierenden sowas wie Touristen in den Kleinstgassen einer Großstadt. Man sieht uns unsere Hilflosigkeit zwar an, schwankt aber noch zwischen Schadenfreude und jovialer Hilfsbereitschaft. Google Maps führt mich zwar problemlos von der Universität über den Jahnplatz (Ummeldung in der Bürgerberatung – Check! Gern geschehen, liebes NRW) bis zur Sparrenburg, aber nicht von Hörsaal X-E01-001 zu C6-142. Schande, würde der Game-Of-Thrones-Gucker schreien! BWLer der Welt – oder zumindest Bielefelds – stürzet euch auf diese Marktlücke!

Je nachdem was man studiert, blühen einem unterschiedliche Einführungstage. Meine Mitbewohnerin – Grundschullehramt mit integrierter Sonderpädagogik – hatte einen, nun ja, wenig motivierenden Studienbeginn. Der Grund: Vorkurse – viele Vorkurse! Und nicht irgendwelche Vorkurse, nein, Mathe-Vorkurse. Offiziell sind die freiwillig, aber ist man nicht grade mit gaußschen Fähigkeiten ausgestattet, sollte man da besser auftauchen.

Vorkurse gab es für mich nicht – puh! Die soziologische Fakultät beschränkte sich auf eine Ersti-Woche – die „Projektwoche“ des Studierenden – geplant und durchgeführt von der Sowi/Powi-Fachschaft und der Fachschaft für Soziologie. SowiePowas, mögen Sie jetzt auf ihr Zeitungspapier oder ihren Bildschirm schreien und dabei ihren Lebenspartner im Nebenraum erschrecken. Sozial- und Politikwissenschaften! Keine Sorge, mit StuPa, StruKo und AStA werde ich Sie verschonen. Ersti-Wochen bedeuten viel – leider nützliches – Beratungstralala, wobei die Fachschaften besonders darauf achten, dass durch abendliche Saufgelage davon möglichst wenig in Erinnerung bleibt. Unter anderem lernt man, dass Soziologie-Studenten mindestens 300 Seiten die Woche zu lesen hätten, dass nicht man selber, sondern die Freunde einem den Arsch – pardon, das Studium - retten werden und dass ein Lernraum nun keine vier Wände mehr hat, sondern einen Ort im digitalen Orbit bezeichnet, in dem Dozierende ihre Texte und Powerpoint-Folien hochladen.

Zu meiner Person: Am 30. September überschritt mein Körper die Grenzen jener Stadt, die – allen Unkenrufen meiner Freunde zum Trotz – doch zu existieren scheint. Eine Stadt, die ich nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Eine Stadt, in der ich niemanden kannte. Ich lebte 18 Jahre in einem kleinen Dorf im Herzen von Mecklenburg-Vorpommern. Ja, genau – jenes Bundesland im AfD-Osten, denken Sie es ruhig. Und ein Jahr in Schwerin, im Nordosten semi-liebevoll Landeshauptdorf genannt. Meine Mutter ist Apothekenhelferin, mein Vater Paketbote. Beide in der DDR sozialisiert. Lieb, fleißig, konservativ. In der Statistik fiele unser Haushalt wohl im besten Fall unter „Nicht-Akademiker“, im schlechtesten unter „bildungsfern“. Für meine Eltern lebe ich jetzt praktisch im Ausland. Dem Schleppen der Umzugskartons in das neue Zimmer im Studierendenwohnheim gingen fünfeinhalb Stunden Autofahrt voraus. Meine Mutter vergoss Tränen beim Abschied – ich bin das letzte Kind, das das Haus verlässt.

Während ich diesen Text schreibe, dröhnt Musik in türkischer Sprache – in einer Lautstärke, die mich fragen lässt, ob das angesichts der vielen arbeitenden Studierenden erlaubt ist – auf mein Trommelfell. Den einzigen Sitzplatz zum Arbeiten, den ich in der zentralen Uni-Halle noch finden konnte, befindet sich etwa 15 Meter entfernt vom Stand der Hochschulgruppe „KulTürk“. Der Duft von süßen Waffeln umschweift meine Nase. Trotz des freundlichen Lächelns der jungen Frauen mit Kopftuch und der dann doch irgendwie melodischen Musik verzichte ich. Es sind Waffeln mit autokratischen Grüßen eines Recep Tayyip Erdoğan. Wenn sie nicht gerade Süßes verkaufen, hofiert KulTürk gerne fragwürdige rechte Autoren, soll armenischen Studierenden gedroht haben, als die einem Genozid gedachten, und lässt all dies vom türkischen Staat finanzieren. Da schlürfe ich lieber meinen Kaffee und schmeiße den Pfandbon bei Rückgabe der Tasse in eine Box von Amnesty International – mein „Pfandbon für die Menschenrechte“.

Reizüberflutung auf allen Ebenen – das beschreibt meine ersten Tage hier in Bielefeld sehr gut. Die heruntergekommenen Fassaden in Teilen Bielefelds. Die Tatsache, dass eine ältere Frau gerade humpelnd an mir vorbeischlurft, um in einem Mülleimer in der Unihalle nach Pfandflaschen zu suchen, während vermutlich in irgendeinem Raum dieser riesigen Universität gerade über Altersarmut diskutiert wird. Hakenkreuze auf den Tischen der Hörsäle, Refugees-Welcome-Sticker daneben. Transparente werben gleichzeitig für eine Demonstration gegen Afghanistan-Abschiebungen, einen Lesekreis zur Russischen Revolution, eine nachhaltige Wasser-Initiative, Samba als politische Aktionsform, gegen Studiengebühren (Hallo, Herr Lindner!), für Solidarität mit Hungerstreiks in der Türkei, die Mitgliedschaft in Gewerkschaften. Und. Immer. So. Weiter.

Die Studierenden schleichen durchs Gebäude. Viele sitzen an kleinen, umkämpften Tischen, die sich quer durchs Hauptgebäude ziehen, oft mit Laptop oder Tablet. Wenn auch in einigen Studiengängen wie Chemie oder Mathe digitale Notizen schwieriger zu handhaben sind, hat es zumindest für mich doch etwas Mittelalterliches im Jahr 2017 sich noch Tinte zu bedienen. Abseits davon aber herrscht eine Atmosphäre der Intellektualität, die ich sehr berauschend finde. Auf einem verhältnismäßig kleinen Areal drehen sich über 24.000 Studierende und knapp 2.700 Mitarbeiter*Innen als sich weiter entwickelnde Rädchen in einer Wissens- und Kompetenzfabrik, für die ich nur Bewunderung übrighabe. Ich studiere Soziologie und Linguistik. Niemand aus meinem alten Umfeld im Nordosten wusste mit dieser Fächerkombination etwas anzufangen. Ich konnte noch so fasziniert erzählen, wie stark unser Handeln von unserer Mitgliedschaft in sozialen Gruppen geprägt ist oder was das gesprochene Wort für eine Macht auf uns hat. Entgegnet wurde mir die Frage, was ich Naivling denn damit später machen wolle. Mein Tipp: Wenn Sie diese Frage, je einem Studierenden stellen wollen: Gehen Sie in sich. Und dann lassen Sie das lieber. Es ist Ihr tiefer Wunsch nach Einordnung in passende Schubladen, der diese Frage stellen will. Sie ist unsinnig. Fragen Sie Studierende, was sie an ihrem Studium reizt, wie motiviert sie sind, was sie in ihrem Studium erleben. Da entstehen tolle Gespräche, glauben Sie mir. Wenn Sie die Frage doch stellen wollen und zufällig ich derjenige sein sollte, der Ihnen gegenübersteht - ja, dann werden Sie hören, dass ich angehender Taxifahrer bin. Dann haben Sie erfahren, was Sie hören wollten – die ollen, sinnlosen Geisteswissenschaftler! Aber ein Stück weiter im gesellschaftlichen Diskurs sind wir dann doch auch nicht – oder?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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