Wenn alte weiße Männer Kabarett machen

Jahresrückblick Dieter Nuhr singt ein Loblied auf den Kompromiss. Doch ungnädig, arrogant und desinformierend mutet seine Show an. Über unsinniges Kabarett gestriger Tage

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Glauben wir dem Kabarettisten Dieter Nuhr, waren im Jahr 2018 jene Dinge am tollsten, die nicht passiert sind. Sein Jahresrückblick, der ist passiert – und das sagt eigentlich schon vieles. Im Wohnzimmer des Katholikensohns und ehemaligen Messdieners stand dieses Weihnachten ein Baum aus dem Hambacher Forst. Zwei angekettete Aktivisten inklusive. Die Bewahrung der Schöpfung muss mensch ihm vielleicht nochmal erklären. Doch wer hätte anderes von Nuhr erwartet? Ein gänzlich „niederes Zivilisationsniveau“ sei es, auf dem die Aktivist*innen – zu den besten Zeiten immerhin knapp 50.000 Demonstrierende – im Hambacher Forst mittlerweile angekommen seien. Aktivist*innen, die „im Wald aber so was von genau richtig waren“, weil Polizist*innen einmal mit Fäkalien beworfen wurden. Dabei mutet seine Pöbelei an wie ein verbales Keulenschwingen, das Verhältnismäßigkeiten, Differenzierungen sowie Fragen, wer hier eigentlich die Mächtigen und wer die Schwachen sind, nur noch als fernes Rudiment der eigenen Persönlichkeit kennt. Doch was Nuhr unter seiner geliebten „Zivilisation“ versteht, wird er uns später noch erklären. Vom RWE-Pressesprecher ist er aktuell nur noch die Vokabel „Öko-Terroristen“ entfernt.

Die Politik, natürlich. Darüber spricht Nuhr gerne. Katja Kipping, die Linkspartei-Vorsitzende, hatte im September von 12.000 Jahre alten Bäumen im Hambacher Forst getweetet. Zwar sind nicht die Bäume 12.000 Jahre alt. Aber der Hambacher Wald selbst ist es schon. Nuhr nimmt das trotzdem zum Anlass, sich Katja Kipping unter seinen Weihnachtsbaum in die Krippe zu wünschen. Begründung: „Ich habe noch kein Schaf.“ Millennials kennen dafür wohl das Mem von Ron Burgundy aus Anchorman: „boy, that escalated quickly“.

Weiter mit der Politik: „Wir hatten ja ein halbes Jahr keine Regierung. Mir hat persönlich nichts gefehlt.“ Applaus. Das gehobene Mittelschichtspublikum jubelt gerne, wenn der Status Quo verteidigt wird, so als sei ihr privilegiertes Dasein der Nabel der Welt. Und dann ist da die Sexismus-Debatte, die bewegt Nuhr sehr. Leider erst zu einem späteren Zeitpunkt des Abends. Zunächst dürfen es ein paar sexistische Witzchen sein. Denn was wäre deutsche Comedy ohne Sexismus und Rassismus? Vielleicht sogar ganz gut. In grausiger Manier schafft es Nuhr, von „blühenden Jungfrauen“ zu fantasieren, dessen Pendent – die immer „gleiche Alte“ – er in den Köpfen der Zuschauer*innen nur noch mit den Worten „da weiß man, was da liegt“ bildlich erwecken muss. Worüber Nuhr zu diesem Zeitpunkt gerade spricht? Die Politik, natürlich. Angela Merkel, die SPD und die dritte Große Koalition. Ob die Zuschauer*innen das auch noch wissen?

Die meisten hätten ja keine Ahnung von irgendwas, freut sich Nuhr. „Wer ist Bundesminister für Entwicklung?“ fragt er den Saal hinauf wie ein Klassenstreber, der aus patriotischen Gelüsten auch gleich alle acht (ausschließlich männlichen) Staatssekretäre des Bundesinnenministeriums auswendig gelernt hat. Zwei Zuschauer*innen rufen „Müller“ auf die Bühne. Nuhr quittiert ins Publikum zeigend „zwei aus dem ganzen Haufen hier!“ und doch stellt sich so ein wohliges Gefühl ein. „Wir hier“ wussten es und die diffusen „anderen da draußen“ wissen natürlich nichts. Applaus beim weißen Mittelschichtspublikum – den ernten Kabarettist*innen wohl am einfachsten, indem sie ihm die Möglichkeit eröffnen, sich über andere zu erheben. Aber Allgemeinbildung – schön und gut, Max und Maria. Doch sollten uns nicht vielmehr jene Menschen sympathisch sein, die vielleicht nicht den Namen des Entwicklungsministers, wohl aber die Konsequenzen einer verfehlten westlichen Entwicklungspolitik kennen?

Nuhr ist – so der Eindruck, der sich bei beim Schauen einstellt – der eloquente, aber intellektuellenfeindliche Wutbürger, dem zufällig ein Mikrofon in die Hand gegeben wurde. Stickoxide. Iberogast. Acrylamid. Salami. Alkohol. „Besoffen Diesel fahren und dabei Salami rauchen“, das sei das Schlimmste, was Mensch heute tun könne, macht sich Nuhr über Medienberichte lustig, die regelmäßig neue Gefahren für die Menschen offenlegen. Nuhr versprüht gutes Gewissen und bietet eine wohlige Kuschelecke für ein Publikum, das sich nach einem Rettungsring inmitten der Flut aus verunsichernder Berichterstattung sehnt. „Wenn wir alles unterlassen, was uns umbringt, dann könn‘ wir uns gleich aus’m Fenster werfen“ spottet Nuhr. „Alles was Sie machen. Alles was sie tun auf dieser Welt. Alles was sie essen, trinken, atmen, ist entweder lebensverkürzend oder lebensverlängernd.“ Unseriöser Mist sei es, aus dem „Mix aus Schaden und Nutzen, den jene Veränderung unweigerlich mit sich bringt“ einen winzigen Teil zu betrachten und zu sagen: 'Der bringt uns um!'" Dabei macht er so eine „ein einzelnes Reiskorn aus dem Beutel nehmende“ Geste, die er wohl beim Proseminar „Wie du verdammt klug aussiehst“ erlernt hat. Doch diese Bundesrepublik ist im Gegensatz zu Nuhrs Humor kein einheitlicher grauer Klotz, sondern eine vielfältige, ausdifferenzierte Gesellschaft, deren Gruppen und einzelne Mitglieder zu völlig unterschiedlichen Teilen in den Genuss lebensverlängernder und die Gefahr lebensverkürzender Faktoren kommen. Die komplexen Zusammenhänge und Arten von Ernährungsweisen, Wohn- und Arbeitsbedingungen, Gesundheitszuständen, Einkommen und nicht zuletzt das Maß an Umweltgiften, denen mensch ausgesetzt ist – all das variiert verdammt stark in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Nuhr wird in den letzten Sätzen des Abends den „Zustand, im Kompromiss zu leben“ als große Errungenschaft der Zivilisation würdigen. Doch dieser Kompromiss ist nichts wert, wenn er nicht die Komplexität dieser Gesellschaft anerkennt, ja als Grundlage annimmt. Eine Dokumentation über „soziale Ungleichheit“ speichert Nuhrs Netflix-Account für ihn sicherlich unter „Horrorfilme“ ab.

Nuhr zieht gegen unseriöse Statistiken in den Krieg und begräbt dabei gleich jegliche Form seriösen Anspruchs, die sein staatsmännischer Auftritt doch vermuten lässt. Ein gutes Jahr sei es gewesen. Nuhr zögert kurz, nachdem der Applaus auf seine statistikkritischen Worte versiegt. „Über 1500 Flüchtlinge sind allein bis Juli 2018 aufgrund unserer Unmenschlichkeit ertrunken“. Das hätte er sagen können. Aber glauben Sie wirklich, dass er über diesen eigentlichen zivilisatorischen Skandal gesprochen hat? Oder ist es vielmehr die Fußball-WM, die Nuhrs Herz danach höher schlagen lässt? Ich erspare Ihnen die Auflösung.

„Es gibt viel Sexismus. Es gibt viel Rassismus. Da gibt es viele Opfer“, sagt er zu einem späteren Zeitpunkt des Abends in fast demütigen Ton, während er sich davor und danach in jedem möglichen Haupt- und Nebensatz über diese Opfer lustig macht. Einige finden das vielleicht witzig – andere einfach nur rassistisch und sexistisch. Der Sexismus-Vorwurf der Tennisspielerin Serena Williams gegenüber dem Schiedsrichter im US Open Finale verhöhnt Nuhr unter Grölen des Publikums mit der Bemerkung, sie habe „nicht gemerkt, dass die Gegnerin auch eine Frau war“. Nuhr hatte scheinbar nur Schlagzeilen studiert – der Vorwurf hatte mit Williams Gegnerin überhaupt nichts zu tun, sondern mit der Frage, was sich Frau und Mann im Tennis erlauben dürfen. Williams hatte den Schiedsrichter einen „Dieb“ bzw. „Gauner“ genannt und wurde dafür bestraft – eine Äußerung, die tennisspielende Männer für gewöhnlich ohne Konsequenzen tätigen dürfen.

Viel Sexismus. Viel Rassismus. Viele Opfer. Je öfter mensch es sich anhört, desto mehr klingt es nach einer Beschreibung seiner eigenen Show. Der ehemalige Fußballnationalspieler Mesut Özil ist ein weiteres Opfer dieser Show. Die komplexe Rassismus-Debatte rund um Özil bricht Nuhr runter auf das Argument, Özil hätte die Kritik an seiner schlechten Leistung als Rassismus betitelt. Jaja, die Katja Kipping und ihre „Fake News“. Nuhr steht ihr zu diesem Zeitpunkt in nix mehr nach. Das Publikum klatscht sich fleißig die Finger wund. Eine Marketingstrategie rund ums Erdogan-Foto sei das gewesen. Alles ein kluger Schachzug seiner Berater. „80 Millionen Deutsche, aber 1,8 Milliarden Muslime auf der Welt“. Dass es auch deutsche Muslime bzw. muslimische Deutsche gibt, läuft zu diesem Zeitpunkt des Abends schon unter einer der harmloseren Fehldifferenzierungen. Für die größere Zielgruppe hätte man sich schlichtweg entschieden, so Nuhr. Aber nicht Özil, nein. Der verstehe das alles doch gar nicht, lächelt Nuhr erhaben in die Kamera. „Ich mach doch keinen Wasserhahn dafür verantwortlich, dass er tropft.“ Einer der größten Applause des Abends. Nuhr säht seinen toxischen „Humor“ auf bildzeitungsgedünkten Landschaften, die den Diktatorhandschlag nur schmähen, wenn sie damit People of Color kritisieren können. Hofiert eine Kartoffel wie Lothar Matthäus oder ein beliebiger anderer, alter weißer DFB-Mann einen ausländischen Diktator, hat Nuhr davon leider wieder nix gelesen.

Um es mal ganz klar zu sagen: Sätze, die mit „Um es mal ganz klar zu sagen“ anfangen, sollten wir tendenziell kritisch betrachten. So auch als Nuhr den Mythos, es gäbe so etwas wie „Rassismus gegen Weiße“ fleißig düngt. „Auch Sachsen“, so Nuhr, „haben ein Recht darauf, nicht rassistisch betrachtet zu werden.“ Die Behauptung, alle Sachsen sind Nazis, sei rassistisch. Tosender Applaus, freudige Pfiffe im Publikum. Wer kennt sie nicht, all die strukturelle Diskriminierung die Bürger*innen des sächsischen Freistaates ausgesetzt sind. All die Jobs, die ihnen systematisch vorenthalten werden. All die Terrorgruppen, die gegründet wurden, um sächsische Staatsbürger*innen zu … Sie merken, wie unendlich absurd das ist – um es mal ganz klar zu sagen.

Nach über 40 Minuten denke ich, schlimmer kann es nicht mehr werden, aber dann eröffnet Nuhr nach einer Bemerkung über metzgerbedrohende Veganer*innen und moralisch-herrenmenschliche Radfahrer*innen – kann mensch sich nicht ausdenken – den Krieg gegen die „Genderfront“. Ich gerate ins Grübeln, wann ihm wohl die Erika-Steinbach-Ehrenmedaille verliehen werden würde. Jedenfalls: ein Lehrer in Florida war entlassen worden, nachdem er Sechstklässler*innen ein Gemälde von François Boucher gezeigt hatte, auf dem eine nackte Frau abgebildet war. „Wahnsinn“, bemerkt Nuhr und geht schnell zum nächsten Feldzug über. Gewieft ist er schon. Jeden Punkt nur anreißen, das Publikum die einzelnen Fäden verbinden lassen. Nuhr impliziert hier jedoch in orbanscher Manier, der Fall des entlassenen Lehrers sei irgendein Beweis für die Unsinnigkeit von Genderforschung. Das ist der eigentliche Wahnsinn. Es waren jedoch einige Schüler*innen selbst, die sich beim Anblick der nackten Haut „unwohl“ fühlten, und Eltern, die sich bei der Schulleitung und der lokalen Polizeibehörde wegen des Zeigens von „Pornographie“ beschwerten. Jeder liest in diesen Fall, was er oder sie möchte. Für mich ist er jedoch keineswegs ein Argument gegen, sondern das stärkste Argument FÜR die „Genderfront“. Der Fall erzählt eine Geschichte von Jugendlichen, die bereits in so jungen Jahren kein gesundes Verhältnis zu ihrem Körper haben. Und von Helikoptereltern, die in ihrem erzkonservativen Denken den Blick für die moderne Gesellschaft verlieren.

In gönnerhaftem Ton verkündet Nuhr immer wieder irgendwelche abwiegelnden Sprüche, damit man ihn auch ja „nicht falsch verstehe“. Das „Ich bin ja kein Rassist/Sexist, aber …“ des eloquenten Mannes. Am Anfang der Sexismus-Debatte (eigentlich meint er #metoo, aber geschenkt) sei es um Missbrauch gegangen und der gehöre bestraft – „selbstverständlich“. Und um Gleichberechtigung. Das sei „völlig in Ordnung und gut und wichtig“ bestätigt Nuhr. Der alte, weiße Mann muss den Frauen das Wort erst erlauben, so wirkt es. Wer soll einen Jahresrückblick 2018 ernst nehmen, wenn er dem wohl wichtigsten und erfolgreichsten feministischen Kampf der Moderne nur einen jovialen Klopfer auf die Schulter gibt, um dann die Faust zu ballen und mit den Worten „inzwischen geht es in erster Linie um ritualisierte Empörung von Berufsbeleidigten“ kräftig auf ihn einzudreschen. Spätestens an dieser Stelle habe ich nochmal doppelt geprüft, ob es nicht doch der Jahresrückblick für das Jahr 1958 ist. Leider nicht.

Als wäre das alles noch nicht genug gefällt sich Nuhr auch noch als Bauchrednerpuppe von Christian Lindner. Sozialstaatsbashing wird eingestreut, wo es auch nur halbwegs reinpasst. Laienvolkswirt Nuhr zitiert die 965 Milliarden Euro die Deutschland im Jahr 2017 für Soziales ausgegeben habe. Er meint das Sozialbudget, das jährlich in absoluten Zahlen das Leistungsspektrum und die Finanzierung der sozialen Sicherung in Deutschland aufschlüsselt. Das Sozialbudget erfreut sich reger Aufmerksamkeit unter Sozialstaatshassern, da es so wunderbar große Zahlen ausspuckt, die unter Ausblendung all der (sozio)ökonomischen Feinheiten, tatsächlich den Eindruck vermitteln: Nun reicht das aber mal mit diesem wuchernden Sozialstaat! Tatsächlich aber lassen sich mit den 965 Milliarden Euro in etwa so präzise Aussagen über den Versorgungszustand der Menschen in Deutschland treffen, wie sich mit der Kenntnis, dass ein spaßiger Kabarett-Abend mit Dieter Nuhr 30 Euro kostet, treffsichere Aussagen über seinen Kontostand tätigen lassen. So steigt zum Beispiel das Sozialbudget jährlich, während die Sozialleistungsquote, die das Bruttoinlandsprodukt einbezieht, Nuhr zum Trotz einfach nicht steigen will. Deutschland sei in einem Zustand, „dass die halbe Welt gerne zu uns fliehen würde“, was schon deswegen Quatsch ist, weil 60% der über 68 Millionen Geflüchteten innerhalb des eigenen Landes fliehen.

„Es war ein gutes Jahr“, hallt es noch vom Anfang des Abends nach. Katja Kipping liegt – sollte sie sich diese Show tatsächlich antun – bei all der Faktenresistenz Nuhrs wohl mittlerweile gefrustet aber doch schmunzelnd in der Ecke ihres Büros im Karl-Liebknecht-Haus. Claas Relotius weiß, dass im Radio gerade "Rotweinglas" von Edgar Wasser läuft: „Männer sind Schweine und ich bin die Metzgerin“.

Eins müssen wir Nuhr zugutehalten. Manchmal bezieht er Stellung. Rassistisch und falsch in seinem Job sei Hans-Georg Maaßen, weil er Dresdner Demonstrierende verteidigt hatte, die den Hitlergruß zeigten. Beatrix von Storch verhöhnt er wegen ihres Kommentars, der Terrorist Jens R. habe im April in Münster einen islamischen Anschlag nachgeahmt. „Der Muslim ist selbst schuld, auch wenn er gar nicht dabei war.“ Leises Lachen im Publikum. Unterschiede zwischen der AfD und NPD sieht Nuhr keine mehr. Die AfD habe den Nazis ein „bürgerliches Mäntelchen gestrickt“. Nuhr würden die „Türken-raus“-Rufer nerven, „dieses Pack, das türkisch-Stämmige wegen ihrer undeutschen Gene nicht in unserer Nationalelf sehen wollte. Geistesschwache Hirnbratzen, die es schaffen, selbst einen Özil noch mental zu unterbieten.“ Nuhr hält das vielleicht für antifaschistisches Kabarett. Doch nicht die derbsten Beleidigungen, die sich für Nazis finden lassen, helfen Opfern rassistischer Umtriebe tatsächlich, sondern das Thematisieren der sehr realen Gefahren, der sehr realen Gewalt, die von vielen dieser „geistesschwachen Hirnbratzen“ ausgeht.

Zum Ende wird Nuhr nochmal ruhig und erreicht gleichzeitig das Peak an Heuchelei. Während er vorher bemüht war, Sexismus zu verurteilen, wählt er unter der Vielzahl an Adjektiven, die das Deutsche bietet, ausgerechnet jenes mit frauenfeindlichen Assoziationen: „hysterisch“ seien die Zeiten, in denen wir leben. Nuhr, bei dem mensch konsistente Argumente vorher vergeblich suchte und der alles diffamierte, was ihm nicht in den Kram passte, beklagt nun mit einem Tränchen im Auge: „Es wird nicht mehr argumentiert, sondern diffamiert.“ Und Nuhr, der sich vorher empörte, weil irgendein Gedicht an irgendeiner Hauswand an irgendeiner Berliner Hochschule durch irgendein anderes Gedicht ersetzt werden soll. Nuhr, den schon der Hinweis aus der Ruhe bringt, dass es eventuell gesündere Lebensmittel auf dem Frühstückstisch gebe als eine Salami . Ja, dieser Nuhr beschwert sich: „Aus jeder Winzigkeit wird ein Aufstand gemacht.“

Kabarett ist kein wissenschaftliches Paper und keine Bundestagsdebatte. Nuhr möchte vor allem witzig sein. Das können wir ihm nur schwer vorwerfen. Doch Nuhrs Loblied des Kompromisses, das er zum Ende anstimmt, ist wertlos ohne das Lob oder zumindest die Anerkennung der Komplexität dieser Welt. Vom "scharfsinnigen Beobachter", als den das Ticketing-Unternehmen Eventim ihn bewirbt, ist auf der Bühne nicht viel zu erkennen. Und die Zeiten, in der alte, weiße Männer alleine darüber bestimmen, was einem Kabarettabend würdig ist, sind einfach vorbei. Leider sind es aber noch zu viele alte, weiße Männer, die darüber bestimmen, wer in der ARD eine Stunde Sendezeit für einen Jahresrückblick bekommt - und damit auch die Frage entscheiden, worüber gesprochen wird und worüber eben nicht.

Tausende tote Geflüchtete im Mittelmeer. Rechtsextreme Netzwerke in Bundeswehr und Polizei, die konkrete Mordszenarien für politische Gegner*innen entwerfen. 113.965 Frauen im Jahr 2017 – bedroht, gestalkt oder misshandelt vom (Ex-)Partner. Jeden zweiten bzw. dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet. Doch wir wollen ja nicht aus jeder Winzigkeit einen Aufstand machen.

Die tollsten Dinge waren die, die nicht passiert sind, lehrt uns Nuhr. Lasst uns hoffen, dass wir am Ende des nächsten Jahres zumindest einmal über Dieter Nuhrs Jahresrückblick sagen können: Hach, war der toll!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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